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Ausgabe:

1954 Nr. 4

Spalte:

199-212

Autor/Hrsg.:

Baumgärtel, Friedrich

Titel/Untertitel:

Das hermeneutische Problem des Alten Testaments 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 4

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und seine Teilnahme. Sie benötigt sein Urteil und seinen Rat, wenn
sie einen Beitrag zur Orientierung der Kirche leisten soll. Die
Theologie der Kirche orientiert sich selbst am Denken des Nicht-
theologen, sie fragt nach seinen Zweifeln und nach deren Gründen
, sie fragt nach seinen Ansichten und Anfechtungen. Sie kommt
nicht nur in ein fruchtbares Gespräch mit ihm, sondern sie ist zugleich
der „Anwalt des Laien in der Kirche".

Ob eine Kirchenleitung dem Recht geben wird? Wird sie nicht
vielmehr geneigt sein, darauf hinzuweisen, daß sie selbst ihrerseits
die Theologie oftmals an die Gemeinde und an ihre tiefsten Bedürfnisse
erinnern mußte? Wie oft hat nicht die verantwortliche
Instanz der Kirche schwer daran getragen, daß die Theologie sich
vom Leben der Gemeinde entfernte? Ist nicht gerade die Kirchenleitung
der Theologie gegenüber oftmals der „Anwalt der Gemeinde
" gewesen?

Der Gegensatz läßt sich doch nur dadurch lösen, daß beide
Teile recht haben. Das bedeutet aber dann nicht, daß wir gegen-
einanderstehen, sondern daß wir zusammengehören. Es mögen
zwischen Theologie und Kirche (die doch nicht getrennt werden
können) Spannungen unvermeidlich sein. Sie machen doch nur den
Reichtum der Kirche aus und weisen uns an das alltägliche Wunder
der Fürsorge Gottes. In unseren Bemühungen wie in unseren Verwirrungen
erfahren wir täglich, wie Gott seine Kirche erhält und
auch vor Langeweile bewahrt.

Darum wollen und müssen wir auch eins bleiben in allen
Spannungen, eins in der gemeinsamen Bitte, die der größte Theologe
des Mittelalters über sein Hauptwerk geschrieben hat: „Gewähre
mir, ich bitte, barmherziger Gott, das, was dir gefällig ist,
brennend zu begehren, klug zu erforschen, wahrhaft zu erkennen
und vollkommen auszuführen zum Lobe deines Namens."

Das hermeneutische Problem des Alten Testaments

Von Friedrich Baumgärte 1, Erlangen1
Im Folgenden sollen die hier voraufgestellten Thesen , Als evangelisches Wort kann es die Mächtigkeit am evangelischen

entfaltet werden:

l) Das schlichte christliche Verstehen des Alten Testaments
basiert auf einem Vorverständnis. Der Christ versteht aus seinem
Ergriffensein durch das Evangelium von Jesus Christus das Alte
Testament als Zeugnis von Jesus Christus. Nur mit und in die

Menschen nicht haben, denn es ist nicht das evangelische Wort.
Und alttestamentlicb.es Wort ist es in seiner religionsgeschichtlichen
Bedingtheit und in seiner Mächtigkeit am alttestamentli-
chen Menschen in seinem Selbstverständnis. Nur als in diesem
Sinne alttestamentliches Wort, nur als das Zeugnis außerhalb
sem Vorverständnis ist für den evangelischen Glauben die Äffini- I des Evangeliums, kann es für uns Zeugnis vom Evangelium sein,
tät zum alttestamentlichen Zeugnis im Sinne des wirkenden Ge- j Mlt der einzuschlagenden Verstehensmethode muß durchsicht.g
genwärtigwerdens des alttestamentlichen Worts gegeben. Ohne j gemacht werden können, daß das alttestamentliche Zeugnis, also

die Einbringung dieses evangelischen Vorverständnisses bleibt der
Christ im bloßen Anschauen der wirkenden Mächtigkeit des alttestamentlichen
Worts, das dieses am alttestamentlichen Menschen
sehr wohl hat, der sehr wohl „versteht" d. h. an dem das
alttestamentliche Wort einst sehr wohl mächtig gewesen ist. Sein | Zu These 1.
Verstehen war aber a 11 testamentlich, außerhalb des Evangeliums
und deshalb nicht unser Verstehen d. h. unser Ergriffensein
durch das alttestamentliche Zeugnis.

