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Ausgabe:

1953

Spalte:

91-92

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmidt, P. Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der Ursprung der Gottesidee. Bd. X. 3. Abt.: IV: Die asiatischen Hirtenvölker 1953

Rezensent:

Herrfahrdt, Heinrich

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„Judicatum" doch nicht ganz vollständig anerkannt worden seien
(so daß es selbst an diesem besonders trüben Punkt der Papstgeschichte
möglich erscheint, noch einmal die Weisheit des
apostolischen Stuhles zu bewundern!).

Sachlich finde ich in dem großen Werk nur eine wesentliche
Lücke, und diese betrifft die Person und das Schicksal des Nesto-
rios, der ja das Konzil von Chalkedon wahrscheinlich noch selbst
erlebt hat. Gewiß hat C a m e 1 o t in einem allgemeineren Aufsatz
(„De Nestorius ä Eutyches: l'opposition de deux christolo-
gies") auch die Christologie des Nestorius sachkundig erörtert —
aber unter ausgesprochener Nichtbeachtung der interessantesten
und wichtigsten Quelle, des späten „Liber Heraclidis". Die Feststellung
, daß dessen Auswertung in mancher Hinsicht schwierig
sei und daß die späte Äußerung u. U. als „Korrektur" der ursprünglichen
Position zu verstehen sei, kann ich schlechterdings
nicht als Entschuldigung gelten lassen. Als ob nicht gerade eine
Selbstkorrektur gegenüber allen gegnerischen Verleumdungen besonders
wertvoll sein müßte, um die letzten Motive seiner Theologie
aufzudecken! Es läßt sich kaum leugnen — und auch katholische
Forscher haben es gesehen —, daß Nestorius, der auch
menschlich viel sauberer erscheint als Kyrill, dogmatisch dem
Chalcedonense ganz nahe steht. Würde seine Theologie auch nur
mit halb so viel gutem Willen exegesiert wie die Kyrills, so wäre
er orthodox. Aber Nestorios bleibt nun einmal der verdammte
Ketzer, und Kyrill ist zum Heiligen der Kirche erklärt. Trotzdem
besteht Karl Müllers Urteil noch immer wortwörtlich
zu Recht:

,,Es gibt wohl in der ganzen Kirchengeschichte keinen zweiten
Fall derart. Der Mann, der eine Lehre vertritt, die der Hälfte der östlichen
Kirche eigen war, der in der Formel, auf die sich schließlidi
beide Parteien vereinigt haben, und nicht minder in der, die durch den
herrischen Willen Roms zuletzt im Osten maßgebend geworden ist,
seine eigene Anschauung sehen konnte, dieser Mann wird trotzdem zum
sdilimmstcn Ketzer gestempelt, weil ein machthungriger Bischof, dem
er gefährlich werden konnte, seine Lehre entstellt, durch diese Entstellung
das verständnislose Rom, durch Bestechungen und die Demagogie
des Mönditums den Kaiser gewinnt und weil schließlich seine
eigenen Freunde zu feige sind, dem kaiserlichen Willen zu trotzen,

und durch den Verrat an ihrem Freund und Gesinnungsgenossen sich
ihre Stellung sichern wollen!" Ich denke, auch dieses Kapitel gehört
zu Chalkedon — in „Geschichte und Gegenwart"!

Eine andere, allgemeine Schwäche, die m. E. vielen Beiträgen
und dem ganzen Bande ein wenig anhaftet, wurde schon berührt:
durch die geringe Beachtung, die den kirchenpolitischen und
politischen Zusammenhängen geschenkt wird, bleibt der Gesamteindruck
etwas blaß. Es fehlt die Berücksichtigung der Geschichte
und auch der allgemeinen Geistesgeschichte, in der sich die dogmatischen
Entscheidungen vollziehen. Ich meine das nicht in
dem Sinne, daß die theologischen Gesichtspunkte zurückgedrängt,
die kirchlichen Entscheidungen als solche nicht mehr ernst genommen
werden sollten. Aber man sollte die Bekenntnisge-
I schichte gegenüber der allgemeinen Geschichte nicht zu stark
isolieren und auch die maßgebenden Persönlichkeiten, in voller,
runder Menschlichkeit und das heißt dann: auch mit ihren wirklichen
, menschlichen Schwächen schildern. Das hätte der Glaubwürdigkeit
des „Glaubens von Chalkedon" im Grunde doch keinen
Abbruch getan und die Aktualität des Werkes erhöht.

Aber mit dieser Forderung habe ich vielleicht zu Unrecht
schon vorgegriffen. Denn der zweite Band soll, wie eigens betont
wird, gerade die kirchengeschichtlichen und kirchenpolitischen
Fragen behandeln, und für die aktuelle kirchliche Bedeutung von
Chalkedon ist der dritte Band vorgesehen. Worauf es den
Herausgebern im ersten Bande vor allem ankam, war etwas anderes
: es ist die Dogmengeschichte und ganz besonders die theologische
Begriffsgeschichte, die Geschichte der christologischen
Vorstellungen und Formeln in der alten, griechischen Kirche,
über die man mit einer Vollständigkeit und Gründlichkeit Aufschluß
erhält, die bewunderungswürdig ist. Jeder, der über alte
Dogmengeschichte liest, weiß, was das heute bedeutet, wie
schwierie und mühselig es ist, an die Texte heranzukommen und
in der Flut der zerstreuten Spezialuntersuchungen auch nur eine
einigermaßen zuverlässige Orientierung zu gewinnen. Hier findet
er sie — weit über den Umkreis des einen Konzils hinaus —
und für die reiche Hilfe und Belehrung, die ihm darüber hinaus
in vielen Einzelheiten zuteil wird, kann er nur dankbar sein.

