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Ausgabe:

1953 Nr. 1

Spalte:

46-51

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Steinbüchel, Theodor

Titel/Untertitel:

Religion und Moral im Lichte personaler christlicher Existenz 1953

Rezensent:

Wehrung, Georg

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 1

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bei der Fülle und Differenziertheit des Stoffes immer nur eine
jeweils vorläufige sein kann.

Leisegang will das Denken der Hauptträger des abendländischen
Geistes „auf die Logik hin untersuchen, der ihr Denken
gehorcht" (7.). Er will neben die von Dilthey und Jaspers vorgetragene
Psychologie der Weltanschauungen eine „Lehre von den
verschiedenen Typen logischen Denkens" stellen, eine Phänomenologie
der Denkformen. „Unter einer Denkform verstehe
ich das in sich zusammenhängende Ganze der Gesetzmäßigkeiten
des Denkens, das sich aus der Analyse von schriftlich ausgedrückten
Gedanken eines Individuums ergibt und sich als derselbe
Komplex bei andern ebenfalls auffinden läßt" (15). Diese Denkformen
sind zugleich immer Formen eines jeweiligen Weltbildes,
so daß die Aufgabe entsteht, von der Denkform zu der Wirklichkeit
hinüberzugreifen, die sie erfassen will. Bei ihrer Lösung
soll — im Gegensatz zu dem Diltheyschen Verstehen der Typik
der Weltanschauungen — nicht von der Gleichartigkeit einer allgemeinen
Menschennatur ausgegangen werden, sondern von den
prinzipiellen und qualitativen Unterschieden der Individuen
und der Denker. Denkformen sind nichts Willkürliches und Subjektives
. Sie sind ausgebildet an der Struktur bestimmter Gegenstände
und behalten ihre Geltung, wenn sie auf diese Gegenstände
beschränkt bleiben, wie sie nicht mehr haltbar sind, wenn sie
auf andere Gegenstände übertragen werden. Sie sind erfaßbar
nur durch die beschreibende Methode historischer Erforschung
geisteswissenschaftlichen Verstehens.

Von diesen Voraussetzungen aus kommt Leisegang zur Feststellung
und Analyse folgender Denkformen: 1. Die Denkform als Gedankenkreis
, beginnend mit Heraklit, aufgenommen von dem Apostel Paulus
und aufgipfelnd in Goethes Denken. Ihr wesentliches Merkmal ist die
kettenartige Verbindung und das Zurückbiegen der ganzen Kette zum
Anfangsglied. Ihr metaphysischer Grund ist die Welt des Geistes, die
mit dem organischen Leben zusammenfallt. „Geist und Leben sind
ihrem Wesen nadi dasselbe" (142). 2. Die Denkform als „der Kreis
von Kreisen", die auch bei Heraklit, P^ton und Aristoteles anklingt
und in Hegels Denken ihren vollendeten Ausdruck erfahrt. „Ihr metaphysischer
Grund ist die Anschauung der Wirklichkeit als eines Ganzen,
in dem jeder Teil nur aus seiner Beziehung zum Ganzen verständlich
wird" (205). 3. Die Denkform als ..Begriffspyramide" beginnend mit
Piaton und Aristoteles, fortgeführt von Philon und den Neuplatoni-
kern und der mittelalterlichen Summa und auslaufend in Kants Trans-
zcndcntalphilosophic. Ihr metaphysischer Grund ist die ideale Welt der
Begriffe und idealen Gegenstände als statische Größen, die sich nicht
verändern, und zwisdien denen es keine Übergänge gibt. 4. Die eukli-
disch-mathcmatisdie Denkform, die in den mathematischen Deduktionen
, der Syllogistik und Axiomatik Ausdruck gewinnt und besonders
in Descartcs' und Spinozas Axiomatisierung der Metaphysik und Kants
Axionalisierung der Mcdianik greifbar wird. Dazu kommt 5. die Denkform
der Antinomien, beginnend mit Heraklit und Demokrit, später
besonders von Nikolaus von Cues und Leibniz vorgetragen, um zuletzt
in Kants Antinomienlehre nachzuklingen. Und zuletzt 6. die Denkform
als kreisförmige Entwicklung und gradliniger Fortschritt, die die Geschichtsmetaphysik
der Griechen, des Mittelalters und der Neuzeit bis
zu den modernen Geschichtstheorien umfaßt.

Diese Denkformen bauen sich letzten Endes auf drei großen Weltanschauungsformen
auf: auf dem von Demokrit begründeten Materialismus
, auf dem von Piaton entwickelten Idealismus und auf der Mystik,
drei Weltansdiauungsformcn, die innerhalb ihrer Grenzen ein eigenes
Recht haben und die darauf hinweisen, daß die Welt sich in Stufen
aufbaut, wobei die nächst höhere von der unteren getragen ist, aber als
die höhere doch etwas Neues darstellt.

