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Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

314-316

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Fagerberg, Holsten

Titel/Untertitel:

Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts 1954

Rezensent:

Schmidt, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

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allem aber die Auflösung in Lebensbilder, war noch nicht geleistet
. In dieser Hinsicht besaßen wir das nunmehr 100jährige, überaus
fleißige Werk des württembergisch-schweizerischen Pfarrers
Friedrich Böhringer (Die Kirche Christi und ihre Zeugen 1841 ff.),
das durch eine Fülle von Quellenauszügen den Leser in die Vergangenheit
führte. Kurt Aland ist nun in die Lücke getreten und
hat in 48 knappen Biographien die Geschichte der Alten Kirche
von Jesus bis Justinian zum Reden gebracht und, umgekehrt als
Böhringer, sie gegenwärtig werden lassen. Als Schüler Hans Lietz-
manns mit einem Blick für das Kleine und das Wesentliche zugleich
ausgestattet, befähigt, es in eine knappe, fast formelhafte
Sprache zu kleiden, ohne dabei den erzählenden Ton zu verlieren,
über völlige Beherrschung der Quellen verfügend, hat er Bilder
zu zeichnen vermocht, die sich auch dem schlichtesten Leser einprägen
werden. Um nur einige Beispiele herauszugreifen: die Schilderung
des Onesimus und Philcmon, die blitzartig die Situation
zwischen Kirche und Sklaverei erhellt, der Kampf zwischen Kallist
und Hippolyt in Rom, zwischen Cäcilian und Donatus in Karthago
, das Gegenüber des Kirchenfürsten und des Reichsherrschers
in Ambrosius, Valentinian und Theodosius, die Tragik im
Leben und in der „Kompromisstheologie" des Basilius, die Gestalt
Tertullians, die er mit dem einen Satze charakterisiert: „Ter-
tullian ist ganz Leidenschaft", die reine Erscheinung des Johannes
Chrysostomus inmitten der Hofintriguen, schließlich Justinians
Herrscherpersönlichkeit, die Unmögliches wollte.

Gewiß kann man so und so oft das Gelehrtenvorrecht betätigen
, anderer Meinung zu sein. Vor allem die zugrunde liegende
Sicht der Dogmengeschichte wird so auf der Linie Har-
nack-Loofs-Lietzmann keineswegs von allen Fachgenossen geteilt
werden, und Werner Eiert hat, gestützt vor allem auf die Patro-
logia orientalis eine gegenteilige Schau an wichtigen Punkten
vorgeführt, die sich in einer neuen Gesamtauffassung vollenden
wird. Jedenfalls ist jede Gestalt scharf profiliert. Man kann freilich
fragen, ob der individualisierende Grundsatz der „Lebensbilder
" bis ins letzte durchführbar ist, ob er nicht der Ergänzung
durch gemeinschaftsbestimmte Kapitel bedarf, vor allem durch
Schilderung eines Gottesdienstes, der Entwicklung des Glaubensbekenntnisses
und, last not least, der christlichen Kunst, der Katakomben
insbesondere, zu deren Erwähnung die Biographie des
Papstes Damasus Anlaß hätte geben können. Über die Auswahl
der 48 Gestalten wird man jedoch kaum streiten können, sie ist
treffend.

Möglicherweise wird ein Vorwurf erhoben, der hier von vornherein
abgewehrt sei, der Vorwurf, die Geschichte der Kirche
werde durch das unerbittliche Hineinleuchten in die Hintergründe
trivialisiert. Das kann nur ein oberflächlicher Leser behaupten. In
Wirklichkeit gewinnt gerade durch diese nackte Menschlichkeit
die Geschichte der Botschaft, die von Geschlecht zu Geschlecht
getragen wird und unter den vielen Modifikationen, Verfälschungen
, unter der mißbräuchlichen Benutzung sieghaft bleibt, ihre
Größe.

Berlin Martin Schmidt

BIßCHEN GESCHICHTE: REFORMATION

L°cher, Gottfried W.: Die Theologie Huldrych Zwingiis im Lichte
«einer Christologie. Erster Teil: Die Gotteslehre. Zürich: Zwingli-
Verlag 1952. 178 S. 8° = Studien zur Dogmengeschichte und systematischen
Theologie, hrsg. v. F. Blanke, D. Lerch, O.Weber, kart.
DM 11.45

Als Band I der von den Zürichern Fritz Blanke und David
Lerch und dem Göttinger Otto Weber eröffneten Reihe „Stu-

Ju" ZUr Dogmengeschichte und systematischen Theologie " erschien
unter dem obigen Titel der erste Teil der systematischen
Lrilogie G. W. Lochers. Der Autor, auf den Schultern Blankes,
Brunners und Farners stehend, das Verdienst Walther Köhlers
n'cht schmälernd, will zwar zunächst nur aus den bisherigen Ein-
Ze!^lntcrsuchungen ein dogmcngeschichtliches Gesamtbild des Züricher
Reformators fertigen. Doch schon der erste vorgelegte Teil
*e'gt, daß das Unternehmen mehr ist als ein kompilatorisches

eginnen. Man spürt, daß auch die Züricher Reformation von der
^ eol°gischen Besinnung neu verstanden wird und dadurch mit-

