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Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

281-282

Autor/Hrsg.:

Rosenkranz, Gerhard

Titel/Untertitel:

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lotos-Sûtra und im Lukasevangelium 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

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einen anderen Bezugspunkt erhält, daß die Richtung, in der er
sich bewegt, gewissermaßen umgekehrt wird. Es wird nicht nur
der Mensch, auch seine Sprache wird „bekehrt".

5. Als evangelische Theologen müssen wir deshalb behaupten
, daß Entmythologisierung primär niemals Werk des Menschen
sein kann, sondern, daß sie bereits von Gott her geschehen ist,
dadurch, daß Gott der Welt in Jesus von Nazareth eine neue
Mitte gegeben hat und daß nun auch alle Sprache und alles Wort
des Menschen auf diese Mitte hin ausgerichtet ist. Wir können,
nur die bereits vollzogene Entmythologisierung zur Kenntnis nehmen
und ihr nachdenken, wir können sie aber niemals selbst vollziehen
, es sei denn, daß wir aus eigener Vollmacht einen anderen
Bezugspunkt setzen. Damit würden wir aber aufhören, Boten des
Evangeliums zu sein und würden unsererseits zu Religionsstiftern
, zu Schöpfern sekundärer Mythen werden.

6. Eine ganz bestimmte Gruppe von Wörtern muß allerdings
von dem Vorhergesagten ausgeschlossen werden. Sie können
nicht entmythologisiert und darum auch nicht für die Verkündigung
des Evangeliums gebraucht werden: Die Eigennamen.
Wie beim Götterbild, so ist auch beim Götternamen für den Christen
die Grenze überschritten, jenseits derer es keine Erlösung
und Rechtfertigung mehr gibt. Den sündigen Menschen und seine
Sprache rechtfertigt und heiligt Gott. Die Götter aber, die durch
den Menschen eigene Wesenheiten mit eigenem Bild oder eigenem
Namen geworden sind, verneint Gott radikal. (Ich glaube,
daß von dieser Art „Namen" z.B. auch Eph. 1,21 (navTÖg
ovdfiaros övopatofiivov) die Rede ist). Es bricht an diesem Tatbestand
noch einmal die völlige Andersartigkeit von Mythus und
Evangelium auf. Für die synkretistischen Mythen Indiens ist der
Name unwesentlich, für das Evangelium ist der Name Alles. In
den Mythen ist Name und Wesen voneinander grundsätzlich geschieden
. Für das Evangelium ist die Anrufung des Namens Gewißheit
der personalen Gegenwart Gottes selbst. Die Nennung
eines anderen Namens ist darum Gottesleugnung und Blasphemie.
Darum kann in der Übersetzung des Evangeliums kein anderer

Name aus dem Mythus verwandt werden. Der Name kann nicht
entmythologisiert, er kann nur verneint und vernichtet werden.

e. Ich möchte schließen mit einer Reihe von Fragen, die sich
mir mit zunehmender Dringlichkeit aus den im Referat in sehr
großen Zügen dargestellten Tatsachen mit Blick auf die neutesta-
mentliche Exegese und vor allem mit Blick auf den rechten Gebrauch
des religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials gestellt
haben. Ich formuliere zwanglos, ohne Anspruch auf Vollständigkeit
und logische Reihenfolge:

1. Tragen wir der Tatsache genügend Rechnung, daß jeder
religiöse Begriff, Brauch und jede Vorstellung niemals ein isolierbares
Ganzes, sondern immer nur Stüde oder Funktion eines
größeren Ganzen sind und daß sie ihre mythische Qualität und
ihren Inhalt nur von der Mitte dieses organischen Ganzen, nie-

' mals aber per se haben?

2. Haben wir mit der notwendigen Schärfe erfaßt, daß die
j Entmythologisierung bereits durch das Christusgeschehen selbst

erfolgt ist und in der Bezeugung dieses Geschehens unablässig
vergegenwärtigt wird, daß sie von uns also nicht durch eine die
i mythische Bedeutung von der dem Begriff „eigenen" Wahrheit
i scheidende theologische Analyse, sondern nur durch die Verkündigung
in rechter Weise nachvollzogen werden kann?

3. Haben wir nicht allzusehr auf die scheinbare, formale
Affinität der nichtchristlichen Begriffe geachtet und ihr „Umge-
kehrt-werden" durch das Evangelium zu sehr außer acht gelassen?

4. Haben wir die Tatsache genügend beachtet, daß die „Namen
" im Neuen Testament nicht entmythologisiert, sondern nur
als Stücke aus der dämonischen Welt radikal verneint werden?

