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Ausgabe:

1953 Nr. 2

Spalte:

73-80

Autor/Hrsg.:

Michel, Otto

Titel/Untertitel:

Tradition und Interpretation 1953

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 2

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Nur so, als die Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder
kann die Kirche die Liebe aufbringen, ohne die eine wahre Begegnung
mit den anderen nicht möglich ist.

IV.

Die Ergebnisse der ökumenischen Bewegung.

Trotz dieser Vorbehalte wäre es ungerecht, die ökumenische
Bewegung der letzten Jahrzehnte als wirkungslos zu bezeichnen.
Mindestens vier wesentliche Früchte dieser groß angelegten,
gründlichen, mit viel Schmerzen und Freude verknüpften Bewegung
der neuesten Kirchengeschichte sind eindeutig greifbar.

Das Erste ist die wesentlich vertiefte Kenntnis der christlichen
Kirchen voneinander. Was vor Jahrzehnten in Deutschland
nur in einem abstrakten Studienfach als „Symbolik" gelehrt
wurde, ist durch diese große Bewegung mit lebendigster Anschaulichkeit
erfüllt. Die Gestalt der römischen Kirche mit ihren grundlegenden
Unterschieden, aber auch der große Bereich der orthodoxen
Kirche bis hin zu den alten geschichtlichen Erscheinungsformen
der Koptischen Kirche in Äthiopien und der Kirche der
Thomaschristen in Indien sind uns Anlaß zu einer ernsthaften
Begegnung geworden, ebenso wie die Kirche von England mit
ihrem Gottesdienst und ihrer kirchlichen Ordnung oder die Fülle
des amerikanischen Kirchentums uns völlig neu ins Blickfeld getreten
ist.

Auch gab es eine Fülle von fruchtbaren menschlichen Begegnungen
. Die großen Christen der anderen Kirchen sind uns
zu einem Vorbild des Glaubens und zur Beschämung unseres
Kleinglaubens wie auch jeder Nachlässigkeit in der Nachfolge
Christi geworden. Es ist wirklich eine Wolke von Zeugen, die
uns hier begegnet ist.

Zum Dritten haben wir die junge Christenheit allmählich
immer besser verstehen gelernt. Dabei geht es nicht einmal zuerst
um die Frage, welches organisatorische Verhältnis die jungen
Kirchen der Missionsfelder zu den alten Kirchengebieten der sendenden
Christenheit haben sollen. Sondern es geht um alle Äußerungen
eines selbständigen Christusglaubens, der unter ganz anderen
kulturellen und politischen Voraussetzungen erwachsen ist,
und der die schöpferische Gewalt des Wortes Gottes unter völlig
anderen rassischen und politischen Bedingungen ins helle Licht
rückt. Auf der Tagung des Lutherischen Weltbundes in Hannover
hat die junge Batakkirche eine eigene Bekenntnisschrift vorgelegt,
deren kirchengeschichtliche Bedeutung für sie selbst sicher nicht
geringer ist, als es einmal die Confessio Augustana für die Kirche
der Reformation war. Und wieviele Boten Christi haben auf jener
Tagung die Christusbotschaft in die Gefilde der abendländischen
Christenheit zurückgetragen als ein Zeugnis für die nicht aufhörende
, lebendigmachende Kraft seines WortesI

Nicht der letzte wichtige Beitrag der ökumenischen Bewegung
besteht in der klärenden Hilfe, die uns für unser eigenes
heimatliches Kirchentum erwachsen kann. Es sei an ein einziges
Beispiel erinnert: Was können wir aus der ökumenischen Diskussion
über die Interkommunion für die Frage der Abendmahls-
gemeinschaft lernen, die auf dem Boden des heimatlichen Kirchentums
mit so viel merkwürdiger Ungeduld, Gereiztheit und manchmal
auch Verständnislosigkeit diskutiert wird! Die ökumenische
Diskussion über die Interkommunion hat schon um deswillen
Bedeutung für uns, weil sie mit einer viel sorgfältigeren begrifflichen
Arbeit vorgeht, als sie in unserer eigenen, oft so undifferenzierten
heimatlichen Diskussion in Erscheinung tritt. Auch die
Tatsache, daß die ökumenische Bewegung trotz allen Drängens
der mehr oder weniger sakramentslosen kongregationalistischen
Kirchengebilde der angelsächsischen Welt den Schritt zu einer
„Konferenz-Abendmahlsfeier", die naturgemäß über die vorhandenen
Unterschiede hinweggehen müßte, nicht getan hat, kann
unseren heimatlichen Gesprächen Ruhe und Besonnenheit verleihen
. Wenn Anglo-Katholiken und Orthodoxe die vorbehaltlose
Interkommunion nicht für möglich halten und doch in der
ökumenischen Verbundenheit der Jünger Christi bleiben, dann
müßte es auch in unserer heimatlichen Diskussion möglich sein,
die vorbehaltlose Abendmahlsgemeinschaft nicht zum ausschließlichen
Kennzeichen der Einheit der Christen zu machen; es müßte
jene große und überlegene Freiheit des Glaubens geben, die freudig
und brüderlich die Gewissensbindung des anderen achtet und
dennoch um ihn als den Bruder in Christo weiß.

