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Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

291-296

Autor/Hrsg.:

Plöger, Otto

Titel/Untertitel:

Prophetisches Erbe in den Sekten des frühen Judentums 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

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Prophetisches Erbe in den Sekten des frühen Judentums

Von Otto P 1 ö g e r, Heidelberg

Stellenangaben und unter Verzicht auf eine ausführliche Darlegung
.

Die beiden Gruppen nachgerühmte Akribie in der Gesetzesinterpretation
, die im Sinne einer lebensnahen Aktualisierung des
alten gesetzlichen Gutes zu verstehen ist, gegenüber dem sterilen
Konservativismus der Sadduzäer, zeigt offenbar das spätere Verständnis
von der Bedeutung der Propheten: sie gelten als Interpreten
und Traditoren der Tora; in ähnlicher Weise, so dürfen
wir folgern, beanspruchen dies für sich auch die Pharisäer und
die Essener.

Die Frage nach der Determination des menschlichen Willens,
bei den Essenern schärfer gefaßt als bei den Pharisäern, wird
unter Berücksichtigung fremder Einflüsse auch einen alttestament-
lichen Traditionsstrom in sich aufgenommen haben, der vom Pro-
phetentum herkommt: der festgelegte und den geschichtlichen
Ablauf regelnde und bestimmende, nun auf das Schicksal des
Einzelnen übertragene Jahweplan innerhalb der prophetischen
Verkündigung hat hier ein modifiziertes Nachleben erhalten.

Ähnliches wird von der sicher noch stärker durch fremde
Beeinflussung durchsetzten Auffassung von der Postexistenz des
Menschen gesagt werden dürfen, deren Wiedergabe bei Josephus
so auffallend schwankt zwischen Unsterblichkeitsglaube und Auferstehungshoffnung
. Aber die Restitutionshoffnungen der Propheten
, nun wiederum auf den Einzelnen übertragen, werden immerhin
einen Anknüpfungspunkt für eine Postexistenzvorstellung
enthalten haben, mögen hier auch fremde Elemente noch viel
nachdrücklicher eingewirkt haben und mag die Religionsverfolgung
in der frühmakkabäischen Zeit, als man sich zur Verteidigung
des väterlichen Erbes aufmachte und so begreiflicherweise
den Blick in die Vergangenheit richtete, ein besonderer Impuls
zur Ausgestaltung dieser Hoffnungen gewesen sein.

Schließlich ist es ja nicht auch von ungefähr, daß Josephus
den Pharisäern und vor allem den Essenern im Gegensatz zu den
Sadduzäern wenigstens gelegentlich die prophetische Sehergabe
zugesteht, und wenn damit auch vielleicht nur ein Prädikat umschrieben
wird, das einer von ihm als sympathisch beurteilten
Gemeinschaft ausgestellt wird, so ist es immerhin eine Hervorhebung
, die an das alte Prophetentum anknüpft. Es mag eine
Stelle des „Jüdischen Krieges" (II 411) besonders erwähnt sein,
die gewiß formelhaft, aber deshalb umso bezeichnender ist; dort
ersetzt Josephus die Propheten durch die Pharisäer, wenn er in
Anlehnung an die in manchen Prophetenschriften anzutreffende
Trias der D-wro ,D,,:nD,n-,1U5 von den dvvaxoi, äQxiegeig, <Pa-
Qiaaioi redet.

Bei alledem betont Josephus durchaus die Unterschiede zwischen
den Pharisäern und den Essenern, aber sie sind wenigstens
auf diesem dogmatisch-lehrhaften Gebiet letztlich doch nur gradueller
Natur. Gleichwohl läßt er einen tiefgreifenden Unterschied
erkennen, der allerdings die praktische Lebensweise beider
Gruppen betrifft und die graduelle Unterschiedlichkeit in der
jeweiligen Lehre erläutern könnte: es ist dies die von den Essenern
berichtete vita communis (ähnlich Philo über Essener und
Therapeuten), die in dieser Form trotz peinlicher Innehaltung
gesetzlicher und ritueller Vorschriften den Pharisäern nicht nachgesagt
wird. Ich brauche hier die anschauliche, gewiß mit kritischen
Vorbehalten zu lesende Schilderung des Josephus1 (und auch
des Philo) nicht zu wiederholen; sie ist es ja gewesen, die die
mancherlei Deutungen des Essenertums hervorgerufen hat. So
wenig ich mich gedrängt fühle, der Vielzahl dieser Deutungen
noch eine weitere hinzuzufügen, so werden wir doch damit nicht
von der Pflicht entbunden — wiederum bei aller Anerkennung
jener Einflüsse, die vom hellenistischen Vereinswesen herübergekommen
sind — bei dieser jüdischen Gemeinschaft nach einem
alttestamentlichen Modell zu suchen. Dafür gibt es, wenn man
von dem Vorschlag von Schoeps2 absieht, eine vielleicht sogar

