Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

273-282

Autor/Hrsg.:

Meyer, Heinrich

Titel/Untertitel:

Das Evangelium in der Begegnung mit dem Mythus in Indien 1954

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5

Download Scan:

PDF

273

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

274

Verhaltungsweisen, besonders gegenüber der Philosophie hervorheben
, wie es in besonderer Weise auch Schleiermacher in seinen
Reden über die Religion und in seiner Auseinandersetzung mit
Hegel in der Glaubenslehre versucht hatte.

An diesem Punkt muß die Neuorientierung der theologischen
Haltung auch für das Gebiet der Religionswissenschaft einsetzen.
Gegenüber der vergangenen orthodoxen und liberalen Haltung
muß sie bemüht sein, immer tiefer den genuinen Gehalt der
christlichen Religion, der in der Person des geschichtlichen Christus
Gestalt wurde, herauszuarbeiten. Sie muß zeigen, wie die
göttliche Offenbarung nie identisch wird mit der geschichtlichen
Wirklichkeit, nie verfügbar wird für den Menschen, sondern das
kontingente Ereignis ist, das in der geschichtlichen Wirklichkeit
verhüllt bleibt. Sie muß ebenso den genuinen Gehalt jeder anderen
Religion herauszuarbeiten versuchen in dem Bewußtsein, daß
auch ihnen eine jeweils besondere Begegnung des Menschen mit
dem Heiligen zu Grunde liegt. Sie muß dann diese Begegnung in

Beziehung setzen zu der Begegnung mit dem Heiligen in Christus
und von hier aus zu bestimmten Bewertungen jener anderen Begegnungen
kommen, immer von dem Gesichtspunkt bestimmt,
daß die Religion in allen ihren Erscheinungsformen einer eigenen
Gesetzlichkeit folgt, unabhängig von Philosophie, Wissenschaft,
Kunst u. s. w. Sie muß daher auch die Methodik ihres Verfahrens
von der Sache her gewinnen, die zu verstehen ihre Aufgabe ist.
Sie darf auch hier keine Anleihen machen bei philosophischen
Verhaltungsweisen, die von ganz anderen Voraussetzungen wie
von theologischen vorausbestimmt sind, etwa bei der Hermeneutik
Diltheys oder der Heideggers. Auch hier muß wieder der
Satz Luthers geltend gemacht werden: scriptura sacra sui inter-
pres. Sie muß daher versuchen, eine eigene theologische Hermeneutik
zu gewinnen, etwa in der Richtung, wie sie sich Luther
ergab in seinem Ringen um den gnädigen Gott, eine Hermeneutik,
die ihren Grund hat in dem, was Christum treibet.

Das Evangelium in der Begegnung mit dem Mythus in Indien

Von Heinrich Meyer, Hamburg

L

Man kann gegen die Formulierung des Themas zwei schwerwiegende
Einwände erheben, auf die sofort eingegangen werden
muß, wenn nicht begriffliche Unklarheiten von vornherein eine
fruchtbare Behandlung des Gegenstandes gefährden sollen. Anfechtbar
mag sowohl die Verwendung des Begriffes „d e r Mythus
" erscheinen wie der andere Umstand, daß hier von „d e m
Evangelium" geredet wird.

Wenden wir uns gleich dem ersten Einwand zu: Es ist genugsam
bekannt, daß Begriff und Wesen des Mythus von namhaften
Religionswissenschaftlern völlig verschieden bestimmt und
daß der Mythus — jeweils unter Beibringung verläßlichen, ad hoc
gesammelten Tatsachenmaterials — sehr verschiedenen Bereichen
des religiösen Lebens zugeordnet wird. Auf der einen Seite sieht
man ihn z. B. in der Nähe des Märchens und der Legende. Auf
der anderen Seite bestreitet man diese Verwandtschaft und nimmt
ihn als Ausgangspunkt und Frühform religionsphilosophischen
Denkens. Man sucht sein Wesen vom Kult her zu bestimmen —
ätiologische Kulterzählungen finden sich ja in reicher Zahl bei
den verschiedensten Religionen — und muß auf der anderen Seite
doch zugeben, daß Mythen den Kult transzendieren und entwerten
, ja geradezu kultfeindlich sein können. Diese verschiedenen,
einander widersprechenden Inhalts- und Affinitätsbestimmungen
des Mythus gründen sich wie gesagt auf der Beobachtung tatsächlich
vorhandener religiöser Befunde. Gerade deshalb zwingen sie
uns, meine ich, zu dem Schluß: Den Mythus als Urform, gewissermaßen
als Idee aller Mythen, gibt es, zumindest für unsere
Wahrnehmung, nicht. Es gibt eine Vielfalt von Mythen, die unter |
sich eine gewisse Verwandtschaft besitzen können, die aber auch
jeweils ihren besonderen Ort und ihre nur ihnen eigentümliche
Funktion haben, entsprechend der besonderen Religion, där sie
zugehören. Jede Verallgemeinerung der an konkreten Objekten
gemachten richtigen Beobachtungen führt zwangsläufig zu einer
unrichtigen Vergewaltigung in der Darstellung anderer Typen.

