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Ausgabe:

1954 Nr. 4

Spalte:

244-247

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Tanner, Fritz

Titel/Untertitel:

Die Ehe im Pietismus 1954

Rezensent:

Schmidt, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 4

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Organisation der Wikinge, die Varins Sohn getötet hatten, — 4 Gruppen
von je 5 Seekönigen, gleichnamigen Brüdern, — vergleicht H. mit
dem, was sich aus der Anlage der Trelleborg auf Seeland ersdiließen
läßt.

Man sieht aus diesem wie aus dem ersten Teil der Arbeit,
wie bedeutsam die Runologie durch die Unmittelbarkeit ihrer
Texte die Erkenntnis fördert. Der Verf. deutet die Runen von
Rök in den wesentlichen Zügen abschließend, und wo noch verschiedene
Möglichkeiten zur Debatte stehen, reizen sie mehr zum
Weiterbauen als zur Aufgabe einer von H. bezogenen Stellung.
Das ist bei dem Wort raith in der Theoderichstrophe der Fall,
wo der Verf. die Gleichsetzung mit altisl. r6d „herrschte" in
den Vordergrund stellt. Ich möchte für die noch offene Deutung
durch altisl. reid „ritt" stimmen, weil die Strophe im Traumgesicht
der Brünhild, Altes Sigurdlied Str. 16, nachgebildet
wurde, dort wo es von Gunnar heißt: „Mir schien, . . . daß du,
Fürst, rittest, der Hallenfreude beraubt, von der Fessel umfaßt,
in der Feinde Schar," und weil ein Strandritt Theoderichs eben
eine Rolle Odins in Ausübung des Amts der Landeswehr ist
(man denke an den Schimmelreiter). Es ist dies eine alte Odinsrolle
auf Grund einer Sintfluterwartung als Weltende, wie ich in
einer noch nicht veröffentlichten Arbeit zeigen will. Wahrscheinlich
findet sich von da aus auch ein Weg zur alten Vermutung,
die Theoderichstrophe beschreibe ein Standbild, denn sie hebt wie
die oben angeführte Gottfridstelle hervor, daß der König auf
seinem Roß sitzend übers Land zieht. Die statuarische Haltung
des unbewegten Sitzens, die man aus den Texten herausfühlt,
wirkt wie das visionäre Nachbild des Umzugs einer Statue in
einem Landeskult. Auch in Brünhilds Traum geht es, was hier
nicht ausführlicher dargelegt werden kann, um ein Königsgeschick,
das von dem Theoderichbild des Verf.s her in vertiefender Weise
beleuchtet wird; in der Vision der Brünhild nimmt Gunnars Ritt
zum Tod etwas von jenem Schicksalszwang an, den die Theoderichüberlieferungen
, welche den König in die Hölle entführt
sein lassen, voraussetzen.

Im „Weiheheldenkatalog" zeigt sich nun, was das aus der
Rökinschrift Erschlossene für die Beurteilung anderer Überlieferungen
bedeutet. Nach H. geben die Sagendichtungen die einheimische
Sicht auf das geschichtliche Geschehen; in ihnen kommen
die Lebensmächte zu Wort, deren Dasein und Wirken dem antiken
Beobachter und dem mit diesem wetteifernden Historiker
späterer Zeiten entgehen. Es handelt sich zunächst darum, daß
die Sagen, in denen eine Individualweihe vorkommt, eben darin
eine Einrichtung des staatlichen Lebens spiegeln und nicht als
Phantasieschöpfungen des Zusammenhangs mit dem echten, ernsten
Leben entbehren. Das ist nun eines der großen Themen der
germanischen Literaturgeschichte: das Verhältnis von Geschichte
und Dichtung. Als Gegenspieler H.s erscheint Andreas Heusler,
oder genauer: für Heusler waren die Fragen noch nicht aufgeworfen
, die H. stellt und positiv beantwortet. Zu Heuslers Zeiten
verstand man, wenn man Religion und Geschichte in der Dichtung
suchte, darunter etwas anderes, und insofern gehört Heuslers
Skepsis auch zur Weebereitung für H.s Arbeit. Hier ist wie
beim Problem Lied und Sage Heusler der Lehrer und Gegenpol
der heutigen Forschergeneration. In der Einstellung zu den Sagen
mit Zügen der Individualweihe erkennt man dies mit beispielhafter
Deutlichkeit (s. S. 118 ff.). Der Verf. trennt sich gerade
dort entschieden von Heusler, wo sich ihre Anschauungen
decken, — eine Koinzidenz, die für die geistesgeschichtliche Durchleuchtung
der Wissenschaftsentwicklung von hohem Interesse ist.
Wenn Heusler über die Satre von Harald Kampfzahn sagt: „Hier
ist der Gedanke (vom König als Odinshelden) mit primärer
Kraft durchgeführt: das Leben des Königs von der Geburt bis
zum Tode wird getragen von seiner Beziehung zu Odin: er ist
der wahre qodi signadr (d. i. gottgeweihte); seine Sage ist entworfen
aus dieser religiös-grüblerischen Vorstellung", so fährt
H. fort: nicht bloß aus einer solchen Vorstellung, nicht aus d?r
persönlichen Idee eines Dichters heraus, sondern auf Grund einer
Lebenswirklichkeit, wie sie uns der Rökstein belegt, und darum
ist die Kampfzahnsaee im tiefsten Sinne historisch und müssen
des weiteren die anderen Weihesagen nicht notwendig von ihr
literarisch abhängen: auch wiederholtes Schöpfen aus dem Leben
selbst kommt in Betracht. Es handelt sich natürlich nicht darum,

