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Ausgabe:

1953 Nr. 2

Spalte:

99-101

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jeremias, Joachim

Titel/Untertitel:

Unbekannte Jesusworte 1953

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 2

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weithin verbreiteten dialektischen Gedanken" bezeichnet, macht
sich der Verf. auch die Kritik an Barth zu leicht, da jenes Programm
(der irrtumslose Luthertext) ja nun in der Tat „fast allgemein
abgelehnt" wird (S. 67). Im Blick auf solche Schwächen
der Berichterstattung — die durch die Fülle der berücksichtigten
Literatur nicht aufgewogen werden — kann diese Schrift leider
nicht als gute Einführung in den Stand der gegenwärtigen herme-
neutischen Diskussion gelten.

Übrigens wird man, wenn man Torms Namen erwähnt, doch wohl
angeben müssen, daß er Däne ist, und sollte nicht ausgerechnet hier
nur auf die „deutsche hermeneutische Besinnung" Bezug nehmen
(S. 57).

Der II. Teil wird abgeschlossen mit der Berichterstattung
über E. Reisners merkwürdige Schrift „Offenbarungsglaube und
historische Wissenschaft" (1947) und über einen gleichzeitigen
Aufsatz P. Brunneis über Gebundenheit und Freiheit der theologischen
Wissenschaft: beide möchten die „Fehlentwicklung" seit
der Aufklärung korrigieren — und in dieser Richtung gehen nun
auch des Verf. eigene Gedanken, die er zunächst im Teil III als
„Schlußfolgerungen aus der bisherigen Diskussion" und im
Teil IV als „Anforderungen, die das NT an seine Leser stellt",
entfaltet: Dem Wesen des „theologischen Verstehens und Betrach-
tens" entspricht nicht die Haltung des beurteilenden Lehrers,
sondern allein die des „wißbegierigen Schülers" (S. 78). Dieser
Schüler muß nun den richtigen „Standpunkt" haben, um die Schrift
in der richtigen Perspektive zu sehen (S. 81). Dies Problem sucht
Verf. dadurch zu lösen, daß er fragt, welchen Einfluß das NT
„auf die noetischen Vorgänge im Menschen" ausübt (S. 82). Das
Erkennen wird hier zu einem Erkanntwerden (S. 84 f). Ist diese
theologisch richtige Einsicht aber auch schon ausreichend, um
eine besondere Hermeneutik für die Bibel zu beanspruchen? Es
handelt sich doch bei jenem Erkanntwerden um eine Tat Gottes!
Müssen wir annehmen, daß Gott durch jedes Schriftwort an uns
in gleicher Weise handelt? Verf. umgeht diese Frage via nega-
tionis: wenn das Evangelium nicht mehr als Torheit (im Sinne
von 1. Kor. 1,18) wirkt, „so ist es nicht mehr das legitime
Evangelium" (S. 86). Verf. denkt offenbar an die paulinische
Rechtfertigungslehre (S. 87). Die Frage, wie diese sich zu den
anderen Formen der neutestamentlichen Botschaft verhält, wird
aber wieder nur via negationis beantwortet: das ganze N.T.
kämpft gegen falsche Verkündigung (S. 92). Dies ist offensichtlich
ein rein formales Kriterium. Die Weigerung, das Kerygma
auch seinem Inhalt nach kritisch innerhalb des NT zur Geltung
zu bringen, führt zwangsläufig in die Nähe des katholischen
Schriftverständnisses, dem es allein auf die Apostolizität der einzelnen
Schriften ankommt: „Sogar für Paulus war es notwendig
(Gal. 2, 2), die Zustimmung der Urapostel für sein Evangelium
zu erlangen" (S. 93). Muß nicht der vorher auf S. 92 zitierte
Satz aus Gal. 1, 8 gerade in seinem Gegensatz zum Petrinismus
verstanden werden? Kann man wirklich die Unterschiede innerhalb
des NT so verschleiern? Soll so die „vom Rationalismus
herkommende Auslegungsart" überwunden werden (S. 97)? Als
einen Schritt nach Vorwärts wird man dieses Programm nicht
bezeichnen können?

Heidelberg W.Schweitzer

Jeremias, Joachim, Prof. D. Dr.: Unbekannte Jesusworte. Gütersloh:
Bertelsmann [1951]. (Neu bearb. Lizenzausg. d. Zwingli-Verl., Zürich).
98 S. gr. 8° = Beiträge zur Förderung christl. Theologie, begr. v. A.
Schlatter, hrsg. v. P. Althaus u. J.Jeremias. 45. Bd., 2. H. kart.
DM 7.20.

1948 veröffentlichte J.Jeremias in der Reihe der „Abhandlungen
zur Theologie des Alten und Neuen Testaments" (Zwing-
li-Verlag, Zürich) eine Untersuchung über die außerhalb der kanonischen
Evangelien überlieferten Jesusworte, die in dieser Zeitschrift
nicht besprochen wurde (sowenig wie fast alle Hefte dieser
Reihe). Die hier anzuzeigende Neubearbeitung unterscheidet sich
von der 1. Auflage durch den Abdruck der Urtexte der ausführlich
besprochenen Stücke und durch zahlreiche Ergänzungen in den
Anmerkungen (Vervollständigung der Literaturbenutzung, neue
Belegstellen, vereinzelt auch einmal eine von der 1. Auflage abweichende
Beurteilung eines Textes). Dadurch baut das Buch noch
stärker als bisher auf einer wirklichen Zusammenfassung der gesamten
bisherigen Arbeit an den außerevangelischen Jesusworten

weiter. Denn die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht
, die Bemühung um die kritische Sichtung der Überlieferung
der außerevangelischen Jesusworte nicht nur fortzusetzen und das
wenige wirklich als alt erkennbare Gut herauszustellen, sondern
auch diese als alt erkannte Überlieferung zu interpretieren und auf
ihren Nutzen für das Verständnis Jesu bezw. der ältesten Jesusüberlieferung
zu befragen. Und darin liegt zweifellos ein großes
Verdienst dieser förderlichen Untersuchung.

