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Ausgabe:

1954 Nr. 3

Spalte:

184-185

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Fritzsche, Hans-Georg

Titel/Untertitel:

Sätze an sich und gedachte Sätze 1954

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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183

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 3

184

Im 1. Teil der Untersuchung wird der Entstehung und Wandlung
der ökumenischen Gedanken und Pläne Franckes nachgegangen, die in
seinem ausgedehnten Verkehr mit Staatsmännern und Theologen verschiedener
Länder greifbar werden, nicht zuletzt auch im Gedankenaustausch
mit Leibniz, dem er in der gleichen überquellenden Produktivität
großer konstruktiver Projekte zur weitgehenden Beseitigung der
religiösen und sozialen Notstände auf der Erde merkwürdig nahe steht.
Die ,,nicht-theologischen" bzw. „nicht-kirchlichen Faktoren", die Lust
an barocken Plänen, die ganze beschwingte Fortschrittsstimmung des aufstrebenden
Bürgertums in der frühen Aufklärung, das Bewußtsein, in
den Stiftungen das von Gott erkorene Kraftzentrum und die tragende
Mitte einer weitstrahlenden Erneuerungsbewegung zu besitzen, dürfen
bei der Kennzeichnung der Eigenart in der ökumenischen Gedankenwelt
Franckes nicht übersehen werden.

Im 2. Teil wird sein Ringen um die Gestaltwerdung der ökumenischen
Gemeinsdiaften gezeigt, die sich nur mit führenden Kreisen
der Kirche von England wie der lutherischen Staatskirche von Dänemark
-Norwegen realisieren, während die Rußland- und Orientverbindungen
zurücktreten. Das erste gemeinsame Werk ist unter Führung
Halles die beginnende Missionierung Indiens. Francke nimmt sich dann
aber auch stellvertretend der kirchlichen Not der nach Pennsylvanien
ausgewanderten Pfälzer an und schafft die Grundvoraussetzungen zur
Entstehung der deutschen lutherischen Kirche in Nordamerika. Auch dabei
unterstützen ihn Erweckungskräfte innerhalb der Kirche von England.
Francke versteht es, eine erdrückende pietistische Atmosphäre zu vermeiden
und Spielraum zu geben.

Unter Mitauswertung der neu aufgefundenen Tagebücher Franckes
wird im 3. Teil die Rückwirkung seiner ökumenischen Arbeit auf
Deutschland verfolgt. Auch Zinzendorfs grundlegende ökumenische
Gedanken finden sich bereits im Halleschen Pietismus. So steht auch
die zweite große Welle einer ökumenischen Erweckung in unlöslichem
geistigen Zusammenhang mit Halle. An Hand bisher unbekannter
Adressenkalender kann deutlich gemacht werden, daß nach dem Tod
von Franckes Sohn, der die ökumenische Arbeit seines Vaters im verstärkten
Umfang weitergeführt hat, die Deutsche Christentumsgesellschaft
zur rechten Stunde nicht mehr tut, als in der Form von Loknl-
pesellsdiaften die verwaisten, über ganz Deutschland verstreuten
Halleschen Freundeskreise zu übernehmen. Basel bzw. der mit Hnlle
immer schon befreundete süddeutsche Pietismus wachsen in abgewandelter
Form in die ökumenische Aufeabe hinein, die erst Halle besessen
hat. Die geschichtliche Kontinuität ist gewahrt.

Zuletzt erfährt die Eigenart der ökumenisdien Arbeit Franckes
eine zusammenfassende Bewertung. Überraschend wirkt in Franckes
ökumenischer Arbeit sein klares Bekenntnis zum Luthertum und seine
strikte Ablehnung gegenüber jedem „konfessionellen Synkretismus".
Tatsächlich kommt es zur Begründung von zwei bewußt lutherischen
Kirchen in Ostindien und Nordamerika. Und doch drängen Franckes
Konzeption einer Universalkirche, seine Lehre vom heiligen Geist mit
ihrer unklaren Grenze zum Geisteschristentum der frei schwebenden
Inspiration, aber auch sein Verständnis der Kirche ungewollt über die
lutherische Grundkonzeption hinaus. Francke lebt unruhevoll in der
eigenen lutherischen Kirche und in der geglaubten und bekannten Universalkirche
. Das gibt seinem ökumenischen Wollen in seiner frühaufklärerischen
Stimmungslage eine eigene unwiederholbare Wirkung und
Bedeutung in der Geschichte der ökumenischen Bewegung.