Wenn nun aber doch im Sinne einer organisatorischen Vereinheitlichung
der Kirche die ökumenische Bewegung kaum einen
Schritt weitergeführt hat, so bleibt am Schluß die Frage, ob nicht
die Fragestellung selbst falsch ist. Der Beobachter der römischen
Kirche kann kaum anders, als diese aufregende Verschiedenheit
der nichtrömisch katholischen Kirche und der protestantischen
Kirchengebilde mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen; er muß
auch ihre Bemühungen umeinander grundsätzlich für,, aussichtslos
halten. Vielleicht ist es tatsächlich nicht Geringschätzung oder
hämische Gesinnung, wenn er, hellsichtig für unsere Mängel, die
Fehlleistungen der ökumenischen Bewegung notiert. Denn es ist
nicht zu leugnen, daß für ihn das Problem der Einheit der Kirche
in der sichtbaren irdischen Welt gelöst ist. Die Una Sancta Catho-
lica et Apostolica Ecclesia des Credo ist für ihn vorbehaltlos
identisch mit der römisch-katholischen Kirche; da gibt es kein
Problem.

Er muß nur Verständnis dafür aufbringen, daß die ökumenische
Bewegung nicht einfach aus irdischer Unvollkommenheit
das Bild der Zerspaltenheit bietet, sondern daß hier ein grundsätzlich
anderes Verständnis von Kirche waltet. Auf ihrem irdischen
Wege trägt die Kirche „Runzeln und Falten", die in den
Tagen der Vollendung von ihr abgenommen sein werden. Aber
auch mit den Runzeln und Falten, mit allen Unvollkommenheiten
ihrer irdischen Gestalt ist sie wahre, echte Kirche, die ganze Kirche
. Denn es ist ihr verwehrt, sich aus irgend einem menschlichen
Perfektionismus heraus zu verstehen. Der Donatismus ist wie alle
Formen des Perfektionismus eine Irrlehre. Darum bleibt der ökumenischen
Bewegung, solange sie echt ist, dieser spannungsreiche
Doppelcharakter erhalten: auf der einen Seite weiß sie, daß sie
auf ihrem irdischen Wege hinter der Bitte des Herrn, „Ut omnes
unum sint" ebenso zurückbleibt wie hinter dem, was die Kirche
in der Welt sein sollte - sichtbare Vergegenwärtigung des Leibes
Christi. Auf der anderen Seite aber weiß sie, daß sie in Wort und
Sakrament ihren Herrn selber gegenwärtig hat.

Überdenkt man aber die Tage in der stillen südschwedischen
Universitätsstadt Lund noch einmal, die von so viel ernsthafter
theologischer Spannung erfüllt waren und doch die Christen aus
so viel verschiedenen Kirchen täglich in dem wundervollen romanischen
Dom zum Gebet und zur gemeinsamen Anbetung zusammenführten
, dann weiß man: auch die zerspaltene Christenheit
kann ihrem Herrn Lobgesänge darbringen.

Aus der lebhaft und leidenschaftlich geführten Diskussion
über die „Entmythologisierung" bringt der zweite Band, den
H. W. Bartsch zusammengestellt hat, eine Auswahl von Beiträgen.

') Bartsch, Hans Werner, Dr. theol.: Kerygma und Mythos
II. Band. Diskussionen und Stimmen zum Problem der Entmythologisierung
. Mit Beiträgen von Prof. D. K. Barth, Pfr. Dr. H. W. Bartsch,
Prof. Dr. Fr. Buri. Prof. D. Dr. R. Bultmann, Dr. Chr. Hartlich und Dr.
W.Sachs, Prof. D. W. G. Kümmel. Prof. D. A. Oepke, Prof. Dr. R. Prcn-

Tradition und Interpretation1

Von O. Michel, Tübingen

Bedenkt man, daß das Gutachten der hessischen Bek. K. aus dem
Jahre 1942 stammt („Die erste Stimme zur Diskussion" = Abschnitt
II), dann wird sogar ein ganzes Jahrzehnt dieser Diskussion
durchschritten, und für den Leser wird das Nachwort R. Bultmanns
(„Abschließende Stellungnahme" - Abschnitt VI) beson-

ter, Pfr. H. Sauterf, Prof. D. E. Stauffer, hrsg. Hamburg-Volksdorf: Herbert
Reich, Evang. Verlag 1952. 211 S. gr. 8° = Theol. Forschung. Wissenschaft
!. Beiträge zur kirchl. evang. Lehre, 2. Veröff. kart. DM 12.—.