Nun kann man natürlich auf dem Wege der Abstraktion
und konseqcntcn Eliminierung aller nicht allgemein vorkommenden
Merkmale versuchen, zu einer letzten allgemeingültigen Bestimmung
des Mythus zu gelangen. Religionswissenschaftler haben
diesen Versuch immer wieder unternommen. Man kommt auf
diesem Wege mit einiger Sicherheit zu einer Formel, die etwa
besagt: Der Mythus ist der Versuch des Menschen, seiner eigenen
«istenz und der Welt, in der er existiert, einen Sinn zu geben.
Als streng formale Bestimmung ist dieser Satz gerade noch traget
, aber man wird dann dreierlei einwenden müssen: 1. läßt
diese Formel sich auch auf andere Elemente des religiösen Le-
bens (Tanz, Kult, Märchen, Legende) mit einigem Recht anwenden.
2- verzichtet diese Definition auf eine Beantwortung der Frage,
warum und wie es zu diesem Versuch der Sinngebung kommt,
• h. auf die Beantwortung der Frage, an der wir am allermeisten

interessiert sind. 3. darf mit Recht bezweifelt werden, ob mit
einer solchen formalen Definition die eigentliche Lebensmittc
und Funktion der verschiedenen konkreten Mythen wirklich angezeigt
ist.

Verstehen wir aber diese abstrakte Definition nicht nur als
eine beschreibende Formel, die weit genug ist, um die Erscheinungen
aller bekannten Mythen als ein bestimmtes genus commune
des religiösen Lebens einigermaßen zutreffend zu umreißen,
sondern als eine Inhalts- und Wesensbestimmung, m. a. W. brauchen
wir die Begriffe Mensch, Welt, Sein, Sinn in einem ganz bestimmten
Vor-Verständnis, dann haben wir uns damit unweigerlich
auf das Gebiet der Dogmatik begeben. Nun soll gewiß nicht
behauptet werden, daß eine solche dogmatische Bestimmung dessen
, was der Mythus sei, unmöglich ist. Es soll vielmehr ausdrücklich
vermerkt werden, daß eine christliche Theologie letztlich
ohne eine solche dogmatische Bestimmung nicht auskommt. Von
der Religionswissenschaft her ist die Formulierung einer solchen
dogmatischen Bestimmung allerdings als ultra vires abzulehnen.
Wenn schon die christliche Verkündigung vom Kreuz ein Ärgernis
ist, so sind vom Menschen her versuchte Dogmen, auch wenn
sie religionsgeschichtlicher Art sind und religionsgeschichtliche
und -psychologische Wahrnehmungen als Grundlage benutzen,
eine für den Wissenschaftler und für den Christen gleich unerträgliche
Kompetenzüberschreitung.

Das Ergebnis dieser Überlegungen mit Blick auf das Thema
des Referats kann darum nur so lauten: Für den beobachtenden
Religionswissenschaftler kann es nur eine Vielfalt von Mythen,
nicht aber den Mythus als eine mehr oder weniger eindeutig bestimmte
generelle Erscheinung des religiösen Lebens geben. Jede
generelle dogmatische Definition des Mythus aufgrund religionswissenschaftlicher
Beobachtungen muß — für den Bereich der
Religionswissenschaft — als Grenzüberschreitung abgelehnt werden
. Es kann hier also von dem Mythus in Indien nur in dem
Sinne gesprochen werden, daß das Evangelium nicht irgendeiner
abstrakten Größe „Mythus", sondern dem Visnu-, dem
Siva-, dem Krsna-Mythus begegnet, also immer einem ganz bestimmten
, sozusagen artikulierten Mythus, der sich wesentlich
von anderen indischen und schon gar etwa afrikanischen oder
melanesischen Mythen unterscheidet.

Aber, so fragen wir nun zweitens, ist denn das Evangelium
eine einheitliche Größe in Indien? Sind nicht die verschiedenen
konfessionellen Interpretationen des Evangeliums und — quer
durch die konfessionellen Unterschiede hindurch — die verschiedenen
theologischen Akzentuierungen und Richtungen der, von
den jungen Kirchen bitter beklagte, Erweis der Un-einigkeit
christlicher Theologie und Kirche und das heißt doch wohl auch
der christlichen Evangeliumsverkündigung? Überraschenderweise
muß die Antwort an dieser Stelle lauten: Trotz der kirchlichen
j und theologischen Unterschiede erweist sich das Evangelium in