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Ausgabe:

1953 Nr. 11

Spalte:

647-654

Autor/Hrsg.:

Bergendoff, Conrad

Titel/Untertitel:

Erziehung und Weltanschauung 1953

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 11

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Erziehung und Weltanschauung

Von Conrad Bergendoff, Rock Island

Bezeichnend für das allgemeine Interesse, das gegenwärtig
dem Verhältnis von Erziehung und Weltanschauung entgegengebracht
wird, ist die Tatsache, daß das jüngste Jahrbuch der Pädagogik1
gänzlich der Betrachtung dieses Problems gewidmet ist.
Von fast jedem Land der Welt läßt sich in dieser Aufsatzsammlung
ein Vertreter finden, und jede Religion sowie auch jede
philosophisch-pädagogische Grundlegung wurden berücksichtigt.
Es tut sich hier eine wahre Fundgrube für alle diejenigen auf, die
sich über das gegenwärtige Schul- und Erziehungswesen einen
Überblick verschaffen wollen. Aber es wird darüber hinaus in diesem
Buch uns auch ein Spiegel aller der Geistesmächte vorgehalten
, die unsere Welt von heute beeinflussen und formen; besteht
doch eine enge Verbindung zwischen den Schulen eines
Landes und den Kräften, die sein Leben und seine Geschichte
gestalten. Denn es liegt ja wohl aller Erziehung die Intention
zugrunde, die von einem Volk als unvergänglich erachteten
Wahrheiten und Sinngebungen des Lebens auch in seiner Nachkommenschaft
lebendig zu erhalten. Und so läßt sich an den vorgefundenen
Ausführungen über Art und Zweck einer Erziehung
all das erkennen, was an Sehnsucht, Wünschen, Überzeugungen
und Glaube in der älteren Generation mächtig ist. Trägerin der
Absicht, dieses Gut auf die Nachkommen zu vererben, ist die
Schule. Dies gilt für Indien, Ägypten und Kanada genau so wie
für Schottland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Neu
Seeland.

Mit immer größer werdender Deutlichkeit drängt sich nun
bei einer solchen Überschau die Erkenntnis auf, daß wir uns betreffs
der für die Menschheit gültigen Ziele und Normen inmitten
einer Revolution von noch nie dagewesenem Ausmaß befinden.
Obwohl hierbei das politische Feld zunächst besonders in die Augen
fällt, sind seine Erscheinungen doch wohl kaum die ausschlaggebenden
, sondern selbst mehr Folge als Grund. Die Umwälzung
ist vielmehr auf ökonomischem Gebiet stark verwurzelt
in der ständig zunehmenden Industrialisierung und Mechanisierung
alles Lebens. Während früher die sozialen Bedingungen und
gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb einer relativ konstanten,
hauptsächlich auf der Landwirtschaft basierenden Ökonomie sich
langsam wandelten, entströmen die formenden Gewalten heute
einem rasch wechselnden und in keiner Weise stabilen Verlauf
industrieller Entwicklung, die eine immer größere Konzentration
leicht beweglicher Bevölkerungsmassen in den Städten erfordert.
Aber von noch größerer Bedeutung für die menschlichen Ansichten
und Überzeugungen war wohl der Wandel, den die allgemeine
Deutung der Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens
von all jenen Theorien erfuhr, die durch Entdeckungen
auf den Gebieten der Biologie, Geologie, Soziologie und Anthropologie
entstanden waren. Fügt man hierzu noch die Erschütterungen
eines halben Kriegsjahrhunderts und die Eroberung von
Raum und Zeit durch die moderne Verkehrstechnik, so erhält die
durch Walter Lippmann bekannt gewordene griechische Parole
„Aufruhr ist König!" einen aktuellen Sinn.

Auf diesem Hintergrund einer durcheinandergerüttelten Welt
muß nun das Erziehungswesen Westeuropas gesehen werden;
andererseits aber kann es wiederum auch nur dann richtig verstanden
werden, wenn wir uns ebenfalls vor Augen führen, daß
seine Entstehung in eine Kulturepoche fällt, die alle Menschen
mit dem Band einer im großen und ganzen einheitlichen Weltanschauung
umschloß. Westliche Erziehung wuchs aus dem missionarischen
Programm der christlichen Kirche. In Klöstern oder
Domstiftungen wurden unsere Schulen geboren. Struktur und
Aufstellung des Ausbildungsganges und der Stundenpläne waren
bedingt durch den christlichen Glauben und die Aufgaben der
Kirche. Wohl ist es wahr, daß die mittelalterlichen Universitäten
auch an die ältere Tradition der Griechen und Römer anknüpften
und später arabische Einflüsse aufnahmen, aber sogar nach
der Reformation blieb noch eine äußerst enge Beziehung der

') Univertity of London, Institute of Education, 1951, 674 S.