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Schmidt, P.Wilhelm, Prof. D. Dr., S. V. D.: Der Ursprung der Gottesidee
. Eine historisch-kritische und positive Studie. Bd. X. 3. Abt.:
Die Religionen der Hirtenvölker IV. Die asiatischen Hirtenvölker.
Die sekundären Hirtenvölker der Mongolen, der Burjaten, der Yugu-
rcn. sowie der Tungusen und der Yukagiren. Münster: Aschendorff
1952. XXXI, 864 S. gr. 8". DM 45.-; geb. DM 50.-.

Das monumentale religionsgeschichtliche Werk vonP.Schmidt,
von dem 1912 der erste einleitende Band erschienen war, behandelt
in Bd. II—VI die Religionen der Urvölker und von Bd. VII ab
die Religionen der Hirtenvölker (Bespr. von Bd. VII in ThLZ
1944 Nr. 5/6, von Bd. VIII u. IX in ThLZ 1950 Nr. 7), und zwar
in Bd. VII u. VIII diejenigen Afrikas, in Bd. IX die der „primären
" asiatischen Hirtenvölker (Alt-Türken, Altai- u. Abakan-Ta-
taren). Der jetzt vorliegende X. Band setzt diese Untersuchungen
fort mit den „sekundären" Hirtenvölkern (Mongolen, Burjaten,
Yuguren). Aus geographischen Gründen sind zwei andere Gruppen
mit einbezogen, die zwar nicht mehr zu den Hirtenvölkern
gehören, aber später unter deren Einfluß gelangt sind, daher religionsgeschichtlich
wesentlich andere Grundlagen haben: l) die
Tungusen, nach P. Schmidt ursprünglich ein Jägervolk, das von
den „austroasiatischen" agrarisch-mutterrcchtlichen Völkern Südchinas
und Hinterindiens — vermutlich indirekt — Pflanzenbau und
Schweinezucht übernommen hat und dessen Religion sich von
denen der Hirtenvölker durch das Fehlen der alttürkischen Schöp-
fungsmythen unterscheidet; 2) die Yukagiren, ein Jäger-und
Fischervolk mit totemistischer Clan-Organisation und Sonnen-
und Feuer-Religion. Die vergleichende Behandlung dieser systematisch
nicht zusammengehörigen Völker erweist sich als besonders
fruchtbar bei dem schwierigen Problem des Schamanismus,
der bei allen genannten Völkern in sehr verschiedenen Formen
auftritt. Nach der schon in Bd. IX S. 242 ff vertretenen Auffassung

P. Schmidts gehört er jedenfalls nicht zur alten Himmelsreligion
der Urvölker, sondern in den erdreligiösen Bereich. Den Schama-
nismus der Tungusen charakterisiert P. Schmidt als „individualistisch
" (aus eigener Kraft, nicht aus der des höchsten Wesens
fließend). Bei den Yukagiren fällt die Bedeutung der Reliquien des
toten Schamanen auf.

Im Mongolenreich, für dessen religionsgeschichtliche Entwicklung
wir in den Äußerungen und Briefen der Groß-Khane seit
Djingis-Khan viele aufschlußreiche Dokumente besitzen, ist durch
frühzeitigen Einfluß des Iamaistischen Buddhismus die von den
Türkvölkern überkommene Verehrung des Höchsten Himmelswe-
sens überdeckt worden. Bei den Burjaten tritt, stärker als bei den
Altmongolen, die schon vor dem schamanischen Einbruch vorhandene
polytheistische Grundlage hervor. Der Einfluß der Himmcls-
religion wirkt hier als Hierarchisierung des Polytheismus, indem
das Göttersystem in der Person des Esege Malan eine monotheistische
Spitze erhält („Polytheismus mit monotheistischer Orientierung
"). — Für die Religion der Mongolen ist als Nachtrag die
bisher nicht gedruckte Marburger Dissertation von Pallisen ausgewertet
. Hierbei wird auch die alte Streitfrage der Etymologie
des türkisch-mongolischen Tengeri gestreift, wozu P. Schmidt
eine Auskunft von Stefan Wurm-Wien eingeholt hat. Von den
verschiedenen Deutungsversuchen ist wohl am wahrscheinlichsten
immer noch die Beziehung zu chines. T'ien, Himmel, auch wenn
man nicht, wie Ramstedt, das Suffix -ri aufs Koreanische zurückführt
. Völlig vage bleibt die Verwandtschaft mit dem sumerischen
Dingir, die von den heutigen Türken gern benutzt wird, um die
sumerische Kultur als alttürkisch in Anspruch zu nehmen.

Als Anhang dieses Bandes ist ein Nachtrag zu den in Bd. II
behandelten Algonkin-Indianern beigefügt, und zwar eine Darstellung
der Shawnec, des am weitesten nach Südosten vorgedrungenen
Algonkin-Stammes.

Marburg Heinrich Herrfahrdt