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Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

285-290

Autor/Hrsg.:

Hertzberg, Hans Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Kleinen Richter 1954

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285

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

286

Zur Theologie des Chronisten

Von W. Rudolph, Münster
(Resume)

Das chronistische Werk will die Verwirklichung der Theokratie
auf dem Boden Israels schildern. Diese gründet sich auf die Aussonderung
Israels aus der Völkerwelt, genauer auf die Erwählung Judas und
Jerusalems, wo David seinen Thron und Jahwe seinen Tempel hat —
davidische Dynastie und der Jerusalemer Tempel sind die beiden
Brennpunkte seiner Darstellung —, aber nachdem die Gottesherrschaft
erstmals dank dem vereinten Wirken von David und Salomo konkrete
Gestalt gewonnen hat, droht ihre Aufrechterhaltung wegen des Versagens
der späteren Davididen zu scheitern; von rechtswegen hätte ihr
Jahwe ein Ende machen müssen, aber in seiner Gnade läßt er aus der
Katastrophe die neue Gottesgemeinde erstehen, die nun die Theokratie
verkörpert.

Dieses Leitmotiv des Chronisten: „Das wahre Israel ist nur in
Juda und Jerusalem zu finden" hat eine Spitze gegen die samaritani-
schen Ansprüche.

Die Erwählung Judas selbst beruht nicht auf irgendwelchen Verdiensten
dieses Volkes. Durch die geflissentliche Hervorhebung der
Missetäter Er, Onan und Achan im Stammbaum Judas (l.Chr2) will
der Chronist deutlich machen, daß auch Juda keineswegs in fleckenlosem
Glänze strahlte, sondern schon an der Wurzel bemakelt war. Auch der
Lieblingsstamm Jahwes lebt nur von der Gnade. Umso wunderbarer ist
die Gabe, die Jahwe seinem Volke schenkt: er macht Juda zum Sitz
der malkut Jahwe und den davidischen König zu seinem irdischen Stellvertreter
und den Tempel in Jerusalem zum alleinigen Kultusmittelpunkt
.

Ist Jahwe der alleinige Schöpfer und Herr seines Volkes, so ist klar,
daß die Stellung zu ihm für das Volk und für den Einzelnen entscheidend
ist. Davids Wort an Salomo: „Wirst du ihn suchen, so wirst du
ihn finden, wirst du ihn aber verlassen, so wird er dich verwerfen"
(I 28,9) klingt immer wieder auf, und die Richtigkeit dieses Satzes
wird am ganzen Verlauf der Geschichte Israels und am Erleben der einzelnen
Könige aufgezeigt. Aber die Korrelation von Handeln und Ergehen
ist für den Chronisten kein starres und unabänderliches Prinzip,
sondern liegt in der Hand des lebendigen Gottes, der nicht nur der
Zürnende, sondern auch der Barmherzige ist und der dem, der sich vergangen
hat, den Weg der Umkehr eröffnet.

Der Chronist steht im Ruf eines Nomisten und Ritualisten, aber
er steht stärker in der echten prophetischen Tradition, als man ihm
gemeinhin zubilligt. Gottvertrauen und gläubiges Gebet spielt bei ihm
eine mindestens ebenso entscheidende Rolle wie das Halten des Gesetzes
, und er hat etwas dafür übrig, wenn fromme Gesinnung über
kultische Reinheit gestellt wird (II 30, 18—20). Auch kann der Mensch
selbst mit einem Höchstmaß an Opfern und Gaben Gott nicht mehr
geben, als was er selbst empfangen hat (I 29, 12 ff.). Damit ist jeder
Gedanke an die Verdienstlichkeit des menschlichen Tuns ausgeschlossen.

Im Vordergrund der gesetzlichen Vorschriften steht die Verehrung
Jahwes im Kultus. Wenn der Chronist solche Kultfeiern mit Liebe beschreibt
, wenn dabei der fröhliche Charakter der Gottesdienste sehr
viel stärker heraustritt als die Sühnegedanken, und wenn der Chronist
Musik und Gesang möglichst oft eine Rolle spielen läßt, so will er
damit einschärfen, daß der Lobpreis Jahwes die wichtigste Aufgabe
seines Volkes ist. Kult ist kein opus operatum und keine Routine, sondern
der' ständige Dank für die nichtauszuschöpfende Gnade, daß Jahwe
Jerusalem zum Sitz der Theokratie erkor.

Die Theokratie, die im Mittelpunkt der Gedankenwelt des Chronisten
steht, unterscheidet sich grundlegend von der alttestamentlichen
Hauptlinie, der prophetischen, durch ein Doppeltes. Die eschatologische
Erwartung tritt fast völlig zurück. Die konkrete jüdische Gemeinde,
wie sie uns vor allem in Neh 12, 44—13, 3 entgegentritt, verwirklicht
so sehr das Ideal der Theokratie, daß es keiner eschatologischen Hoffnung
mehr bedarf. Der andere Unterschied ist das geringe Interesse,
das der Chronist für das religiöse Schicksal der Heidenvölker hat. Dafür
ist er zu sehr von der Auseinandersetzung mit den falschen Brüdern,
den Samaritanern, in Anspruch genommen.