Universitäten zu einer bestimmten Konfession bestehen. Daß
Erziehung und Weltanschauung unter kirchlichem Einfluß und
kirchlicher Aufsicht zu stehen hätten, galt in Europa und Amerika
bis zum Ende jenes Jahrhunderts, das zum Zeugen der amerikanischen
und französischen Revolution wurde, als selbstverständlich
.

Es ist nicht bedeutungslos, darauf hinzuweisen, daß es immer
noch Länder gibt, wo dieses enge Verhältnis von Erziehung
und Religion die Struktur der Schulen erklärt, und zwar ist dies
in all den Ländern der Fall, deren Bevölkerung fast vollzählig
entweder der römisch-katholischen oder der lutherischen Kirche
angehört. Einen solchen Tatbestand finden wir einerseits in Spanien
, Irland und dem französischen Teil Kanadas vor und zum
anderen in den skandinavischen Staaten Schweden, Norwegen,
Dänemark und Finnland. In jedem dieser Länder sind jeweils
über 90% der Bevölkerung Glieder einer der beiden erwähnten
Kirchen. Gewiß werden auch hier die Schulen durch den Staat
kontrolliert und unterstützt, aber da die religiöse Grundhaltung
der Menschen so vorwiegend die gleiche ist, wird es als selbstverständlich
angesehen, diese Religion auch in den Schulen zu
lehren und unter die Kontrolle der kirchlichen Behörden zu stellen
. Erziehung und Weltanschauung sind hier verschmolzen durch
eine religiöse Interpretation aller Kultur, die nun als eine durch
Jahrhunderte hindurch gültige Sinngebung des Lebens auch an
die junge Generation weitergereicht werden soll.

Den extremen Gegensatz zu der eben gezeichneten Situation
treffen wir in einem Lande wie Frankreich an. Hier schritt die
Säkularisation, die „Laiisierung" der Schulen soweit, daß jeder
Priester und Angehörige eines kirchlichen Ordens vom Lehrdienst
in den staatlichen Erziehungsanstalten ausgeschlossen wurde
; öffentlicher Unterricht und Religion galten als absolut geschieden
. 1905 wurde die Trennung von Staat und Kirche durchgeführt
und kirchliche Orden aus Frankreich verbannt. Es blieb
allerdings der Kirche überlassen, eigene Schulen zu errichten und
in diesen eine religiös begründete Erziehung durchzuführen. Die
jüngsten Statistiken zeigen, daß es über 900.000 Grundschüler
und 300.000 höhere Schüler solcher Konfessionsschulen gibt.
Frankreich hat einen langen Kampf zwischen Kirche und Säkularismus
hinter sich. Und wenn auch jetzt der Staat den Glaubensangelegenheiten
gegenüber sich theoretisch neutral stellt, praktisch
ist diese Neutralität doch oft mit einem Antiklerikalismus
gefärbt. Religiöse Unterweisung wird also staatlicherseits völlig
auf das Elternhaus und die Kirche beschränkt, während der Staat
es als seine Aufgabe eiachtet, für eine rein weltliche Erziehung
zu sorgen. Dabei jedoch besitzt er weder genügend Kräfte noch
Mittel, um dieses eine Drittel seiner Kinder, das jetzt in Privatschulen
unterrichtet wird, zu übernehmen, gesetzt den Fall, daß
dieselben überhaupt zu kommen wünschen. Die Konsequenz
einer solchen Sachlage 2eigte sich in der kirchlichen Forderung
auf Unterstützung ihrer Schulen, und diese Frage bildet einen
Teil jener Schwierigkeiten, die seit dem Krieg eine Regierung
nach der anderen zu Fall gebracht haben.

So hat also sogar in ihrer ausgeprägtesten Form — wie eben
in Frankreich — eine rein säkulare öffentliche Erziehung keinen
Erfolg verzeichnen können, und das Problem, auf welche Art sich
das Verhältnis von Religion und Erziehung zu gestalten hat,
harrt immer noch einer Lösung. Australien und Neu Seeland haben
wohl ebenfalls Verfassungen, die zwischen Staat und Kirche
eine Trennungslinie ziehen, und auch dort arbeiten die konfessionellen
Schulen ohne öffentliche Gelder, aber da die allgemeine
Haltung zur Religion nicht eine so feindliche wie in Frankreich
ist, können die staatlichen Schulen von Geistlichen aufgesucht
werden, um christliche Unterweisung zu erteilen.

Auf der anderen Seite des Schemas, also in einer gewissen
Nachbarschaft zu den skandinavischen Staaten, muß nun wohl
England in eine Übersicht eingegliedert werden, obwohl nach der
Verfassung die Schulen dort unter keinem Beaufsichtigungsrecht