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Ausgabe:

1954 Nr. 4

Spalte:

213-236

Autor/Hrsg.:

Gloege, Gerhard

Titel/Untertitel:

Offenbarung und Überlieferung 1954

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213 Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 4 214

Abba

Von J. Jeremias, Güttingen1

Die gemeinorientalische Vorstellung, daß die Gottheit der
Vater der Menschen oder bestimmter Menschen ist, wird im AT
benutzt, um die Erwählungsgewißheit Israels zum Ausdruck zu
bringen; trotz seiner Verschuldungen weiß sich das Gottesvolk
umfangen von der väterlichen Liebe Gottes. Im palästinischen Judentum
der vorchristlichen Zeit ist die Bezeichnung Gottes als
Vater nur ganz vereinzelt bezeugt. Vom 1. Jhdt. n. Chr. ab mehren
sich die Belege; es taucht jetzt die Wendung „himmlischer
Vater" auf, die sich rasch einbürgert. Neu ist im palästinischen
Judentum der neutestamentlichen Zeit gegenüber dem AT l) daß
Gott gelegentlich als der Vater des Einzelnen bezeichnet wird und
2) daß Gott als Vater angeredet wird, und zwar in der plurali-
schcn Form ,, unser Vater". Für die Anrede Gottes mit ,,mein
Vater" gibt es in der jüdisch-palästinischen Literatur bis zum Mittelalter
keinen Beleg'"'. Wohl aber hat Jesus Gott in seinen Gebeten
mit „mein Vater" angeredet; er tut es in allen von ihm überlieferten
Gebeten (Ausnahme nur: Mk. 15,34 par.), und zwar
verwendet er dabei die aramäische Form 'abba. Dieses 'abba ist
nicht ein als Vokativ benutzter Status emphaticus, sondern eine
der Kindersprache entstammende Diminutivform. Es ist beispiellos
, daß Jesus diese Alltagsanrede auf Gott anzuwenden wagt
und daß er auch seinen Jüngern den Gebrauch dieser Gottesanrede
erlaubt. Sic scheint sich im aramäisch-syrischen Sprachgebiet zeitweilig
eingebürgert zu haben, erlischt jedoch auf griechischem
Sprachgebiet bereits im 1. Jhdt. n. Chr.

Wollen wir versuchen, die Wurzel dieses völlig neuen
Sprachgebrauchs aufzudecken, so müssen wir uns den übrigen

') Dos Referat soll als Heft erscheinen.

2) LXX Sir. 23, 1. 4. beruht höchstwahrscheinlich auf einer Fehlübersetzung
.

Worten Jesu zuwenden. Die landläufige Meinung, daß Jesus häufig
von Gott als dem Vater geredet habe, ja daß die Verwendung
dieser Metonymie ein Hauptkennzeichen seiner Verkündigung
sei, hält der Nachprüfung nicht stand. Dagegen spricht schon
die auffällige Spärlichkeit der Belege bei Markus, in den Matthäus
und Lukas gemeinsamen Logien und im Lukas-Sondergut.
Es kommt hinzu, daß das vorpaulinische hellenistische Christentum
die Vaterbezeichnung für Gott zwar reichlich verwendet,
aber durchweg in liturgischen Formeln, die — bis auf den Gebetsruf
'abba Gal. 4, 6; Rom. 8, 15 — an Formeln des hellenistischen
Judentums anknüpfen. Metonymie für Gott ist das Wort
Vater weder hier noch bei Paulus, sondern erst bei Matthäus und
Johannes. Jesus selbst hat also den Vaternamen nur selten
und mit größter Zurückhaltung auf Gott angewendet'. Wie erklärt
sich diese Zurückhaltung Jesu? Zur Beantwortung dieser
Frage hilft die Untersuchung seines Sprachgebrauchs. Er redet von
Gott l) in Anknüpfung an den Sprachgebrauch des palästinischen
Judentums als „euer Vater", 2) als „mein Vater", wobeier das
aramäische 'abba gebraucht. Dieser letztgenannte Sprachgebrauch
ist wiederum ohne Analogie4. Seinen Sinn erschließt eine Analyse
von Mth. 11,27 par. Lk. 10,22 (einem Logion von ausgesprochen
semitisierendem Sprachcharakter) als christologisch. Das
heißt: das Wort 'abba ist wichtigstes Kennzeichen der esoterischen
Botschaft Jesu.

') T. W. Manson, The Teadiing of Jesus, Cambridge 1935
(= 1948) 101.

4) Das zweimal in tannaitischen Quellen bezeugte „mein himmlischer
Vater" (Siphra Lev. 20,26; Mekh. Ex. 20,6) unterscheidet sich
sowohl formal (durch den Zusatz „himmlisch") wie sprachlich (hebr.
'abhi, nicht aram. 'abba) und inhaltlich (genereller Sinn) von Jesu Redeweise
.

