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Ausgabe:

1954 Nr. 6

Spalte:

341-346

Autor/Hrsg.:

Bornkamm, Günther

Titel/Untertitel:

Matthäus als Interpret der Herrenworte 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 6

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Scheidung legte er betend in die Hände seines Vaters, und dieser
hat entschieden, daß er leiden sollte. Der auferstandene Herr
(Joh. 21, 15 ff.) hat das Schicksal zweier Jünger vorausbestimmt,
es ist nicht ihre Sache, sich miteinander zu vergleichen oder darüber
zu rechten. Mit einem av juoi äxoXovihi (Vs. 22) ruft der
Herr Petrus in die Leidensnachfolge. Was der Meister lernte: dem
Willen des Vaters gehorchen, das muß auch der Jünger lernen:
nachfolgen, wenn es verlangt wird.

So ruft der Auferstandene, der bei uns alle Tage bis an der
Welt Ende ist, zu Zeiten aus den Millionen seiner Gläubigen einzelne
in diese Nachfolge. Indem dieser Ruf sie gehorsam findet,
treten sie damit aus der Gemeinschaft der Gemeinde in die Vereinzelung
; denn ihr Geschick entnimmt sie den anderen und macht
sie einsam. Aber sowenig der Beter von Gethsemane einsam war,
der seinen Vater bitten konnte, so wenig ist der Märtyrerjünger
allein, den sein Herr ruft, und dessen Schicksal eine fürbittende
Gemeinde mitträgt. Diese Tatsache läßt freilich erkennen, daß sich
die Situation des fia&tjjrjg-judQTvg, so sehr die „Kirche" sich
ihrer rühmen mag als des „Samens", nicht einfach in die Kirche
und ihre Geschichte einordnen läßt. In dem von uns betrachteten
Gedankenkreis ist jedenfalls kein Ansatzpunkt zu finden, der
sich (neben Pfingsten, Ostern, der Feier des Abendmahls, der
Aussendung der 12) als „Quellort der Kirchenidee" eignete. Und
das ist nur zu begreiflich; denn das Geheimnis des fia&rjrris,
der zum ßdgrvg werden darf, das je ihn und sein Verhältnis zum

diddoxalog betrifft, ist weder in Bekenntnissen festzulegen noch
als Dogma zu formen noch theologisch zu interpretieren. Und die
„Kirche" tut gut, das Geheimnis zu achten und darin zu erkennen
, daß ihr in der Deutung des Willens Gottes Grenzen gesetzt
sind; so sehr sie den „Tod Christi" verkündet — was der Tod
seiner Jünger bedeuten soll, weiß sie nicht. Der jüngste Tag wird
es offenbaren.

Er wird auch offenbaren, wieviele „Jünger Jesu" es gegeben
hat, die nicht „Glieder" einer Kirche waren oder sein wollten
und dennoch ihm angehören.

Wenn die Tätigkeit des fleischgewordenen Logos in der Ur-
christenheit durch die 3 Würdenamen diddoxaXog—TiQoqprjtrjg—
Meaaiag gekennzeichnet ist (letzterer mag durch 6 viog rov äv-
•&qcojiov oder 6 vlog tov deov ersetzt werden) — ist es für
alle Zeiten der Kirchengeschichte sicher, daß immer der dritte im
Vordergrund steht? Mir scheint, die Kirchen dieser Welt sind in
eine Lage gekommen, die es erfordert, sich mit allem Ernst
auf den diödoxaXog Jesus und seine Forderungen zu besinnen, damit
nicht eine säkularisierte Welt sich ihrer — sie mißdeutend —
bemächtigt, während die kirchliche Theologie in apokalyptischen
Betrachtungen sich verliert. Ist das konstantinische Zeitalter der
Kirchen im Abendlande zu Ende, so kann es sehr wohl sein, daß
ihnen die apostolischen Väter und Apologeten wieder mehr zu
sagen haben.

Matthäus als Interpret der Herrenworte

Von Günther Bornkamm, Heidelberg

Ich versuche im folgenden1 am Beispiel des Matthäus2 zu zeigen
, daß die ersten drei Evangelisten in weit höherem Maße, als
ihnen gemeinhin zugebilligt wird, nicht nur Sammler und Redaktoren
, sondern Interpreten überkommener Überlieferung und ihre
Evangelien Dokumente einer in jedem Fall sehr verschiedenen
Theologie sind. Sind auch die Mittel, mit denen die Theologie
hier zur Darstellung gebracht wird, verglichen mit Johannes, bescheiden
(Komposition, Redaktion, Auswahl, Auslassung, oft geringfügig
scheinende Abänderungen vorgegebener Überlieferung;
bei Lukas z. B. noch sein bestimmter geographischer Aufriß und
die ihm eigene Markierung heilsgeschichtlicher Epochen, bei
Matth, vor allem noch die Schriftzitate), so ist der Spielraum, den
sich die Synoptiker mit Hilfe dieser Darstellungsmittel sichern,
doch beträchtlich und erfordert eine Untersuchung, die nicht sofort
mit überlieferungs- und formgeschichtlichen Fragen vermengt
werden darf.

