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Ausgabe:

1954 Nr. 6

Spalte:

347-352

Autor/Hrsg.:

Braun, Herbert

Titel/Untertitel:

Beobachtungen zur Tora-Verschärfung im häretischen Spätjudentum 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 6

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Wendepunkt der Parabel liegt in V. 8, wo der Hausherr die Auszahlung
und die Reihenfolge der Auszahlung verfügt. Zweifellos
sind nicht die Letzten, die gütigerweise den gleichen Lohn empfangen
wie die Ersten, sondern die murrenden Ersten bzw. deren
Vertreter neben dem Hausherrn Hauptperson. Nun darf man
freilich an den Argumenten des Hausherrn nicht herummäkeln —
dieser beruft sich ja auf sein Recht —, und noch weniger darf man
über die psychologische Wirkung der Rede des Hausherrn räsonieren
— denn diese Rede hat ja zunächst einfach dramaturgische
Bedeutung; sie dient nur der szenischen Veranschaulichung. An
sich bedürfte es dieser Rede überhaupt nicht. Was der Herr sagt,
müßten sich diese Murrer von selber sagen. Aber was geschähe,
wenn sie sich das alles selber gesagt hätten? Sie wären dann in
der Tat willige Leute. Und sie wüßten dann zu schätzen, daß dieser
Herr so gütig ist. Sie würden durch ihr Verstehen ebenfalls
zusätzlich belohnt.

Bezieht man nun die Parabel sofort auf Gott, so wirkt sie
lahm. Man muß ihr dann aufhelfen, indem man der Güte Gottes
den Charakter des Sonderfalls bzw. des Wunders gibt. In diesem
Fall sucht man hinter der Parabel entweder die Paradoxie der
paulinischen Gnadenlehre oder eine Zurechtweisung des frommen
Israel durch die Heidenkirche. Beides befriedigt so wenig wie
etwa die pure Hervorhebung, daß Gott gütig ist. Auf Gottes
Güte hat Israel von jeher gehofft. Anders steht es, wenn sich die
Parabel auf Jesus selbst bezieht. Denn an Jesus hat Gott veranschaulicht
, nicht nur, daß er in aller Strenge ein gütiger Gott ist,
sondern darüber hinaus, daß er a 1 s dieser Gott gerade von denen
geschichtlich verstanden werden will, die seine Güte
in der Welt sonst nicht wirksam sehen. Dazu paßt die Fassung,
die Matthäus unmittelbar vorher dem Spruch vom vielfältigen
Lohn gibt, und dazu paßt ferner die bei Matthäus folgende dritte
Leidensverkündigung, kurz, die Stelle, die Matthäus der Parabel
angewiesen hat. Gewiß, auch in der eben vorgetragenen Auslegung
ist Gott der Handelnde. Aber er ist das so, daß alle, die
verstehen, daß sie verstehen sollen, was sie an Gott haben,
in Jesus selber die Anschauung dafür empfangen, was Gottes
Güte wirkt und daß Gottes Güte wirkt: daß also alle, die sich
Gottes Güte in Jesus selbst geschichtlich veranschaulicht sein lassen
, die Möglichkeit eines echten, an Gottes Tun neu orientierten
Verhältnisses zu Gott gewinnen. Dann sind die Ersten und
die Letzten in Wahrheit einander gleich, die Letzten, weil sie
durch Jesus zum Glauben gebracht wurden, die Ersten, weil sie
Gott an den Letzten umso besser, aber auch umso unausweichlicher
kennen lernen. Sieht man auf die dignitas, so ist der Lohn
allerdings in Frage gestellt, weil sich alle als gleich unwürdig zeigen
. Sieht man aber auf die sequela, dann wird man auf Jesus
selbst zu blicken haben, der für alle bezahlt hat.

4. Wenn man so auslegen darf, gerät diese Parabel in der
Tat in große Nähe zu der von den verlorenen Söhnen (Luk. 15,

11—32). Aber auch dort steht hinter der Anschauung der Bildhälfte
vom Vater in der Sachhälfte die von seinem Sohn Jesus
Christus, wie V. 32a zeigt. Man wird wohl einwenden, warum
sich Jesus in seinen Parabeln verstecke, wenn er selber so
stark für ihre Wahrheit gutstehen müsse und wolle? Der Einwand
bedürfte einer ausführlichen Besprechung im Blick auf das gesamte
Parabel- und Gleichnisgut1. Trotzdem läßt sich schon vorher
wenigstens dagegen fragen: warum soll der historische Jesus
nicht der verborgene Christus sein können? Hat ihn etwa Markus
anders verstanden? Und ist es so ausgemacht, daß Markus
historisch im Unrecht ist? Weiter: wenn Jesus Gott gehorsam war,
mußte ihm dann nicht alles daran liegen, der Zukunft von Gottes
Handeln an ihm, Jesus, selber im Verständnis der Jünger den
Weg zu bahnen? Wir sind nicht an die Hypothese vom enttäuschten
Jesus gebunden. Wenn aber Jesu Wort nicht mehr, sondern
genau das sagte, was diese Zukunft als Gottes Tat wollte, dann
mußte Jesu Wort in Bezug auf die Sache geheimnisvoll sein
und dann konnte es den Jüngern nur dadurch helfen, daß
Jesus z. B. in Gleichnissen zu solchen Anschauungen griff, die ihnen
die Augen öffneten, sobald sie Gottes Tat an ihrem Lehrer wahrnahmen
. Jesu Verkündigung mußte also einen vorläufigen
Charakter haben. Eben deshalb konnte sie weder nach ihrer escha-
tologischen, noch nach ihrer ethischen Seite abgeschlossen sein.

