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Ausgabe:

1954 Nr. 5

Spalte:

267-274

Autor/Hrsg.:

Schultz, Werner

Titel/Untertitel:

Über die Grundlagen religionswissenschaftlicher Hermeneutik 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 5

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stellen. Otto fand ihn in der Idee des Heiligen schlechthin, Tillich
im Prinzip des Unbedingten, vor dem alle menschlich bedingten
Setzungen zerbrechen. Aber sie wird mit ihren Mitteln nicht erweisen
können, daß es nur eine Möglichkeit der Erfüllung solcher
Norm gibt, sondern sie kann wiederum nur vor die Entscheidungsmöglichkeit
führen. Das gehört zu ihren Grenzen und gerade
darin erweist sich echte Wissenschaft, daß sie ihre Grenzen einhält
. Blicken wir jetzt am Schluß unseres Weges auf unseren Einsatzpunkt
, auf Troeltschs Unternehmen einer religionswissenschaftlichen
und religionsphilosophischen Begründung der Theologie
zurück oder denken wir an den gleichlaufenden Weg, den
Rudolf Otto eingeschlagen hatte, als er Theologie als Religionswissenschaft
ansprach, so ist um der geschichtlichen Wahrheit
willen im Blick auf beide Männer gleichermaßen zu sagen, daß
die Leidenschaft ihres wissenschaftlichen Ernstes beide zu der Erkenntnis
geführt hat, daß auf dem Wege von der Religionswissenschaft
zur Theologie Entscheidungen sich vollziehen und das
Beweisen aufhört. Anstelle des Beweises ist der Erweis von Tatsachen
, die Aufdeckung von Entscheidungsmöglichkeiten und der
Aufweis von Gehalten getreten, welcher nicht das reine Denken,
sondern die Person als Person inne wird. Umso näher dürfen wir
uns ihnen verbunden wissen.

Nur in Klammern sei vermerkt, daß der Fortschritts- und
Entwicklungsgedanke, den man fast ausschließlich an ihren Konzeptionen
herausgehoben hat, bei beiden sehr eingegrenzt war.
Otto erklärte: „Was sich uns vorstellt als Naturprozeß und Entwicklungsergebnis
, das alles ist in seiner Tiefe und seinem wahren
Aspekte nach nichts anderes als Erscheinung intelligibler Verhältnisse
von Freiheit und von Schuldigwerden, deren empirische
Verkleidungsform diese Welt der Entwicklungszusammenhänge
ist."

Troeltsch begrenzte seinen Fortschrittsgedanken auf die von
ihm sogenannte europäisch-amerikanische Kultursynthese. Dieser
Fortschrittsgedanke war also erstens ein begrenzter, zweitens war
er so wenig, als dies auf den Höhen der Aufklärung der Fall gewesen
ist, Ergebnis vermeintlich neutraler Geschichtsbetrachtung,
sondern vielmehr Ausdruck eines Willens, der sich zum Weiterschreiten
aus dem Chaos der gegenwärtigen Situation verpflichtet
weiß. Drittens ist gerade durch Troeltschs Schau die Tür aufgeschlossen
zu der Begegnung von West und Ost im Wissen um
ihre Fremdartigkeit und wechselseitige Rätselhaftigkeit.

Das für uns Entscheidende ist die Totalität der Forschungsperspektiven
, die Einheit und Ganzheit des Erkennenden in der
Mannigfaltigkeit der Unterscheidungen und in der Relation seiner
Erkenntnisgebiete. Religionswissenschaft ist nicht Rcligions-
philosophie, und beide sind nicht Theologie. Aber Theologie, Rc-
ligionsphilosophie und Religionswissenschaft gehören zusammen
zur Totalität des Erkennens in Sachen der Religion. Die Theologie
bedarf der Religionswissenschaft, und der Theologe kann
und soll, ohne daß er seine Theologie verleugnet oder seinen
Glauben beiseite legt, Religionswissenschaft treiben. Indem die
Religionsphilosophie den phänomenologischen Religionsbegritf
durchbricht und indem sie zugleich das Mißverständnis der Religion
als einer besonderen Funktion neben anderen Funktionen
durchbricht und herausstellt, daß, wenn es eine Beziehung zum
Unbedingten gibt, diese das ganze Leben in allen seinen Schichten
durchgreift, leistet solche Religionsphilosophie der Theologie
den großen Dienst, die Isolierung der religiösen Sphäre auch im
christlichen Denken zu überwinden. Die Religionswissenschaft,
sei es als Religionsgeschichte, sei es als Religionssystematik, bescheidet
sich bei der Phänomenerfassung und der phänomenologischen
Einklammerung. Aber den Erkennenden als Menschen
führt sie zu Fragen philosophischen und metaphysischen Charakters
, die sie selbst zu stellen nicht befugt ist (Wach). Doch schon
längst, ehe solches explizit geschieht, kann die phänomenologische
Erfassung der Religion durchzittert sein von der Ehrfurcht, die aus
dem Motto von van der Leeuws Phänomenologie der Religion
spricht: „Vor Gott muß alles ewig stehen".