Niederstrasser, Heinz, Dr. theol.: Weltteilhabe und Menschwerdung
. — Über Größe und Grenzen der „Nachforschungen" J. H.
Pestalozzis hinsichtlich ihrer Voraussetzungen für seine Sozial- und
Religionspädagosjik und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Habil.
Schrift Berlin 1951, 342 S.

A. „Die Gegenwart vor P.s Werk." — In den Jahren zwischen
Pestalozzi- und Goethe-Jubiläum 1946—1949 gewachsen, widmet sich
die Arbeit P.s grundlegender Bekenntnisschrift: „Meine Nachforschungen
über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts"
(1797), in der er, getrieben von der Leidenschaft am unerlösten Leben,
unter dem Eindruck der Französischen und am Vorabend der Schweizer
Revolution nach der Wesentlichkeit des Menschen in der Welt fragt
und zugleich die anthropologisdie Häresie der letzten 150 Jahre enthüllt
.

B. I. „Die Problematik der .Nachforschungen' ". — 1. Der Aufriß
der N. (auf Grund von E. Sprangers Analyse) bietet deren Lehre von den
3 „Zuständen" des Menschen. P.s Ziel gemäß dem „Gang der Natur in
der Entwicklung des Menschengeschlechts" vom „tierischen" Naturzustand
der Anomie über den „gesellschaftlichen" der Heteronomie ist das
Reich der Freiheit im „sittlichen" Zustand der Autonomie. — Der
2. Abschnitt behandelt das Thema „Weltteilhabe und Menschwerdung"
— a) als politisches, b) als ökonomisches, c) als ethisches Problem. —
Der Kampf um die „Monopolien der Naturfreiheit" ist nach P. das

Element des „Duodez"-menschen unter dem treu- und rechtlosen Walten
des „Tiersinns der Macht" (Politik, Religion) sowie der Dramatik
der Geschichte der gesellschaftlichen Menschenexistenz. „In der Weihe
der Tierkraft, die die entheiligte Macht angebetet, ist der Erdkreis verwildert
" (P.). Unter den sich verschärfenden sozialen Gegensätzen verteidigt
P. als Anwalt der proletarischen Habenichtse, „die keinen Teil
an der Welt haben", den Maßstab für Frieden und Freiheit menschenwürdigen
Lebens im sozialen Staat: Übergewicht von Recht über Gewalt
, Wohlwollen über Selbstsucht, Teilhabe und -nähme über Begehren.
Gegenüber Rousseaus geschichtsphilosophischer Kulturkritik und natur-
idealistisch-undialektischcm Menschen- und Geschichtsverständnis vertritt
er im Gefolge Goethes eine nach vorwärts grenzüberschreitende
Ethik des autonomen Menschen (Kant, Fichte) mittels unertötet gebliebener
Seelenkräfte eines „göttlichen Funkens" (Leibniz, Spinoza), die
die kämpferisch-aufbauende Arbeit am „verschütteten Selbst" in Richtung
auf Selbstvervollkommnung und -Verwirklichung (Menschwerdung)
dem Ideal nähern: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!"