J. bespricht in einem kürzeren ersten Teil (S. 9-35) den
„Stand der Forschung". Er erklärt, wie es überhaupt zu einer
außerkanonischen Jesusüberlieferung kommen konnte, bespricht
dann die Quellen, wobei bereits für zahlreiche außerevangelische
Jesusworte nachgewiesen wird, daß sie aufgrund der Art ihrer
Überlieferung oder ihres Inhalts nicht als zuverlässige Überlieferung
in Frage kommen können. Mit Recht scheidet dabei J. als
brauchbare Quellen für Jesusworte auch den Talmud und das Londoner
Evangelienfragment („Unknown Gospel") aus. Wenn abschließend
festgestellt wird, daß fast alle wertvollen versprengten
Jesusworte aus verloren gegangenen Evangelien stammen, so ist
das freilich nicht bewiesen. Sehr ausführlich wird dann aufgezeigt,
welche Tendenzen oder Motive zur Erfindung, Verfälschung oder
wenigstens Abänderung von Jesusworten geführt haben, wobei J.
aus der grundlegenden Sammlung von Ropes (1896) und den seither
bekannt gewordenen Texten zusammen 21 Jesusworte herausstellt
, die sich als alt erweisen „und den gleichen Anspruch auf
Echtheit erheben können wie die in unsern vier Evangelien überlieferten
Worte". Damit ist klargestellt, daß auch diejenigen Worte
als „geschichtlich wertvoll" herausgestellt werden sollen, die
johanneischen Charakter tragen; aber dadurch ist die Fragestellung
nach dem geschichtlichen Wert unscharf geworden, weil als „geschichtlich
wertvoll" dann auch jedes Wort bezeichnet werden muß,
das eindeutig auf Jesus zurückgeführt wird, aus alter Überlieferung
stammt und keine jenseits des Urchristentums liegenden Tendenzen
aufweist. Diese Unklarheit des Beeriffs „geschichtlich wertvoll
" muß dazu führen, daß man dem Urteil über die „Echtheit"
der einzelnen Worte mehrfach nicht folgen kann. Ein letzter Abschnitt
des ersten Teils fragt dann nach der „Bedeutung der versprengten
Herrenworte für die Evangelienforschung" und betont
mit Recht, daß die außerevangelischen Worte das Sünderevangelium
fast ganz vermissen lassen, so daß sich aus der Betrachtung
dieser Texte gerade der „einzigartige Wert unserer Evangelien"
erkennen läßt.

In einem umfangreicheren zweiten Teil (S. 36—93) sucht nun
J. die als alt herausgestellten 21 Worte genauer auf ihren historischen
Wert zu prüfen und dann sorgfältig auf ihren geschichtlichen
und bleibenden Sinn zu befragen. Er unterscheidet dabei
Jesusgeschichten, apokalyptische Worte, Worte über Jesu eigene
Wirksamkeit und über die Aufgabe der Jünger Jesu. Die Besprechung
des geschichtlichen Wertes der einzelnen Jesusworte bemüht
sich, die besonderen Umstände der Entstehung des einzelnen
Wortes aufzudecken, und die inhaltliche Erklärung stellt die
Sprüche in den Gesamtzusammenhang der Verkündigung Jesu
hinein. J. geht dabei mit äußerster Sorgfalt vor, und manches der
besprochenen Worte bekommt durch seine Ausführungen einen
lebendigen und überzeugenden Klang (Nr. 4 „Wer mir nahe ist,
ist dem Feuer nahe; wer mir fern ist, ist dem Reiche fern" will vor
leichtsinniger Nachfolge Jesu abschrecken; Nr. 18 „Erbittet euch
das Große, so wird Gott euch das Kleine hinzutun" fordert Gebet
um die Heilsgaben der Messiaszeit, nicht um Alltagsdinge;
Nr. 19 „Werdet tüchtige Wechsler" fordert scharfen Blick bei der
Scheidung der Menschen" u. s. w.). Gelegentlich läßt J. die Frage
des Alters mit Recht offen (etwa Nr. 10 die Klage Jesu über seinen
Mißerfolg, die eine Mischung von johanneischem und synoptischem
Stil zeigt und darum schwerlich als ganze alt sein kann),
und in einigen Fällen ist die Erklärung des Wortes auf alle Fälle
erwägenswert (z.B. Nr. 9 „Ich wähle mir die Trefflichsten aus;
die Trefflichsten sind jene, die mir mein himmlischer Vater gibt"
wird als Vorstufe des johanneischen Erwählungsgedankens gekennzeichnet
; und das Wort „Ihr habt den Lebendigen verstoßen,
der vor euch steht, und schwatzt von den Toten" (Nr. 11) wird
als Abwehr Jesu gegen den Vorwurf verstanden, er sei kein wiederkehrender
König der Vergangenheit).