1 den seit zweihundert Jahren beschrittenen Irrweg zum „unchristlichen
" Abendland zu überwinden. Wie das Land der Wittenberger
Reformation dabei ist, den „aufgeklärten" Luther, der
sich selbst als „Meister Klügling" ironisiert hätte, abzutun, so
sind — quod Locher evidenter demonstrat — die geistigen und
glaubensmäßigen Nachfahren Zwingiis dabei, das falsche Zwingli-
bild zu beseitigen, das Zwingli des Pantheismus und Determinismus
(cfr. P. Wernle, Zwingli. 1919. S. 51) verdächtigte oder ihn
— wie B. v. Selchow (Der Glaube in der deutschen Ich-Zeit. 193 3.
S. 64) — als den Vater des Liberalismus ansprach. Positiv: Was
Locher einleitet, ist eine echte „Zwingli-Renaissance". Mit einem
Zwinglibild als exordium, das den Reformator nicht mehr von
seiner kirchlichen Wurzel löst und von seiner theologischen Umgebung
trennt.

Als die cardo des Zwinglischen Glaubens weist Locher das
„solus Christus" aus, das Zwingli gegenüber oder entgegen dem
Lutherschen „Christus pro nobis" als „Christus noster" kommentiert
. Einer der christologischen Termini Zwingiis ist der
„houptman" Christus (cfr. Locher, Christus unser Hauptmann in
Zwingliana 1950/1), der die Verfügungsgewalt des Herrn über
unser Leben enthält und aus dem die Forderung der imitatio
Christi, nicht ein ethisches Prinzip, abzuleiten ist; denn „Dog-
matik und Ethik sind eins" (S. 34). So kommt Locher auch zur
präzisen Ablehnung des „Humanisten" oder gar liberalhumanistischen
Pädagogen Zwingli.

Wenn der Rezensent etwa zur gleichen Zeit wie der Autor
behauptete, Zwingli sei „Humanist von der Elementarschule an"
(Zwingli als Liturgiker 1952. S. 24), so bedeutet das keinen Widerspruch
zu Lochers Anschauung. Zweifellos ist Zwingli Humanist
, sogar der Humanist unter den Reformatoren. Aber
keineswegs in dem Sinne, den man heutzutage und hierzulande
unter „Humanismus" begreift: Humanist gleich Vertreter einer
autonomistischen Weltauffassung. Zwingiis „Humanismus" ist
neutestamentliche Renaissance. Zwingli ist als Theologe
und Kirchenmann Humanist, denn er kennt „ohne Gotteserkenntnis
keine Humanität" (S. 5 3). Für ihn gibt es neben
der biblischen keine zweite Offenbarungsquelle. Er bedient sich
der Antike und Philosophie als Apologetica. Selbst sein politisches
Wirken ist „christlich" ausgerichtet. Christus steht ihm über
allem, und zwar insonderheit der Christus des Johannesevangeliums
mit seinem „iy<6 elftt'l „Tolle Joannis euangelion — solem
mundo abstulisti" (CR V. 564). Über allem, d. h. auch über Paulus
, womit einem „Paulinismus" gewehrt wird. Locher sieht sogar
unter allen Reformatoren in Zwingli den einseitigsten und
stärksten Vertreter der Gottheit Christi (S. 20). Zwei Kapitel
greift der Verfasser besonders mutig an: die Zwinglische Trini-
tätslehre und die „Gotterkenntnis der Heiden", während das heiße
Eisen, das Problem der „Seligkeit der Heiden", das Rudolf Pfister
inzwischen in einer eigenen Studie (Die Seligkeit erwählter Heiden
bei Zwingli. Zollikon-Zürich 1952) angepackt hat, uns bis
zum Erscheinen des zweiten Teiles in Spannung hält.

In der „Züricher Reformation heute" ist etwas in Fluß gekommen
: Zwinglianismus renascens! Das aber niemals etwas anderes
bedeuten kann als Zwingiis höchsteigenes Anliegen: „Christianismus
renascens" (CR I, 203). Vielleicht verlohnte es sich
zu überdenken, — was bei Locher bereits implicite zu finden ist —,
ob nicht der tiefste Kern des „alium spiritum habetis" in der Differenz
zwischen Lutherschem und Zwinglischem Gottesbegriff zu
suchen ist: Zwingli kennt keine Unterscheidung von „deus ab-
sconditus" und „deus revelatus"; ihm ist Gott „in seinem Wesen
und seiner Offenbarung derselbe" (S. 97).

Wer über Zwingli — systematice aut specialiter — arbeiten
will, wird an Lochers grundlegendem und gründlichem Novum
nicht vorbeigehen können.

Berlin Fritz Schmidt-Clauting

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Fagerberg, Holsten: Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen
konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts. Uppsala: Almqvist
& Wikseils 1952. XV, 330 S. gr. 8°.

Die vorliegende umfangreiche Arbeit unternimmt die schwierige
Aufgabe, die Entstehung und Entwicklung der konfessio-