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Ausgabe:

1953

Spalte:

658-660

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dibelius, Martin

Titel/Untertitel:

Aufsätze zur Apostelgeschichte 1953

Rezensent:

Foerster, Werner

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Gottes, am Geist bedeutet". Aber die formale Nähe zur Gnosis bedeutet
nicht, daß Johannes ein Gnostiker ist. Das zeigt sich einmal in
der Erkenntnis, daß Gott im fleischgewordenen Christus, und nur in
ihm zu finden ist, und zum anderen in der Gestalt des Parakleten,
der für Schweizer der Christus selber ist oder die Kraft der Verkündigung
von Christus, „in der dieser als der zur Welt Gekommene, Erniedrigte
und Erhöhte der Welt begegnet". Die Verkündigung ist die
eigentliche Funktion des Geists. Wo die Verkündigung im Geist angenommen
wird, ist der Geist gegenwärtig. Der Geist ist also nicht
mehr als die Kraft einzelner besonders Begabter zu außergewöhnlichen
Äußerungen gemeint. Aus diesem Geistverständnis ergibt sich
dann das Verständnis der Gemeinde bei Johannes. Da Johannes bei
jedem Glaubenden den vollen, ganzen Besitz des Geistes voraussetzt,
versteht er die Gemeinde „in ihrer grundsätzlich unterschiedlosen Gesamtheit
" als Bruderschaft in Christus.

Im zweiten Teil behandelt der Vf. auf Grund der im ersten Teil
gewonnenen nt. Erkenntnisse den „Gemeindebau heute". Die Gemeinde
muß sich abgrenzen gegen eine falsche Gnosis und eine falsche Orthodoxie
. Sie ist an die Verkündigung der Heilsereignisse und an die
Gegenwart des Geistes Gottes gebunden. In der Gemeinde hat jedes
Glied gemäß der ihm verliehenen Gab« einen Dienst zu tun. Schweizer
weist bei der Gestaltung der Gemeinde vor allem darauf hin, daß
die Gemeinde von der Realität des hl. Geistes her gedacht werden
muß. „Es gibt keine Gemeinde ohne die heute sich ereignende Begegnung
mit dem lebendigen Christus." Glaubende Gemeinde gibt es
nur „im Ereignis". Nur so ist das Abgleiten in eine tote Orthodoxie
und in die Gnosis unmöglich. Schweizer fordert, daß die Gemeinde
grundsätzlich nicht von einzelnen Gruppen, sondern vom Gottesdienst
her gebaut wird; d.h. vom G e m e i n d e gottesdienst, in dem die
Gemeinde Gott dient und nicht ein einziger sein Charisma ausübt
. Aus dieser grundsätzlichen Erkenntnis leitet der Vf. eine Reihe
von praktischen Forderungen ab, bei denen es letzten Endes um die
Aktivierung aller Gaben und Dienste in der Gemeinde geht. Es darf
keinen Unterschied zwischen „Amt" und „Dienst" geben. Denn es
widerspricht dem Wesen der Gemeinde, wenn der examinierte und
ordinierte Amtsträger eine Monopolstellung für sich in Anspruch
nimmt. —

Der Vf. läßt sich bei seinen Arbeiten über die nt. Gemeinde
von dem richtigen Grundsatz leiten, daß es zunächst
darauf ankommt, die Verschiedenheit der nt. Lehre von der
Gemeinde zu sehen, daß es dann aber darum geht, die eine
Wirklichkeit zu erkennen, die hinter allen Unterschieden der
lehrhaften Gestaltung steht, und daß wir schließlich die Aufgabe
haben, die Frage zu stellen, welches das verpflichtende
Zeugnis der nt. Texte ist. Auf Grund dieses methodischen Ansatzes
kommt Schweizer zu einer eindrucksvollen Darstellung
des Geistesverständnisses im Nt.

Aber es sind doch einige Einwendungen gegen die Auffassung
von Schweizer zu machen, die mir in wesentlichen Punkten
zu konstruktiv zu sein scheint.

1. Schweizer behauptet, daß der Geist für Lk. nicht heilsnotwendig
und fast ausschließlich Geist der Prophetie ist. Das
ist eine Behauptung, die in dieser Form für die Apg. nicht zutrifft
. Lk. legt vielmehr Wert auf die Feststellung, daß jeder
Glaubende und Getaufte den Geist erhält. In der Verleihung
des Geistes vollendet sich das Gnadenwirken Gottes an den
Glaubenden und Getauften. Daneben steht freilich die Mitteilung
des Geistes als „zusätzliche Kraft für besondere Aufgaben
". Aber daß es ein Christsein ohne den Geist geben könne,
ist für Lk. ein unvorstellbarer Gedanke. Was sich zu Pfingsten
ereignet hat, wird für jeden, der zur Gemeinde kommt, neu Ereignis
. Die Apostel teilen den Geist in der Regel unter Handauflegung
da mit, wo er noch nicht an und in den Glaubenden
wirksam geworden ist. Natürlich empfangen immer schon Glaubende
den Geist. Aber daß der Geist „nur besonders Auserwählten
für besondere Augenblicke" geschenkt ist, davon kann
bei Lk. nicht die Rede sein. Hier überspitzt Schweizer einen Gedanken
um seiner Theorie willen.

