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Ausgabe:

1953 Nr. 1

Spalte:

52-53

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Noske, Gerhard

Titel/Untertitel:

Helfende Kirche 1953

Rezensent:

Hertzsch, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 1

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der vielleicht mancher Zunftgenosse des Verfe-'^ers sorgenvoll
emporsieht, hinter der wir unsererseits aber nf?1^zurückbleiben
dürfen.

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Tübingen O. ,,>rg Weh rung

Steinbüchel, Theodor: Zerfall des christlichen Ethos im XIX. Jahrhundert
. Frankfurt am Main: Verlag Josef Knecht-Carolusdruckerei
[1951]. VI, 172 S. 8°. Lw. DM 7,80.

Es handelt sich um 10 öffentliche Vorlesungen, die der Tübinger
katholische Theologe, Religionsphilosoph und Geisteshistoriker
in seinem letzten Semester gehalten hat. Sie sind insofern
Fragment geblieben, als der Verf. vor der geplanten Fortsetzung
im folgenden Semester heimgerufen wurde. Der Gegenstand
des Büchleins ist die Auflösung des abendländischen Ordo
besonders auf ethischem Gebiet. Ihre Wurzel liegt für St. in der
Aufklärung, deren Wesen und kritische Folgen er in der 3. und
4. Vorlesung beschreibt. In dieser Aufklärung läßt St. dann das
Bürgertum wurzeln, das auch in seiner geistigen Form des liberalen
Gebildeten keine entscheidenden Abwehrkräfte gegen den
unaufhaltsamen Auflösungsprozeß seines Jahrhunderts zu entwickeln
vermag. Es ist reizvoll, wie St. an der Idee des Individuellen
durch zwei Vorlesungen hindurch von Leibniz bis Herder
und hin zu den Schlegel, Brentano, Schelling und Görres den
Kampf um die Überwindung der Aufklärung zeipt, noch dramatischer
fast an der Geschichte des Gefühls, bei Rousseau
angefangen bis hin zu Goethe, wo doch nach St. von einer Rückkehr
zum Gedanken des abendländischen Ordo nicht eigentlich
die Rede sein kann. Auch das Bild des verständnisvoll beschriebenen
Pietismus bleibt demgemäß zwiespältig, wiewohl hier natürlich
am Ende Novalis das auszusprechen vermag, was als Ziel
der ganzen Darstellung erscheint.

Es ist ein ansprechender Überblick über die Entwicklung
der leitenden Ideen alles Menschseins aus der Aufklärung heraus
bis ins 19. Jahrhundert hinein. St. pibt sich keiner billigen
Apologetik hin, indem er sich darüber klar ist, daß mitunter in
der radikalsten Kritik der Schritt zum Heil am kürzesten ist.
Seine wiederholte Deutung Nietzsches ist voll Verständnis. Der
konfessionelle Gesichtspunkt spielt nur an einer oder zwei Stellen
eine übrigens durchaus irenische Rolle, obwohl man sich
natürlich nicht ganz dem Eindruck entziehen kann, daß die Last
der Sünden, das Risiko der Kritik und der Kampf selbst wesentlich
auf protestantischen Schultern lae. So erscheint manches etwas
abgeschliffen, was mit der heimlichen Tendenz der Vorlesung
als einer gesamtchristlichen Verständigung zusammenhängt.
Man wird ihr mit der Feststellung sicher nicht zu nahe treten,
daß sie nichts eigentlich Neues bringt. Gelegentlich stört der
Redestil (um nicht zu sagen: die stellenweise hervortretende
Rhetorik) den Leser.

Göttingen Wolfering Trlllhaai

Reiner, Hans: Pflicht und Neigung. Die Grundlagen der Sittlichkeit
erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und
Schiller. Meisenheim/Glan: Wcstkulturverlag Anton Hain 1951. XII,
316 S. gr. 8° = Monographien zur philosophischen Forschung, hrsg. v.
G. Schischkoff, Bd. V. DM 17.-; Lw. DM 19.50.

Von der bisher unerledigten Kontroverse zwischen Kant und
Schiller über Pflicht und Neigung ausgehend und diese in überzeugenden
Darlegungen zum Austrag bringend und zwar zugunsten
Schillers, untersucht Verf. das Zentralproblem der Ethik: die
Frage nach der Begründung des sittlichen Sollens. Seine Methode
ist die von Husserl in die Philosophie eingeführte und von Sche-
ler auf die Ethik angewandte phänomenologische Methode. Die
von diesem begründete und von N. Hartmann ausgebaute Wertethik
ist der Boden, auf den auch Reiner sich stellt. „Kant glaubte
das letzte Fundament der Sittlichkeit in einer .reinen praktischen
Vernunft' gefunden zu haben, aus der allein und unmittelbar
das .praktische Gesetz' der Sittlichkeit entspringe. Unsere Analysen
haben demgegenüber gezeigt, daß, wo Kant etwas Letztes
sieht, in Wahrheit noch kein Letztes ist. Denn wir sahen, daß unser
Handeln überall, auch als sittliches, bestimmt wird durch den
Eindruck von Werten, die wir als dieselben auch in anderen Situationen
antreffen . . . Der Wert ist somit etwas Fundamentaleres
als das sittliche Gesetz, er ist diesem gegenüber selbständig
und hat zugleich eine weit umfassendere Bedeutung für unser