B. II. „P.s Lösungsversuch in seiner Bedeutung für den Menschen
in dieser Welt." — Der 1. Abschnitt über „Philosophie und Politik"
unternimmt im Anschluß an P.s Definition seiner N. als „Philosophie
meiner Politik" eine prinzipielle Untersuchung der Verbindungen und
Lebensgesetze von Philosophie als begründendem und richtendem, und
Politik als begründetem und gerichtetem Prozeßhandeln vom Blickpunkt
der Macht und Politik Erleidenden. — Die Darstellung über (2.) „Psychologie
und Pathologie der Macht" zielt auf die Vertretung echter
Politik als angewandter Liebe gegen die Totalverstaatlidiung des Menschen
für die Vermenschlichung des Staates. — Mit dem Thema (3.) „Humanismus
und Sozialismus" erscheint P. als einer der ersten Vertreter
eines vormarxistischen humanistisch-personalistisch-ethisch-religiösen Sozialismus
als Integrationszusammenhang und -System des gesellschaftlichen
Lebens (Wcltteilhabe). — Ein (4.) Teil über „Konservativismus und Revolution
" berührt P.s Erkenntnis des sozialistischen Motivs und der Gefahren
der Revolution und stellt ihn in aktuelle Nähe zu der Problematik
von Glaube und Vernunft, Kirche und Staat (K. Barth, Fr. Lieb). — Der
letzte Abschnitt über 5. „Ethischer Idealismus und Realismus" macht
den idealistischen Eros und das realistische Ethos als die zwei Kräfte in
P.s Existenzphilosophie der Erinnerung, Sehnsucht und Hoffnung (Co-
menius. Rousseau, Goethe) und seinem menschheitspädagogischen Glauben
und Wirken im „Kot der Welt" deutlich. —

C. „P.s Nachforschungen und das Evangelium". — Antike Philosophie
, „natürliche" Theologie, säkularisiertes Christentum aufklärerischer
Vermögenspsychologie und kulturprotestantischer Bildungsideologie
durchweben P.s „Christentum und Leben", die mit ihrem Autonomie
-, Analogie-, Identitäts- und Immanenzdenken, intellektualisti-
schen Optimismus, natural-moralistischen Maximalismus auf dem Grunde
eines hoministischen Jesuanismus seine theio (!) -anthropozentrische Religion
innerhalb der Grenzen der Humanität und der Gefahrenzone der
Wortwerdung des Fleisches bezeugen. — Die Arbeit schließt mit einem
Bekenntnis zur II. Barmcr These.

Auf ausdrücklichen Wunsch der Verfasser bzw. der die Dissertationen
in den betr. Fakultäten betreuenden Referenten werden anhangsweise
einige Referate über nichttheologische Dissertationen veröffentlicht:

Fritzsche, Hans-Georg: Sätze an sich und gedachte Sätze. Phil. Diss.
Berlin 19 52.

Der Grundgedanke der Diss. besteht darin, daß die Form des Urteils
„S ist P" wohl in ihrem Ursinn als Form der Prämisse im Schlußschema
, aber nicht (hiervon losgelöst) als Form der kleinsten Sinneinheit,
als logische Form der Erkenntnis, berechtigt ist. Vielmehr wird als diese
(den „gedachten Satz") eine Gleichung entwickelt, die auf der einen
Seite das für möglich Gehaltene und auf der anderen Seite die Summe
des Verwirklichten und des Nicht-Verwirklichten enthält. — Ein logischer
Unterschied besteht zwischen dem Satz an sich (dem Lirteil =
der Prämisse) und dem gedachten Satz (= der logischen Form der Erkenntnis
) insofern, als jeder Satz, sobald er gedacht = benutzt wird,
einen Akzent oder Intentionssinn erhält, der unabhängig vom Sachverhaltssinn
differieren sowie wahr oder falsch sein kann, und dessen
wachsende Ignorierung in der neueren Logik dahin geführt hat, daß
die Fülle von Erscheinungen, die man als „halbe Wahrheiten" kennt,
überhaupt nicht mehr als Problem der Logik empfunden werden (wie
es sachliche statt traditionalistische Treue zu Aristoteles erfordern
würde). Nicht (primär) eine formale „Synthese" zwischen „Logizismus"
und dem (logischen) Psychologismus, sondern die konkrete Situation
auf dem Felde der „Wahrheitssicherung" erfordert heute eine Neubearbeitung
der Subjektseite, wie sie (vornehmlich) im 1. Teil der Diss.
in der Urteils- und Definitionslehre versucht wird; und im 2. Teil insofern
in der Systemlehrc, als die Frage nach dem „Ort" des „Standpunktes
" in den Geisteswissenschaften gestellt wird. Es geht hier um
den Nachweis, daß die Gegenüberstellung von standpunktgebunden-