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Ausgabe:

1953

Spalte:

692-693

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Dreyer, Horst

Titel/Untertitel:

Tradition und heilige Stätten 1953

Rezensent:

Dreyer, Horst

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eine Vorfrage hierzu klären: wie stellt sich Lukas diese Orte und Wege
vor?

Der redaktionell-schematische Charakter der Ortsangaben verrät
die Hand des Schiiftstellers. Es findet sich die — gegenüber Markus
verstärkte -- Tendenz, bestimmten Lokalitäten, dem Berg, dem See,
der Ebene, symbolischen Gehalt zu verleihen und durch sie diristo-'
logische Anschauungen darzustellen. Darüber hinaus wird der Nachweis
versucht, daß der Disposition ein lokales Schema zugrunde liegt,
in dem sich die eigenartige Christologie, Eschatologie und heilsgeschichtliche
Anschauung des Lukas ausspricht. Eine so freischwebende Verwendung
geographischer Angaben setzt voraus, daß der Verf. keine
eigene Anschauung von Palästina besitzt, wenn er auch eine zu haben
glaubt: sie weicht aber von unserem Landkartenbild in eigentümlicher
Weise ab. So stellt er sich offenbar Galiläa und Judäa als aneinander
angrenzend vor. Daraus erklärt sich die vielverhandelte Problematik
seines Gebrauchs dieser Bezeichnungen. Ebenso fällt Licht auf die
Lokalisierung des sog. Reiseberichts.

Der Aufbau der Arbeit: Zu Anfang wird die Auseinandersetzung
mit einigen typischen literarkritischen Lösungsversuchen gegeben, mit
Schlatter, Hirsch und der Protolukashypothese von Streeter, Taylor,
Grant. Dann wird die Fragestellung E. Lohmeyers aufgenommen. Die
formgeschichtliche Analyse ist vorausgesetzt. Nun soll aber gerade auf
Grund derselben nach dem Charakter der Komposition gefragt
werden. Noch stärker als bei Markus erscheint bei Lukas „der Weg"
Jesu als Mittel, den Stoff zu ordnen; die lokale Gliederung stellt zugleich
eine christologische Sachordnung dar.

Dem Nachweis dient der zweite Teil: in durchgehender Einzel-
exegese aller Stellen mit lokalen Angaben wird der Nachweis versucht,
daß sich in den drei großen Lokalitäten des Wirkens Jesu drei Stufen
eines christologischen „Weges" darstellen. Die „Reise" wird — entgegen
der gewöhnlichen Auffassung — nicht in Samaria lokalisiert. Der
längst bekannte schematische Charakter der Reisenotizen ist einem
Stoff aufgeprägt, der nicht dazu paßt. Gerade das Fehlen realer Ortsveränderung
auf der Reise einerseits, die geflissentliche Betonung des
Reisezustandes durch den Verfasser andererseits, ergibt den zu interpretierenden
Tatbetand. Ergebnis: die „Reise" ist ein Schema, mit
dem eine bestimmte christologische Anschauung dargestellt werden
soll, und zwar die „Stufe" des Leidensbewußtseins Jesu. Audi die
Lokalisierung der Jerusalemer Ereignisse ist eigentümlich: Lukas kennt
keinen Einzug in die Stadt, nur einen in den Tempel. Zwischen Tempel
und Ölberg bewegt er sich in dieser Zeit. Zeitlich sind die drei
Epochen des Lebens Jesu übrigens als einander gleichwertig vorzustellen
.

Der dritte Teil behandelt das eigenartige Motiv von der „Anabasis
der Galiläer", hinter dem eine von Lukas weitergegebene „gali-
läische" Traditionsgruppe zu vermuten ist. Träger derselben scheint
die Gruppe um Petrus zu sein, so daß Lukas als das eigentliche Petrusevangelium
anzusprechen ist. Die Gruppe nennt sich mit Betonung
„Galiläer". Diese sitzen — oder saßen? — aber (im Gegensatz zu Lohmeyer
) in Jerusalem. Galiläa-Jerusalem bezeichnet nicht einen Gegensatz
, sondern eine Korrelation. Ihren Ansprudi auf Jerusalem begründen
diese „Galiläer" eben mit jener Anabasis, auf der sie Jesus führte. Sie
scheinen in starker polemischer Auseinandersetzung mit den Herrnverwandten
zu stehen. In ihrer Mitte hat der spezifische lukanische Zeugen
- und Apostelbegriff seinen Sitz.