2) Das theologische Verstehen ist grundsätzlich das soeben
gekennzeichnete christliche Verstehen überhaupt, es geschieht
von dem genannten Vorverständnis her. Theologisch ist es insofern
, als es als methodisch-systematisches Verstehen die Gültigkeit
des Verstehens gewährleisten will. Die Theologie ist gehalten
, eine Methode, also ein hermeneutisches Prinzip zu entwik-
keln, um das schlichte Verstehen des Christen aus der persona-
listischen Singularität mit all ihren Irrmöglichkeiten und Subjektivismen
in das gemeindliche, gültige Verstehen überzuleiten und
um sektiererische Willkür abzuriegeln. Bei der Erarbeitung der
hermeneutischen Methode sind die Grundsätze des allgemeinen
wissenschaftlichen Verstehens maßgebend.

3) Für das Verstehen ist nicht eliminierbar die religionsge-

das Zeugnis von außerhalb des Evangeliums in seinem Selbstverständnis
, Mächtigkeit hat am alttestamentlichen und am evangelischen
Menschen zugleich.

Der Christ, dessen Herz im Glauben offen ist in andächtiger
Hingabe an das Wort der heiligen Schrift, wird beim Anhören
von Jes. 6 unter dem anbetenden „Heilig, heilig, heilig ist
der Herr Zebaoth" ehrfürchtig sich neigen, er wird die Hände
falten, er wird in seinem Herzen mit anbeten. Gott ist gegenwärtig
. Und im Erspüren der Gegenwärtigkeit des heiligen Gottes
kann es wohl leicht geschehen, daß er mit dem Propheten zusammen
in die Knie sinkt: weh mir, ich bin verloren. Und aus
solcher Verlorenheit im Angesicht der majestas Gottes drängen
sich uns dann wohl die Worte des Psalmisten auf unsere eigenen
Lippen: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen
neuen gewissen Geist, verwirf mich nicht vor deinem Angesicht
(Ps. 51).

Was da soeben gezeichnet wurde, ist keine Phantastik, das
ist auch kein Theologumenon, wir wissen alle: solches geschieht
. Der schlichteste Christ kann es bezeugen. Aber was
schichtliche Tatsache, daß das Alte Testament Zeugnis aus einer j geschieht hier? Es vollzieht sich etwas an dem Menschen, der im
nichtchristlichen Religion ist, deren Selbstverständnis sich mit j Beteiligtsein seines ganzen Selbst hinhört. Das Wort der Schrift

dem evangelischen Vorverständnis nicht deckt (obwohl unter dem
evangelischen Vorverständnis die Affinität erfahren wird). Das
eben macht den Charakter des Alten Testaments als des Alten
aus, daß sein Zeugnis nicht aus dem Evangelium kommt. Das eben
bewirkt die Notwendigkeit und die Aufgabe des hermeneutischen
Fragens heute: inwiefern es für den evangelischen Glauben
im Erfahren dieses sich-nicht-Deckens und der Affinität in einem
zum Ergriffenwerden durch das alttestamentliche Zeugnis als
durch das „Wort Gottes" kommt.

4) Das alttestamentliche Wort ist wirkendes Gotteswort,
ist Kraft Gottes am alttestamentlichen und am neutestamentlichen
Menschen zugleich. Dabei kann es am evangelischen Menschen
nur Mächtigkeit haben als alt testamentliches Wort, also
als das Zeugnis, das religionsgeschichtlich bedingt ist, das in seinem
Selbstverständnis sich außerhalb des Evangeliums bewegt.

') Dieser auf dem Theologentag in Berlin am 4. Januar 19 54 ge-

hat Mächtigkeit an ihm. Aber diese Mächtigkeit vollzieht sich
nur am glaubenden Menschen d. h. an dem, der sich im
vertrauenden Gegenüber zu dem weiß, den er als den Heiligen
glaubt. So wird das Wort der Schrift als wirkend, als heiligend,
als „Wort Gottes" erfahren im und aus Glauben. Ganz im Sinne
von Rö. 1,16: das Evangelium ist eine Gotteskraft, die jedem,
der da glaubt, die Rettung bringt. Der glaubende Hörer gerät
unter dem Wort des Alten Testaments in ein Macht- und Kraftfeld
.

Man kann nicht einwenden, das sei keine überzeugende Argumentation
, weil etwa ein Gedicht oder ein Musikwerk genau
so in Bann schlagen kann'. Ein Gedicht „genießt" nicht jeder, der
es hört. Es gibt Nüchterne, die ästhetisches Empfinden für kindliche
Sentimentalität halten. Und ein unmusikalischer Mensch gerät
niemals in den Bann einer musikalischen Komposition. Er hört

3) Soldler Einwand bei H. W. Hertzberg, Ist Exegese theologisch

haltene Vortrag wird hier in verkürzter und mannigfach modifizierter j möglich?, Beilage der kirch.-theol. Halbmonatsschr. „Für Arbeit und
Fassung dargeboten. Besinnung", Flensburg-Kiel, 5. Jahrg., 1952, Nr. 11.