Als Ausgangspunkt mag uns die Feststellung dienen, daß in
der nachexilischen Zeit seit der Gründung der jüdischen Gemeinde
unter Esra und Nehemia mit einem Prophetentum früherer Prägung
ernsthaft nicht mehr zu rechnen ist. Das hat sicherlich verschiedene
Gründe gehabt: die andersartige politische Lage, der
Verlust der eigenen Souveränität, die Strukturveränderung des
früheren Volkes Israel zu einer an Kult und Gesetz orientierten
Jahwegemeinde, die also nicht mehr nach biologisch-volkhaften,
sondern nach religiös-kultischen Merkmalen zu beurteilen ist,
das damit verbundene Verlöschen der prophetischen Kraft und
dergleichen Dinge mehr. Jedenfalls sind die verschiedenen Zeugnisse
für das Verschwinden des Prophetentums unüberhörbar.
Schon Ps. 74, 9 läßt den Mangel an einem echten Prophetenwort
erkennen, die Sammlung der bisherigen Erzeugnisse prophetischen
Geistes weist in die gleiche Richtung, daß eine wesentliche Bereicherung
auf diesem Gebiet nicht mehr zu erwarten ist; verschiedene
Stellen des 1. Makk. Buches (4,46; 9,27; 14,41;
eine ähnliche Formulierung im Manual of Discipline unter dem
Handschriftenfund am Toten Meer) bestätigen den Eindruck, in
einer prophetenlosen Zeit zu leben, und schließlich ist die Erwartung
eines neuen prophetischen Zeitalters etwa im NT nur
denkbar auf diesem Hintergrunde, daß das frühere prophetische
Zeitalter definitiv zum Ende gekommen ist.

Es erhebt sich aber die Frage, ob wirklich von einem Verschwinden
des Prophetismus die Rede sein kann oder ob es sich
nicht eher um ein Untertauchen handelt, d. h. um ein Weiterleben
unter völlig veränderten Umständen und in einer völlig veränderten
Form, wodurch tatsächlich etwas Neues entstanden ist.
Bereiche im nachexilischen Judentum, die für ein solches Untertauchen
in Frage kommen könnten — wenn ich vom Gebiete der
Weisheit als zu weit abführend einmal absehen darf — wären vor
allem das Gebiet der späteren Eschatologie apokalyptischer Prägung
— darüber wird noch nachher zu reden sein — und die
unter der Vorherrschaft des Gesetzes immer stärker in den Vordergrund
rückende Schriftgelehrsamkeit. Daß zwischen dem späteren
Stande der Schriftgelehrten und dem früheren Stande der
Propheten nicht nur sachliche Verbindungslinien bestehen, sondern
daß auch je und dann diese Linien mit Nachdruck hervorgehoben
worden sind, bedarf gewiß keiner Erörterung. NT-liche
Stellen wie der Weheruf über die die Prophetengräber schmückenden
Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23, 19 ff.) zeigen dies
ebenso wie manche Stellen der talmudischen Literatur, wenn ich
nur an die bekannte Gleichsetzung des Schriftgelehrten mit dem
Propheten im Traktat Berakot des Jerusalemer Talmud erinnere
(I 3b 26). Nun wollen wir gewiß nicht den Fehler Herfords wiederholen
, der in seinem Buche über die Pharisäer beide, Pharisäer
und Schriftgelehrte, durchweg einander gleichsetzt, aber es
kann ja kein Zweifel sein, daß sowohl die talmudische Literatur
als auch das NT den Typ des Schriftgelehrten im Auge hat, wie
ihn die pharisäische Bewegung hervorgebracht hat. Damit berühren
wir nun eine jener algeaeig, die uns gemeinsam mit den
Sadduzäern und Essenern so häufig bei Josephus begegnet. Gewiß
gibt die Darstellung des Josephus zu Bedenken Anlaß — er
schreibt tendenziös pro domo und im Blick auf hellenistisch beeinflußte
Kreise, ist selbst stark vom Hellenismus geprägt und
überdies in der Verwendung fremder Vorlagen alles andere als
nachahmenswert; gleichwohl erscheint es mir angebracht, in diesem
kurzgefaßten Rahmen sich auf ihn zu beschränken. Was dabei
über die Standesinteressengemeinschaft der Sadduzäer, nebenbei
ohne sonderliche Sympathie, vorgetragen wird, können
wir ohne Schaden als wenig ergiebig übergehen; es mag genügen,
im Auge zu behalten, daß es eben auch diese Gruppe im damaligen
Judentum gegeben hat. Was er aber über die grundsätzliche
— sagen wir einmal: über die dogmatische — Haltung der
Pharisäer und Essener berichtet, zeigt m. E., wenn man durch das
hellenistisch gefärbte Gewand der Darstellung hindurchsieht,
neben fremden Elementen auch Verbindungslinien zum alttestamentlichen
Prophetismus. Ich streife kurz ein paar Punkte ohne

') Vgl. besonders Bauers Artikel bei Pauly-Wissowa, Realenz. d.
klass. Altertumswiss. Suppl. Bd. IV. 1924 Sp. 286 ff.

2) Theologie und Geschichte des Judenchristentums 1949.