Offenbarung und Überlieferung

Von Gerhard G 1 o e g e, Jena

Unser Thema stellt uns die Aufgabe, das Verhältnis von
Offenbarung und Überlieferung zu klären. Angesichts der Fülle
des Stoffes wie der Tiefe seiner Problematik läge es näher, jeden
Begriff einzeln zu behandeln. Warum dies hier nicht geschieht,
warum vielmehr beide Begriffe aufeinander bezogen werden, warum
also die Erwartung erweckt wird, sie könnten sich u. LI. irgendwie
wechsebeitig verdeutlichen oder sogar auslegen — dafür muß
die Darstellung selbst die Berechtigung erbringen.

Hinter den Begriffen stehen Wirklichkeiten, deren
Fragwürdigkeit in den letzten anderthalb Jahrhunderten — spätestens
seit Hegel — die wachen Geister, über die Grenzen des
..Faches" hinaus, in Atem hielt: die spezifisch abendländische Problematik
des Historismus, der nach dem „Sinn" der Geschichte
fragte. „Vernunft und Wirklichkeit" - sind sie miteinander ver-
rechenbar? Wenn ja, nach welcher Gültigkeitsregel? Wie ist Vergangenheit
zu bewältigen? Wie ist Zukunft zu gestalten?1

Der gegenwärtigen Philosophie stellt sich das Problem als die
Frage nach dem Traditions -Verlust und seiner Überwindung.
Karl Jaspers meint, aus dem „philosophischen Glauben" heraus
„in der Vergegenwärtigurig des Umgreifenden" dem Zerfall der
Normen produktiv begegnen zu können. „Wir kommen durch den
Nihilismus hindurch zur Aneignung der Überlieferung"2. Gerhard
Krüger'1 sieht tiefer: unser Zusammenhang zur Antike ist „nur"
ein genetischer, also kein traditioneller. Das historische Bewußt-

■) Zum Historischen vgl. K. Löwith; Von Hegel zu Nietzsche.
Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jhdts. Marx und Kierkegaard
.3 (1953).

') K. Jaspers: Der philosophische Glaube (1948), 128 f.

a) G.Krüger: Geschichte und Tradition (1948). Ders.: Die
Bedeutung der Tradition für die philosophische Forschung, in: Studium
Generale IV (1951), H. 6, 321-328.

sein hat die Überlieferung verdrängt. Historische Kenntnis ist der
Gegensatz zur Tradition. Ursächliche Nachwirkung oder Abhängigkeit
bestätigt nur, „daß wir die Tradition verloren haben". „Seitdem
man — seit der Romantik — .konservativ' von Tradition
spricht, ,hat' man sie nicht mehr"1.

Diese Diagnose läßt uns aufhorchen. Haben wir uns nicht verhört
? Traditions-Verlust? Ist das unsere Aporie? Leiden w i r
nicht an einem Übermaß von Überlieferung? Oder sollte dieses
Übermaß etwa nur die Maske des Schwundes an echter Überlieferung
sein? Und: sollte unser theologisches Wissen über Überlieferung
etwa das Leben „in" Überlieferung ersetzt haben?

Welche Lösung sieht Krüger? „Primär historisch" sei die Verlegenheit
nicht zu lösen, wohl aber „primär sachlich": mit einer
„theologisch begründeten Ontologie" stehe man bereits „in der
Tradition"'. — Kann das unser Weg sein? Idi meine: nein! Es ist
zwar der wesensmäßig philosophische Weg. Aber die Theologie
muß „primär historisch" verfahren. Um des ihr eigentümlichen Gegenstandes
willen ist ihr primär historisches Verfahren zugleich
„primär sachlich". Freilich ist sie vor jeder Philosophie insofern
unverdient bevorzugt, als sie sich ihre „klassische Zeit", ihr Kriterium
nicht erst zu suchen braucht: es ist ihr vor-gegeben.

Unsere Überlegung gliedert sich in drei Teile: Wir nehmen
(I) unseren Ausgang von einer kontrovers-theologisch begründeten
dogmatischen Fragestellung. Wir suchen sodann (II) diese Fragestellung
an den historisch gewonnenen Grundaussagen des AT und
NT kritisch zu überprüfen. Wir versuchen schließlich (III) den Ertrag
dieser Kritik systematisch soweit zu entfalten, daß zumindest
die Richtung sichtbar wird, aus der sinnvolle Antworten auf die
in unserem Thema beschlossenen Grundfragen zu erwarten sind.

') Stud. Gen. IV, 6: 323a und 325b.
') Stud. Gen. IV, 6: 327b.