1. Das matthäische Verständnis der Botschaft Jesu erhellt
bereits aus ihrer knappen Zusammenfassung 4, 17, die,
wie Matthäus es auch sonst konsequent tut, die Predigt Jesu und
des Täufers (vgl. 3, 2) einander aufs stärkste angleicht, wobei der
Evangelist den Unterschied beider jedoch dadurch zur Geltung
bringt, daß er dem Täuferwort das Wegbereiterwort aus Jes. 40,3
zuordnet, dagegen dem Worte Jesu das Erfüllungswort aus Jes. 9,
1. 2 vorangehen läßt (mit absichtsvoller Änderung der Tempora:
<pcog eldev /ueya.., <p&g dvhedev).

2. Die Reden des Matthäus. Die großen Redekompositionen
des Matthäus zeigen eine für seine Theologie sehr
charakteristische durchgängige Verklammerung von Kirchengedanken
und Enderwartung (vorgezeichnet schon in der Täuferrede
3, 7—12). Besonders deutlich bereits in der Bergpredigt, die
schon die Seligpreisungen zu einer Tafel von „Einlaßgeboten"
für die Jüngerschaft ausgestaltet, den Ruf zu einer besseren Gerechtigkeit
(5, 20) und seine Entfaltung (bis 7, 12) an sie gerichtet
sein läßt und von 7, 13 an der Rede eine streng eschatolo-
gische Ausrichtung gibt (7, 15 ff.: Pseudoprophetie als Signum der
Endzeit, 7, 21 ff.; Weltgerichtsszene; Schlußgleichnisse). Hat Q

*) Ergänzung und nähere Begründung zu diesem hier abgekürzt
wiedergegebenen Referat, das am 5. 1. 1954 in der Neutest. Sektion des
Theologentages gehalten wurde, soll eine später erscheinende Arbeit
bringen.

") Für Lukas vergleiche jetzt das soeben erschienene ausgezeichnete
Buch von H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, Tübingen 1954.

dem Matthäus in dieser Anordnung schon vorgearbeitet, so ergänzt
und profiliert dieser sie doch erheblich und gibt dem ganzen
eine Art Katechismus-Charakter. Er bedient sich dabei eines
schon vorgeprägten Schemas, wie der weithin parallele Aufriß der
Didache zeigt. Beachte die Parallelität von Mtth. 5 und Did. 1—6
(Einlaßtora), beide beschlossen mit dem Ruf zur Vollkommenheit
; es folgen beidemal Regeln über Fasten und Gebet (Did 8
bringt hier das Vaterunser, dazu Anweisungen über Taufe und
Eucharistie [unter Verwendung von Mtth. 7, 6]); an entsprechender
Stelle die Warnung vor den Pseudopropheten (Did 11
—13) und der eschatologische Abschluß (Did 16).

In entsprechender Weise ist die Verklammerung von Ekkle-
siologie und Eschatologie erkennbar in der Missionsrede (c. 10),
die von Vers 17 ab in eine allgemeine, wieder eschatologisch ausgerichtete
Jüngerrede ausläuft (unter Verwendung von Sprüchen
aus Mk 13 und verwandtem Gut aus Q), in der Gleichnisrede
c. 13 (die Kirche nicht schon die Sammlung der Auserwählten
und Gerechten, sondern ein corpus mixtum, das der Scheidung
von Gerechten und Ungerechten im Endgericht erst entgegengeht),
in der Gemeinderede c. 18 (Gericht: 18,2ff.l), in der Matth.-
Fassung von Winzer- und Hochzeitsgleichnis (Mt 21, 33 ff.;
22, 1 ff.), aber auch in der Pharisäerrede (c. 23) und vollends in
der apokalyptischen Rede (c. 24 und 25) bis hin zu der keineswegs
nur von dem Gericht über die Heiden handelnden Gerichtsschilderung
25, 31 ff.3, die die ganze Redekomposition abschließt.

3. Zum Verständnis der besseren Gerechtigkeit
(Gesetz und Nachfolge). Das Gesetz ist verbindlich
bis zu Jota und Häkchen (5, 18 f.). Gesetz aber gibt es — auch für
Matthäus — nicht ohne Auslegung. Pharisäern und Schriftgelehrten
wird darum ihr Amt nicht bestritten (23, 2), aber Jesus scheidet
sich und die Jünger von ihnen wegen der pharisäischen Diskrepanz
zwischen Lehren und Tun (c. 23), aber auch wegen der
fragwürdigen Auslegung, die sie faktisch dem Gesetz geben
(15, 3 ff.). Die Frage nach der rechten Auslegung, m. a. W. nach
dem Verständnis dessen, worin sich Gesetz und Propheten zusammenfassen
, wird für Matthäus zur Kardinalfrage. Alle die
hierfür einschlägigen Stellen finden sich nur bei ihm (7,12; 9,13;
12,7; 22,40; 23,23).

Gut alttestamentlidi-jüdisch, wenn auch in dieser Trias m. E.
nicht nachweisbar, ist die Formel xqIois, eXeog, nloug (232S).

3) Anders J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu (19522), S. 147 f.