Im Zusammenhang der Wissenschaften ergänzt die eine die andere
. Letztlich hört hier der Begriff der sogenannten Hilfswissenschaften
auf. Jede leistet mit ihrer Einstellung der anderen Hilfe.
Eben dies sprechen wir abschließend einmal mit einem Worte diS
Neuen Testaments aus. Beim Apostel Paulus heißt es: „Alles ist
euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes." Zum andern
I sagen wir im Blick auf den Zusammenhang von Theologie und
I Religionswissenschaft mit einem Worte Goethes: „Wer das
Höchste will, muß das Ganze wollen."

Über die Grundlagen religionswissenschaftlicher Hermeneutik

Von Werner Schultz, Kiel

Die Begründung einer theologischen Hermeneutik im Bereich
des lutherischen Protestantismus ist noch in den Anfängen.
Schleiermachers Hermeneutik fand nicht den Anschluß an den
Kern der Lehre Luthers. Er begründete sie in einem mystischen
Pantheismus, der besonders von Spinoza und Schelling geprägt
war: ein Verstehen ist nur deshalb möglich, weil das Wesentliche
in allen Menschen dasselbe ist. Verstehen ist lieben. Aber Liebe
wird als der amor dei intellectualis Spinozas gedeutet: als eins
werden mit dem, was wesentlich mit dem Subjekt des Verstehens
identisch ist. An Schleiermacher schloß sich der eigentliche Begründer
geisteswissenschaftlicher Hermeneutik Wilhelm Dilthey
an, dem wiederum die bedeutendsten Systematiker des Historismus
folgten wie Troeltsch, Spranger, Meinecke. Bei ihnen allen
findet sich dieselbe weltanschauliche Fundierung der Hermeneutik
wie bei Schleiermacher. Dieser ganzen Bewegung schlössen sich
aber auch die namhaften Theologen an, die das Verstehen zum
Gegenstand ihres Nachdenkens machten, wie neuerdings noch
R. Bultmann ausdrücklich auf Dilthey zurückgreift (vgl. R. Bultmann
, Das Problem der Hermeneutik, Z. Th. K. 1950, Heft 1).
Sie waren offenbar der Meinung, daß hier endgültige Resultate
der philosophischen Besinnung über das Verstehen vorlägen, ohne
zu sehen, daß diese Resultate einer weltanschaulichen Bindung
entstammten, die dem genuinen Christentum eigentlich fremd
war. Auch die Begrenzung, die der philosophischen Hermeneutik
aus dieser weltanschaulichen Bindung erwachsen mußte, wurde
übersehen, obwohl eindringlich bereits Max Scheler wiederholt
darauf hingewiesen hatte, daß Liebe innerhalb einer pantheistisch
begründeten Interpretation immer nur Autoerotik sei, und daß

eine derartige Interpretation nicht in der Lage sei, den Sachverhalt
der Individualität als ihren eigentlichen Gegenstand positiv
zu bewerten. Im Verfolg dieser seiner Kritik an der hermeneu-
tischen Allgeist-Theorie hatte Scheler darauf hingewiesen, daß
nur auf der Grundlage einer theistischen Glaubenshaltung den
Anforderungen genügt werden könne, die eine echte Theorie der
Hermeneutik zu ihrem Ziel führt.

Folgt man aber diesen Anregungen Schelers und versucht
man darüber hinaus das Versäumnis Schleiermachers nachzuholen
und die Hermeneutik im lutherischen Rechtfertigungserlebnis zu
begründen, so ergibt sich ein ganz anderes Bild vom Wesen und
von der Aufgabenerfüllung des Verstehens. Verstehen ist auch
dann noch ein Lieben. Aber Liebe ist dann nicht mehr der amor
dei intellectualis Spinozas, sondern die Agape im Sinne des christlichen
Kerygmas, die in der Gestalt Christi Ereignis geworden ist.
deren Einmaligkeit und Besonderheit mit allen ihren Voraussetzungen
und Wesenszügen von der theologischen Arbeit der letzten
zwanzig Jahre immer wieder neu herausgearbeitet wurde. Verstehen
ist dann nichts anderes als der Vollzug der sola gratia, in
dem die reformatorische Tat Luthers kulminierte. Die Arbeiten
von Holl und Vogelsang und noch entscheidender von Ebcling,
Bornkamm, Hahn u. a. haben neuerdings erschlossen, wie Luther
von seinem reformatorischen Urerlebnis aus zu einer ganz neuen
Gestaltung der Hermeneutik kam, und wie fruchtbar diese Hermeneutik
für die gesamttheologische Arbeit noch heute sein kann.

Für den Bereich der Religionswissenschaft ist auf die Bedeutung
dieses in der Agape fundierten Verstehens zuerst von vnn