Nur ein Denker wie Leisegang, in dem sich umfassende
Sachkenntnis und tiefes Verstehen begegnen, konnte es wagen,
in der vorliegenden Weise das gewaltige Stoffmaterial der abendländischen
Geistesgcschichtc aufzufinden und durchsichtig zu machen
. Sein Anliegen ist sachlich berechtigt und notwendig. Aber
die mit diesem Anliegen wesentlich verbundene Tendenz zu formaler
Typisierung birgt die Gefahr in sich, die einzelnen Gegenstandsgebiete
, die den jeweiligen Denkformen eingeordnet werden
, zu verflachen bzw. zu entstellen. Dieser Gefahr ist Leisegang
nicht immer entgangen. Das wird besonders dort deutlich,
wo er die Denkform des Apostels Paulus in seine Kategorie des
Gedankenkreises einzuordnen versucht. Es ist ganz unmöglich,
das paulinischc Denken dem Denken Heraklits und Goethes gleichzusetzen
und es zurückzuführen auf eine Welt des Geistes, in der
Geist und Leben ihrem Wesen nach dasselbe sind. Die abgrundige
Gegensätzlichkeit von philosophischer Antinomie und pau-

linischer Paradoxie — um nur eine zu nennen — kommt überhaupt
nicht in den Blickpunkt Leisegangs. Aber schon das Denken
Goethes, für sich genommen, kann nicht von der einen Denkform
des Kreises restlos erfaßt werden. Es ist ein so umfassendes
Phänomen, daß es sich einer Denkform nicht fügt. Dieselben
Bedenken ergeben sich bei der Unterordnung der abendländischen
Geschichtsphilosophie unter die Denkformen der kreisförmigen
Entwicklung und des gradlinigen Fortschritts. Von einer „historischen
Zeit" bei Piaton zu reden und diese Zeit gleichzusetzen
mit dem im Raum des Christentums entstehenden neuen Zeitbegriff
, kann sachlich nicht im geringsten begründet werden. Gerade
in diesem Abschnitt des Werkes Leisegangs verdecken die
schematisierenden Auswirkungen der Denkformen-Methodik völlig
die stark akzentuierte Entwicklung des geschichtstheoreti-
schen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart.

Leisegang ist sich selbst der Grenzen seiner Methode und
auch seines Verstehens völlig bewußt. Diese Haltung der Bescheidung
nötigt zur Achtung. Aber seine Untersuchungen, die ihren
Höhepunkt in der Deutung der Philosophie Hegels erreichen,
bieten doch so viele tief dringende Perspektiven und Anregungen
, daß sie nicht nur reichlich sachliches Wissen im einzelnen
vermitteln, sondern zugleich auch Klarheit und Tiefe der Gesamtschau
.

Kiel Werner Schultz

ETHIK

Steinbüchel, Theodor: Die philosophische Grundlegung der ka-
tholisdien Sittenlehre. I. Halbbd. 4., durchges. Aufl. Düsseldorf: Pat-
mos-Verlag [1951). 410S. gr. 8° = Handbuch der katholischen Sittenlehre
. Unter Mitarb. v. Prof. Dr. Steinbüchel u. Prof. Dr. Mün-
eker hrsg. v. Prof. Dr. Fritz Tillmann. Band I. kart. DM 28.50; Lw.
DM 3 3.-.

— Religion und Moral im Lichte personaler christlicher Existenz. Mit
einem Vorwort von Alfred Schüler. Frankfurt/M.: Verl. los. Knecht
— Carolusdruckerei [1951]. XII, 266 S. 8". Lw. DM 12.—.

Der Verf. der hier anzuzeigenden Bücher ist vor ein paar
Jahren, nachdem er dreimal hintereinander die Bürde des Rektorats
der Universität Tübingen getragen hatte, wider Erwarten
schnell gestorben. Wie er sowohl in philosophischen als theologischen
Fakultäten gewirkt hat, war er durch Universalität des
Wissens und der Forschung ausgezeichnet, überhaupt eine gewinnende
, ja glänzende Persönlichkeit. Auch die Philosophie, das ist
seine und seiner Kirche wohlbegründete Überzeugung, kommt
recht verstanden dem Offenbarungsethos entgegen; als Philosoph
will er dies in dem erstgenannten Werk, von dem bis jetzt nur
ein Halbband der neuen 4. Auflage vorliegt, in Auseinandersetzung
mit allen zeitgenössischen philosophischen Strömungen dartun
und erhärten. Großartig ist die Belesenheit, umfassend die
Kenntnis der in Betracht kommenden Standpunkte; mit einer
unvoreingenommenen Objektivität, das muß man sagen, werden
sie geschildert und geprüft. Die auf protestantischer Seite oft begegnenden
Ressentiments gegen den Idealismus fehlen durchaus,

— hier spricht ein Kenner. Einsichtsvoll redet St. von Kants Autonomiegedanken
(S. 109, 326), dessen Wahrheit er in der theo-
zentrischen Autonomie der christlichen Humanitas seinerseits zur
Geltung zu bringen sucht (S. 54). Das sich selbst setzende Ich
Fichtes wieder wird für das Verständnis von Person und Persönlichkeit
fruchtbar gemacht, — am einseitigsten, doch nicht ungerecht
, wird vielleicht Hegel beurteilt. Diese christliche Humanitas
berührt sich nahe mit dem griechischen wie dem deutschen Idealismus
; bestimmt grenzt sie sich zum düsteren Menschenbild des
Jansenismus und der Reformatoren ab: die menschliche Natur ist
durch die Sünde lediglich geschwächt, ihr Verhältnis zu den Ordnungen
wohl gestört, doch immer noch kann sie sich aufraffen,
das soll sie gerade. Und doch wird selbst von Luthers de servo
arbitrio mit vorsichtiger Zurückhaltung gesprochen (S. 366). Wie
vom Idealismus Fichtes, anders als bei Hegel, der im Grunde nur
die Freiheit des absoluten Geistes kenne, wird die Freiheit des
Menschenwesens, seine Wahlfreiheit, wie die Freiheit des Wollens
durch das ganze Buch verfochten; hier ist das eigentliche Pathos
dieser katholischen Anthropologie. Die Probe darauf ist das letzte
Kapitel, in welchem die gegnerischen Behauptungen in allen
Schlupfwinkeln aufgesucht und aufgelöst werden.