5. Und noch eins ist zu bemerken. Genau so, wie etwa die
Gleichnisse durch Jesu Schicksal erst den vollen Inhalt bekommen,
so empfangen auch ihre Themata, also z. B. die Gottesherrschaft,
erst von daher das volle Licht. Wie Jesu Schicksal gerade die
wichtigsten Gleichnisse sozusagen erst vollendet bzw. ergänzt, so
wird umgekehrt ihr wichtigstes Thema, die Gottesherrschaft, zur
Ergänzung oder Vollendung von Jesu Schicksal. Denn Gottes Tat
an Jesus ist ja nicht die letzte Tat Gottes. Gottes Tat an Jesus
macht uns nur, zusammen mit Jesu Wort, Gottes selbst
vollends gewiß. Es ist nicht so. daß sich die den Glaubenden In
der Anfechtung stützende Anschauung damit zufrieden gäbe, daß
der Glaube an Gottes Tat in Jesus a posteriori veranschaulicht
weiß, was Gott mit uns will und daß Gott für uns handelt. Nein,
diese Veranschaulichung an Jesus will sich erweitern, so daß der
Glaubende gerade dort, wo er fürs erste sehr wenig sieht, Gott
erst recht am Werk sehen wird. Und das wird da der Fall sein,
wo der Glaube geduldig bleibt, weil Jesus hier geduldig, also
gehorsam war: in der Welt, auf dem Schauplatz der Entscheidung
für Gott oder den Teufel, für das Leben oder den Tod, für
die Liebe oder den Haß. Ist Jesus der heimliche und doch gegenwärtige
Inhalt der Botschaft von der Gottesherrschaft, dann ist
die Gottesherrschaft selbst der Inhalt jener Zukunft, in welcher
Jesus nicht mehr der Einzige sein wird, der von den Toten auferstand
.

*) Vgl. dazu meine Hermeneutik §17 (erschienen im
R. Müllerschön-Verlag, Bad Cannstatt, 1954).

Die Loslösung des Christentums vom Judentum

Von Johannes L e i p o 1 d t, Leipzig

(Resum£)

Die merkwürdige Tatsache ist zu beachten, daß zwar Paulus seine
Heidenchristen vom jüdischen Gottesdienste völlig trennt, aber etwa
von der ersten Jahrhundertwende an vielfach jüdische Einflüsse sich im
hetdenchristlichen Gottesdienste zeigen (Beschränkung des Rechts zu reden
auf die führenden Persönlichkeiten wie bei Philon und den Therapeuten
; Redeverbot für die Frauen; getrennte Plätze für die letzteren,

zunächst bei Hippolyt; mehrfache Schriftlesung; Übernahme von Gebetstexten
u. dgl.). Als Grund ist zu vermuten, daß nach 70 manche
Juden vor allem der Diaspora zum Christentum übertraten.
(Erscheint in einem größeren Zusammenhange, der die religionsgeschichtliche
Stellung der älteren katholischen Kirche behandelt.)

Beobachtungen zur Tora-Verschärfung im häretischen Spätjudentum

Von Herbert Braun, Mainz

Die Verkündigung Jesu verschärft die Toraforderung (vgl.
nur die Antithesen der Bergpredigt). Auch das Schrifttum der
Qumränsekte ist durchzogen von einer Radikalisierung der Tora.
Welcher Art ist diese Radikalisierung in der Sekte?

Ich will jetzt hier nicht Einzel-Halachot unter diesem Gesichtspunkt
durchgehen, obwohl auch das manches austragen
würde (vgl. nur den Hl und den Racheverzicht). Hier soll vielmehr
für das Manual of Discipline (ed. Miliar Burrows New
Häven 1951; im folgenden „Man") und für die Damaskusschrift
(ed. LRost 1933 Zählung Schechter; im folgenden „Dam") der
Ansatzpunkt des frommen Handelns analysiert werden. Damit
dieser Ansatzpunkt recht ins Licht tritt, mag er klarwerden zunächst
so, wie die jüdische mischnische Orthodoxie (Abot I—IV
ed. Marti/Beer 1927) ihn sieht.