Ein 4. Teil sucht das systematische Ergebnis zu fixieren. Er geht
in Auseinandersetzung mit Cullmann der Funktion des Zeit f a k t o r s
(nicht der Zeit Vorstellung) nach und sucht die Bedeutung des
Ausbleibens der Parusie für die Konzeption des lukanischen theologischen
Entwurfs zu bestimmen.

Das aktuell-eschatologische Schema der zwei Äonen erscheint bei
Lukas auseinandergelegt in einen entfalteten Entwurf von drei Epochen
der Heilsgcschichte. Das Leben Jesu stellt die Mitte der Heilsgeschichtc
in einem spezifischen Sinn dar: es ist eine heilsgeschichtliche Epoche
sui generis zwischen der Zeit Israels und der Zeit der Kirche, gekennzeichnet
dadurdi, daß zwisdien Versudiung und Passion das Wirken
des Satans in der Gegenwart Jesu unterbrochen ist. So stellt diese
Epoche typologisch das künftige Heil dar. Je mehr das Leben Jesu in
die Vergangenheit und die Parusie in die Zukunft rückt, umso mehr
ist der überzeitliche Sinn der heilsgeschichtlichen Vergangenheit und
Zukunft her auszuarbeiten, jedoch ohne daß der Zeitfaktor eliminiert
würde. Einer verstärkten Betonung zeitloser Geltung korrespondiert
eine ebensolche im Blick auf die zeitlichen Vorgänge: das Leben Jesu
und dem „apokalyptischen" Ablauf am Ende. Nicht Ersatz der Zeitvorstellung
durch zeitlose Idealität ist das Wesen des lukanischen
Entwurfs, sondern eine dialektische Korrespondenz von Zeit und Zeit-
losigkeit. Der Ausblick aus der Gegenwart der Kirche auf Leben Jesu
und Heilszukunft bestimmt das jetzige christliche Dasein. In knapper
Skizzierung wird versucht, von da aus den lukanisdien Entwurf der
Christologie, Eschatologie, Ekklesiologie und Ethik zu verstehen.

Die Skizze über die systematischen Ergebnisse ist inzwischen zu

einer eigenen Arbeit ausgebaut worden. Diese lag der theol. Fakultät
Heidelberg als Habilitationsschrift vor. Sie wird unter dem Titel „Die
Mitte der Zeit" noch in diesem Jahr erscheinen (Verlag Mohr, Tübingen
).

Dreyer, Horst: Tradition und heilige Stätten. Zur Geschichte der
Traditionen in Israels Frühzeit. Diss. Kiel 1952.

Der Anlaß der vorliegenden Arbeit ist die Kritik an den Methoden
der bisherigen Pentatcuchforschung. Das gilt für die literar-
kritische, für die literargeschichtliche und auch weitgehend für die von
Noth repräsentierte übcrlieferungsgeschichtliche Arbeitsweise. Alle diese
Methoden zum Verständnis des Pentatcuch haben nämlich U. E. ein
starkes Gefälle dahin, bei den rein literarischen Fragen stehen zu bleiben
und damit die Eigenart und den Charakter der Traditionsstoffe unberücksichtigt
zu lassen. Es gibt ja doch im Alten — wie im Neuen —
Testament keinen „Stoff an sich", ebensowenig, wie es im Pentateuch
eine — nach unseren modernen Begriffen — exakte Geschichtssdireibung
gibt, die ein Interesse daran hätte, Begebenheiten authentisch der Nachwelt
zu überliefern. Vielmehr haben diese Traditionen entweder schon
von Hause aus oder durch den Zusammenhang, in den sie hineingestellt
wurden, den Charakter eines Zeugnisses vom Handeln Jahwchs in der
Geschichte „Israels", und so müssen sie in ihrem Zusammenhang mit
dem Leben Israels gesehen und aus diesem heraus verstanden werden.
Das aber richtet unseren Blick auf die heiligen Stätten, denn sie sind
die Mittelpunkte des Lebens in Israels Frühzeit gewesen. So hat die
Arbeit ihren Ansatzpunkt in der Eigenart der zu untersuchenden Traditionsstoffe
.