2. Auch die Darstellung des Geistverständnisses bei Paulus
entbehrt nicht ganz der Einseitigkeit. Ist schon zu fragen,
ob das hellenistische Urchristentum ein ganz neues Geistverständnis
gewonnen hat, so ist diese Frage auch in Bezug auf
Paulus zu stellen. Gewiß ist die Gcistlehre des Paulus in einer
ganz anderen Weise ausgeprägt als in der palästinischen Urgc-
meinde, aber das Neue bei Paulus liegt doch nicht darin, daß
der Geist eine allen Gläubigen zuteil werdende Kraft ist, sondern
darin, daß Paulus den inneren Zusammenhang aller Geistesgaben
aufzeigt; es ist der eine Geist, in dem alle Charismen
ihren Ursprung haben. Darum bildet die Gemeinde eine organische
Einheit, das acöjua Xqioxov. Paulus versteht den Geist
auch nicht als die den Glauben schenkende Kraft; vielmehr
kommt der Glaube aus dem Gehorsam dem verkündigten Wort
gegenüber. Der Geist wird dem Glaubenden als die eschatolo-
gische Heilsgabe geschenkt. Endlich kommt der Amtsbegriff des
Paulus bei dem Vf. zu kurz. Es ist doch nicht so, daß terminologisch
die geordneten Dienste „in keiner Weise" von den nichtgeordneten
Diensten unterschieden werden. Paulus kennt Apostel
, Propheten, Lehrer, „Vorsteher"; in Phil. 1, 1 auch inia-
xojioi und öidxovou Er selber übt das Apostelamt mit voller
Autorität aus. Es gibt also schon zur Zeit des Paulus bestimmte
charismatische Amtsträger, und nicht nur „Dienste". Der Satz
von Schweizer: „So kennt die Gemeinde kein „Amt" mehr, das
einen einzelnen in seinem Dienst wirklich unterscheide vom anderen
", ist m. E. nicht richtig. Auch Johannes kennt das Amt
des Presbyters (2. Joh. 1; 3. Joh. 1) und das Hirtenamt in der
Kirche (Joh. 21, 15 ff.); er sieht also in der Gemeinde nicht nur
eine „unterschiedslose Gesamtheit". Gewiß besteht im NT kein
Gegensatz zwischen Amt und Geist, aber es sind doch im Urchristentum
schon bestimmte Ämter da. Diese Tatsache wird
von Schweizer nicht genügend beachtet und zur Geltung gebracht.
So entsteht ein Bild von der Gemeinde, das nicht immer die
richtigen Konturen hat. Schweizer steht in der Gefahr, den nt.
Gemeindebegriff zu spiritualisieren. Das zeigt sich dann auch
deutlich in dem zweiten praktischen Teil, in dem das geordnete
Amt und die mit ihm verbundenen Aufgaben ungebührlich in
den Hintergrund treten.

3. Der Vf. leitet die paulinische Anschauung vom Leibe
Christi von der (heidnischen oder frühchristlichen) Gnosis her.
Man könnte das mit Schlier für Kol. und Eph. annehmen, aber
nicht für die älteren Paulusbriefe, in denen Paulus vom Organismusgedanken
her zu der Vorstellung vom Leibe Christi
kommt. Aber es ist doch auch grundsätzlich zu fragen, ob die
heute beliebte Theorie, in weitem Umfange gnostische Einflüsse
auf die paulinische Theologie anzunehmen, richtig ist. Die Belege
, die aus gnostischer Literatur herangezogen werden, stammen
aus späterer Zeit. Kann man wirklich durch die Methode
des Rückschlusses zu so weitgehenden Folgerungen gelangen, wie
das in der gegenwärtigen Forschung vielfach der Fall ist? Das
erscheint mir zweifelhaft. Zu sicheren Ergebnissen kann man
auf diese Weise nicht kommen. Gewiß bedienen sich Paulus und
Johannes „gnostischer" Begriffe und Vorstellungen, aber daß die
Christologie, namentlich des Paulus, so stark von dem gnosti-
schen Erlösungsmythos beeinflußt ist, wie vielfach angenommen
wird, ist doch überaus problematisch. Die Grundlage der nt.
Christologie bildet nicht ein gnostischer Mythos, sondern das
Heilsgeschehen. Auch die Frage, ob Paulus den Begriff des Leibes
Christi von einem „hellenisierten christlichen Denken" übernommen
hat, kann nicht sicher beantwortet werden. Dazu wissen
wir, trotz Bultmann, zu wenig von der Theologie der hellenistischen
Urgemeinde.

So wird man wohl sagen dürfen, daß die Schrift von Schweizer
eine Reihe von neuen und wertvollen Gesichtspunkten bringt.
Aber sie ist zu konstruktiv, und sie führt zu einer bestimmten
Schau der Dinge dadurch, daß sie wesentliche Tatsachen außer
Betracht läßt oder sie nicht genügend wertet. Vor allem scheint
mir das Verhältnis von Amt und Geist im NT nicht hinreichend
geklärt zu sein.

Berlin Johannes Schneider

Dibelius, Martin: Aufsätze zur Apostelgeschichte. Hrsg. v. Heinrich
Greeven. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1951]. 192 S er 8°
Hlw. DM 12.80.

— dass. Göttingen: Vandenhocck & Ruprecht 1951. (Lizenzausgabe d.
Evang. Verlagsanstalt, Berlin). 192 S. gr. 8° = Forschungen zur Religion
und Literatur des Alten und Neuen Testaments, hrsg. v.
R. Bultmann. N. F. 42. H., der ganzen Reihe 60. H.

Schon wenige Jahre nach seiner Programmschrift „Die Formgeschichte
des Evangeliums" hatte der der Wissenschaft zu früh