zu sagen: hier hat Heusler geirrt. In der Kenntnis des Altertums
hat sich vieles geändert, seitdem Heusler als größter Kenner der
alten Dichtung die Grundlinien der Literaturgeschichte zog: die
Vorgeschichte gab dem römerzeitlichen Germanentum eine vielstufige
und auch geistesgeschichtlich bereits charakterisierte
Ahnentafel, die Volkskunde wurde aus einem Fach des Sammelns
ein solches des historischen Verstehens, die Religionswissenschaft
überwand ihr Stadium der Völkerpsychologie.

Dazu kommen Dinge, die ebenso in der Zeit wie im Persönlichen
wurzeln. Es war für Heusler der einzig wahre Dienst am
Kunstwerk, es als selbständigen, in sich beruhenden Kosmos aufzufassen
und dem anonymen Dichter seine Schöpferpersönlichkeit
zu retten. Der Verf. des Rökbuches erlebt das Altertum mit dem
Staunen, welches den Anfang der Erkenntnis bildet, mit starkem
Gefühl für die Andersartigkeit der Vorzeit und erfaßt von den
Aporien und Paradoxen, die sich zwischen der alteuropäischen
und der modernen Kultur auftürmen, obwohl sie wie Väter und
Söhne zusammengehören. Es ist nicht nur interessant, sondern
auch bedeutsam, daß nun eine Haltung, die letzten Endes von
Kierkegaard inauguriert scheint, Einfluß auf die Praxis einer Geisteswissenschaft
gewinnt und ihren Gegenstand, die von Jahrhundert
zu Jahrhundert mehr verebbende Vorzeit, in seiner Ganzheit
als etwas dem Bewußtsein Auferlegtes und zur Durchforschung
Aufgegebenes erlebt. Daß nur diese modernste Forscher
haltung imstande ist, der Altertumskunde einen Platz in der
Kultur und Bildung der Gegenwart zu geben, daran ist nidit zu
zweifeln. Daher sind denn mit diesem Rökbuch nicht nur die unmittelbar
interessierten Disziplinen der Germanistik und der
Skandinavistik, der Geschichte und Volkskunde, der Religionswissenschaft
und Soziologie angesprochen, sondern auch die Philosophen
und Psychologen, die sich um die Kulturentwicklung
bemühen. Das Buch ist mit der Verteilung des Stoffes auf Haupttext
und Anmerkungen so geschrieben, daß ein Nichtfachmann
durchaus in der Lage ist, „mitzukommen"; dem Mann vom Bau
aber bieten die Anmerkungen und, nicht zu vergessen, das große
Register einen willkommenen Wegweiser zur Literatur über ebenso
wichtige wie subtile Probleme.

Freiburg i. Br. Siegfried Outenbrunner

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Tann er, Fritz: Die Ehe im Pietismus. Zürich: Zwingli-Verlag [l")52|.
242 S. 8°. kart. DM 11.95.

Die Erforschung des Pietismus hat besonders durch Erich
Seeberg, Heinrich Bornkamm, Ernst Benz, Arnold Schleiff die hohe
sachliche und propädeutische Rolle des mystischen Spiritualismus
herausgearbeitet. Das wird auch durch die vorliegende Züricher
Dissertation bestätigt, die man als persönliche Leistung um so
mehr würdigen muß, als sie vom Verfasser, freiem christlichem
Eheberater in Zürich, der Blindheit abgerungen wurde. Sie verbindet
selbständige eigene Quellenarbeit mit der Zusammenfassung
von Ergebnissen früherer Forscher und gestaltet sie zu
einem eindrucksvollen Gesamtbild. Im ersten Teil (7—89) ..Die
Ehe als Problem der Separatisten" bietet T. die gnostischen Spekulationen
von der himmlischen Eva, vom androgynen Menschen,
vom Verlöbnis mit der himmlischen Sophia, von der weiblichen
Natur der Seele im Verhältnis zum Bräutigam Christus in der
Fassung dar, wie sie Valentin Weigel vorbereitete und Jakob
Böhme mit seinen Schülern, Gichtel an der Spitze, auf die Höhe
führte. Ihr Kern ist die Eifersucht zwischen göttlicher und irdischer
Liebe: Die Himmelsliebe erschließt sich nur dem Ehelosen, sie
hat daher die Entwertung der natürlichen Ehe als Ausgeburt der
fleischlichen ..Lustseuche" zur Folge und kann die Vereinigung
der Geschlechter nur als „viehische Schwängerung", bestenfalls
als Konzession an die Schwäche des Fleisches ansehen. Sie führt
zur Herabsetzung des Weibes, das nur als Gcschlechtswesen erscheint
. An diesem Punkte verschärfen die Separatisten nur die
Anschauung, die, mindestens geheim, in der gesamten kirchlichen
Tradition herrschte (34 ff.). Die breite barocke Ausmalung der
erotischen Bilder im Christusverhältnis, die besonders Gottfried
Arnold an Hand des Hohen Liedes mit dichterischer Sprachge-