Es werden die Einzeltraditionen sowie die großen ..Themen" untersucht
nach der Einteilung, die uns die Überlieferung selber an die Hand
gibt: Erzväter, Exodus, Josephgeschichte, Sinai, Wüstenwanderung,
Landnahme. Dabei wird versudit, die Überlicferungsgeschidite so weit
wie möglich zu klären (unter weitgehender Anlehnung an Noth) und
zu zeigen, welche eminente Bedeutung die heiligen Stätten in dem
Prozeß der Tradierung gehabt haben.

Dabei ergibt sich bei den Traditionen von Abraham ein lebendiger
, d. h. sich in Bewegung befindlicher Zusammenhang mit Hebron

— Gen. 14 mit Hebron und Jerusalem —, bei denen von Isaak und
Ismciel mit Beerseba und Beer-lachai-roi. Für die westiordanischen Inkob-
tiaditionen waren wie später für die gesamte Jakobtradition Sichern
und Bethel die Magneten — wobei Sichems Stellung als Zentralheiligtum
der Zwölferamphiktyonie an Gen. 34 und 48, als kultischer Mittelpunkt
der Josephstämme an der Josephgeschichte deutlich wird
für die ostjordanischen Machanaim, ferner wohl auch das ostjordanische
Jakobsgrab in Goren ha atad.

Die Exodus- und Sinaitraditionen werden zusammengesehen, weil
es sich hier um ein und dieselbe Gruppe handelt (Ablehnung von
Noths Mose-These). Diese Überlieferungen (auch Ex. 181) waren im
Kultus des Sinaiheiligtums, später in dem von Sichern verankert.

Die Exodustradition und ihre breite Ausgestaltung hatten nadi der
Historisierung der alten Feste ihren Sitz im Leben im Passafest. Ex. 32
ist prophetische Predigt in Bethel oder (und?) Dan, die vielleicht aus
einer alten Tradition geschöpft hat.

Von den noch lokalisierbarcn Wüstenwanderungstraditionen sind
mir ein Teil soldie von heiligen Stätten, und zwar gruppieren sie sidi

— z. T. läßt sich das nur vermuten — um die Zentren Kadcsch, Baal
Peor, Hebron, Aaronsgrab. Bei der LIntcrsuchung der Wüstcnwandc-
rungstradition wird ihre Bruchstückhaftigkeit deutlich, so z. B. bei den
Traditionen von Zelt und Lade. Aber auch gerade für die Ausbildung
der Wüstentradition ist die im zcntralisraelitischen Kultus verankerte
und ausgebildete Tradition von einer Geschichte Gottes mit dem ganzen
Israel von entscheidender Bedeutung gewesen.

Für die Landnahmetraditionen hat das Gilgalheiligtum eminente
Bedeutung. Hier haben sich die Stoffe — z. T. zuerst an anderen Stätten
und Heiligtümern tradiert — gesammelt. Daneben spielt Bethel eine
Rolle, die unbekannte heilige Stätte von Jos. 22 und besonders Sichern
für Jos. 8, 30 ff. und Jos. 24. Gerade an den Landnahmetraditionen
zeigt sich die enge Verbindung von Tradition und heiligen Stätten
sehr deutlich, insofern, als viele Traditionen weiter nichts sind als
Wiedergabe eines kultischen Brauches.

In einem zusammenfassenden Abschnitt wird versucht, den Prozeß
des Zusammenwachsens der Einzeltraditionen zu skizzieren. Auch
hier ist ihr Weg als von Heiligtum zu Heiligtum führend zu sehen.
Der entscheidende Punkt in diesem Prozeß ist die Amphiktyonic von
Sichern, deren Kultus das große Sammelbecken und der Schmclzticgcl
der Heiligtumstraditionen ist. Das gilt für alle Pcntatcuchthemen, wie
Jos. 24 zeigt. Auch die Pcntateuchouellen sind aus ihrem kultischen
Gebrauch heraus zu verstehen — das wurde jedoch nur noch angedeutet
—, wie überhaupt der ganze Fragenkomplex um die Pentateudi-
quellcn, vor allem die Kriterien der Quellcnschcidung u. E. von der
Sicht „Tradition und heilige Stätten" neu aufgerollt werden müßte.