Dasein. Am Wert hängt der ganze Sinn der Welt und unseres Daseins
in ihr" ( S. 242). Daraus zieht Reiner mit Recht die Folgerung
, daß Ethik sich heute nur als Wertethik konstituieren
kann. Diese bedarf freilich in mehrfacher Hinsicht einer Weiterführung
über ihre bisherige Gestalt hinaus, und um eine solche
ist es R. vor allem zu tun. Schelers und Hartmanns zwei Prinzipien
des Wertvorzugs werden durch Aufweis von deren weiteren
neun ergänzt. Neben das Begriffspaar gut und böse wird das von
sittlich richtig und falsch gestellt. Verf. ist der Ansicht, daß sich
nicht alle Erscheinungen des sittlichen Lebens unter das erste
subsumieren lassen. Ob dieser neue Ansatz sich als fruchtbar für
die Ethik erweisen wird, scheint mir zweifelhaft. Nicht zweifelhaft
dagegen dürfte der Wert einer Begriffsprägung sein, zu der
R. in der Auseinandersetzung mit Kant gelangt. Es ist der Terminus
„axionom" (zum Unterschied von „autonom"), der eine
sachlich bedeutsame Ergänzung oder vielmehr Verbesserung der
kantischen Terminologie darstellt.

Zu den wertvollsten Partien des Buches gehört ohne Zweifel
der kritische Exkurs über das Verhältnis Heideggers und des
Thomismus zum Begriff und Tatbestand des Wertes. Wenn Heidegger
lehrt, der Wert entspringe einem „Werten", das ein „Tun"
sei, so hält R. ihm mit Recht entgegen, daß der Phänomenbestand
eindeutig den rezeptiven Charakter des Wertes zeige. Heideggers
weitere Behauptung, der Begriff des Wertes sei eine Bezeichnung
für eine Vergegenständlichung der Bcdürfnisziele des Menschen,
erfährt von der Geschichte aus eine überzeugende Widerlegung.
Zu dem höhnischen Wort des Existenzphilosophen: „Keiner stirbt
für Werte", bemerkt R. treffend: „Wohl wird vielleicht keiner,
der für etwas stirbt, dies dabei a 1 s Wert bezeichnen. Aber
für das ,Sein' des Heideggerschen Philosophierens als solches
stirbt noch viel weniger einer als für .Werte'! Man stirbt für
.das Leben' von Frau und Kind, für ihre oder des eigenen Volkes
.Freiheit', für .die Gerechtigkeit' oder für .die Wahrheit'. Derartiges
aber faßt die Philosophie seit Kant und Lotze eben
zusammen unter dem Begriff der Werte" (S. 157).

Die heutige Wertethik bedeutet nach R. zugleich eine Überwindung
der scholastischen Ineinssetzung von Sein und Wert,
genauer der Zurückführung des Wertes auf das Sein. Sie scheitert
an der unbestreitbaren Tatsache, daß die Seinswelt nicht nur
Werte (Güter), sondern auch Unwerte (Übel) birgt. „Das Übel
in der Welt stellt sich uns doch bekanntermaßen als etwas sehr
Wirkliches, .Seiendes', dar, und es ist ein unhaltbares Verfahren,
diesen zunächst ganz klar gegebenen Phänomenbestand einfach
zu übergehen oder zu übersehen durch Aufstellung ihry widersprechender
bloßer Behauptungen" (S. 157). Die thomistische
Gleichsetzung von Sein und Wert ist in Wahrheit „eine unhaltbare
Konstruktion" (S. 161).

Reiner hat sein Buch, wie er im Vorwort bemerkt, nicht nur
für die Fachwissenschaftler, sondern für alle geschrieben, denen
die ethischen Probleme am Herzen liegen, wobei er besonders an
die Erzieher denkt. Es wäre zu wünschen, daß gerade sie zu seinem
Buch griffen, um mit diesem geistigen Rüstzeug zu helfen,
daß Menschsein wieder in den hohen Werten des Geistes und
des Ethos verankert werde. Denn — um mit dem Dichter Paul
Ernst zu sprechen — „nicht in der Einsicht liegt unser Wesen als
Menschen, sondern darin, daß wir Werte erblicken, die uns das
Herz brennen machen".

Köln Johannes Hessen

PRAKTISCHE THEOLOGIE

N o s k e, Gerhard, Pastor: Helfende Kirche. Anliegen und Fragen
evangelischer Diakonie. Berlin-Spandau: Widiern-Verlag 1951. 52 S.
8°. DM 1.80.

N. unterscheidet die „karitative Diakonie" („Not lindern,
Wunden verbinden") von der „politischen Diakonie" („Not vorbeugen
, Wunden verhüten"). Diese, die „den Kampf um die gerechte
Sozialordnung und Gesetzgebung umfaßt, wie er schon von
den Propheten des A. T. geführt wurde", wird sehr aphoristisch
behandelt unter dem Stichwort: „Vorsicht! Kurzschlußgefahr!"
(44-48).