In der Frage nach den Kleinen Richtern sind wir durch die
Beobachtungen von Albrecht Alt und Martin Noth in letzter Zeit
ein gutes Stück weitergekommen1. Es darf heute als communis
opinio gelten, daß sie die eigentlichen Richter sind, die der Zeit
wie dem Buch der Richter den Namen gegeben haben, weil hier
ein Amt des Richters vorgelegen hat Die charismatischen Heerführer
und Helden brauchten als solche noch nidit Richter zu sein.
Erst die Tatsache, daß mindestens einer von ihnen, Jephtha, wahrscheinlich
aber mehr als dieser eine neben seinem charismatischen
Führertum auch Richter war, hat zu der Gleichsetzung geführt.
Daß sich von hierher Erkenntnisse für die literarische Vorgeschichte
des Richterbuches ergeben, soll hier außer Betracht
bleiben.

Wenn uns vielmehr jetzt die Frage beschäftigen soll, ob das
vorhandene Material uns in Bezug auf die Gestalten der Kleinen
Richter noch weiterkommen läßt, so gehen wir dazu von dem
Sichersten aus, der Form, in der die Notizen über sie überliefert
worden sind. Das Schema, das hier vorliegt, ist nicht rein erhalten
, da es durch anekdotenhafte Bemerkungen aufgefüllt und ergänzt
worden ist, wie wir es entsprechend bei den Bemerkungen
der Königsbücher über die einzelnen Könige finden, ein Vorgang
übrigens, der im Kleinen das zeigt, was im Großen durch die
Hinzunahme weiteren erzählenden Stoffes, wie eben bei Jephtha,
geschehen ist. Das eigentliche Schema lautet: „Und es erstand nach
s° und So (Name des Vorgängers) So und So (Name des Richters),
e'n Mann aus (Name des Stammes); der saß in (Name des Ortes des
Richters) und richtete Israel so und so viele (Zeit der Regierung)
Jahre; dann starb er und wurde in (Name des Ortes) begraben."

') Albrecht Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, 1934:
'efzt in „Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I", 1953, bes.
» 30O-02. Martin Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien I, 1943.
FassT' bcs- s- 47-50. Derselbe, Das Amt des Richters Israels, Bertholet

Die Kleinen Richter

Von H. W. H e r t z b e r g, Kiel

Dieses Schema setzt voraus2, daß es ein Verzeichnis gegeben hat,
innerhalb dessen eine Art von Erbfolge vorhanden war, da der
Ausdruck „nach So und So" prägnanten Sinn hat. Wie es zu der
jeweiligen Neuaufstellung des Richters kam, darüber wäre später
noch etwas zu sagen. Es interessiert zunächst die Frage, wer zu
diesem Verzeichnis gehört haben mag, also ob wir über die Namen
Thola, Jair, Ibzan, Elon, Abdon und dazu Jephtha hinauskommen
können.

Als Erster könnte sich dafür Othniel anbieten. Von ihm
wird wenigstens ein Teil der zum Schema der Kleinen Richter
gehörigen Angaben gebracht. Jahwe ließ ihn „erstehen", er „richtete
" Israel, hatte eine bestimmte Zahl von Amtsjahren3 und
„starb". Allerdings erscheint er zugleich als Retter von einem
äußeren Feind. Die Othnielgeschichte in ihrer gegenwärtigen Gestalt
stellt ja eine Mischung von den beiden Stoffgruppen dar,
aus denen das gegenwärtige Richterbuch im wesentlichen besteht.
Offenbar hat der Gesamtverfasser hier absichtlich die Merkmale
beider Gruppen zusammengestellt, um die erste Richtergestalt
als typisch im Sinne des Richterbuches erscheinen zu lassen. Der
Wirkungs- und Begräbnisort könnte so in Fortfall gekommen
sein, da die Angaben über die Kämpfe des Othniel gleichsam den
Ersatz dafür boten. Wir kommen noch in anderem Zusammenhang
darauf zurück.

Ferner wäre an Debora zu denken. Sie ist auf der einen
Seite eine inspirierte Gottesbotin, die ihrerseits wieder den Barak
ruft und so Spiritus rector der Schlacht gegen Sisera ist. Auf der
anderen Seite heißt es von ihr, 4, 4 f.: „Sie war es, die Israel zu
jener Zeit richtete. Und sie war es, die Sitzung abhielt unter der
Deborapalme zwischen Rama und Bethel auf dem Gebirge Ephraim,

2) Noth, Das Amt..., S. 407 f. (Bertholetfestschr.)
•) Die runde Zahl 40 (3, 11) scheint dabei eine andere, offenbar
res<schrift, 1950, S. 404-17. Derselbe, Geschichte Israels, 1950, S. 8 8 ff. | verloren gegangene Zahl ersetzt zu haben.