Das Referat würde einen Dienst geleistet haben, wenn es
j verdeutlicht hätte, daß wertvolle, ja, vielleicht die zuverlässigsten
Analogien für die neutestamentliche Forschung gewonnen
werden könnten, wenn die Begegnung von Mythus und Evangelium
auch von der missionarischen Verkündigung in unserer Zeit
her durchdacht und begriffen würde.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lotos-Sütra und im Lukasevangelium

Von Gerhard Rosenkranz, Tübingen
(Resume)

Das buddhistische Gleichnis vom verlorenen Sohn steht im 4. Kapitel
des „Sütra vom Lotos des guten Gesetzes", einer rund 700 Jahre
nach dem Tode des Buddha entstandenen, im östlichen Buddhismus hodi-
geschätzten Mahäy äna-Schrift. Der Sohn, so beriditet es, verläßt seinen
Vater und lebt 50 Jahre im Elend der Fremde. Auf seinen Bettelwegen
kommt er vor den väterlichen Palast, ohne ihn zu erkennen; denn der
Vater hat auf der Suche nach ihm seinen Wohnsitz gewechselt. Der Vater
wiederum versdiweigt, daß er ihn erkannt hat, und bemüht sich 20
Jahre lang, den „Fremden" durch allerlei Kunstgriffe auf den Augenblick
vorzubereiten, wo er ihm sagt, daß er der Sohn ist. Das geschieht
kurz vor seinem Tode, und der Sohn preist sich nun glücklich als Erbe
der väterlichen Schätze. Das Gleichnis will sagen, daß die Jünger des
Buddha nicht nur während ihrer Verhaftung an die Welt, sondern auch
noch in der Zeit in der Verlorenheit waren, als sie der Buddha, wie
der Vater den Sohn, durch Kunstgriffe (upäyakausalya) stufenweise, d. h.
über die Einführung ins Hinayäna, die Vermittlung des Nirväna und der
Bodhissattvaschaft, in die Buddhaschaft als in ihr Vaterhaus führte.

Das Lukas-Gleichnis (Lk. 15) sieht in der Lossagung des Sohnes
vom Vater den Bruch des Menschen, der sein Leben selbstherrlich in
seine Hand nimmt, mit Gott. Allein das Bekenntnis der Sünde des Verlorenen
und seine Umkehr bringen ihn wieder in die Gemeinschaft, und
zwar die uneingeschränkt gewährte Gemeinschaft mit Gott.

Beiden Gleichnissen sind die handelnden Personen und, in großen
2ügen, das Geschehen gemeinsam. Während aber das Lukas-Gleichnis,
"nablösbar von seinem Sprecher Jesus, durch den Gott seinen Willen
offenbart, in die existentielle Entscheidung vor Gott ruft, bietet das Lo-
'os-Gleichnis, von einem Buddhajünger erzählt, die Mitteilung einer
zeitlosen Wahrheit. Hinter ihren formalen Gemeinsamkeiten liegen also
""vereinbare strukturelle Verschiedenheiten. Der Vater des Lotos-

Gleidinisses ist der Buddha als der transzendente Norm- (Dharma-)
und als der Inkarnations- (Nirmäna- käya) Leib, als den ihn das Sütra
vor das Absolute, die Leerheit (sunyata), gesetzt hat. Als solcher ist er
Exponent und Transformator eines Erlösungsmechanismus, der durch
mannigfache Kunstgriffe die Wesen darauf vorbereitet, daß sie schließlich
als Söhne des Buddha ihrer Buddhaschaft innewerden. Der Vater
des Lukas-Gleichnisses ist keine Projektion menschlichen Erlösungsverlangens
auf den dunklen Hintergrund eines apersonalen Absoluten, sondern
hat sich aus freiem Willen einmal und damit ein für allemal in
Jesus als Vater seiner Kinder offenbart. Das Schlußwort des Vaters im
Lotos-Gleichnis lautet: „Dies ist mein Sohn, nach dem ich mich lange
gesehnt habe ... Er ist der Eigentümer meiner Schätze"; das Schlußwort
des Vaters im Lukas-Gleichnis lautet: „Lasset uns fröhlich sein; denn
dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war
verloren und ist gefunden worden." Den Sohn des Lotos-Gleichnisses
führt der Zufall aus der Masse der Niditwissenden zum Vater zurück,
der ihm allmählich die Augen für das erlösende Wissen öffnet. Den
Sohn des Lukas-Gleichnisses errettet aus der massa peccatorum sein Ent-
sdiluß, sidi der Liebe des Vaters preiszugeben, der „seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden
, sondern das ewige Leben haben."

Die beiden Gleichnisse gleichen zwei Weihespielen, von denen sich
das eine vor den offenen Türen eines Domes zuträgt, aus dessen Innern
der Kruzifixus dem Notruf und Bußwort des Sünders Antwort gibt,
während sich das andere marionettenhaft vor der Leere des Weltraums
abspielt, aus dem keine letzte Antwort kommt.

(Erscheint in der von der Tübinger Ev.-theol. Fakultät herausgegebenen
Festsdirift zu Karl Heims 80. Geburtstag „Theologie als Glaubenswagnis
", Furdie-Verlag).