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Ausgabe:

1953

Spalte:

44-46

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Leisegang, Hans

Titel/Untertitel:

Denkformen 1953

Rezensent:

Schultz, Werner

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sich gegenseitig seelisch, aus den Seelengründen heraus zu verstehen
.

In der epistemologisch-methodischen Sektion kam der Hiatus
zwischen Ost und West besonders scharf zum Vorschein.
Die induktive Methode des Westens wurde vom Osten zwar als
ein auch gangbarer Weg zu einer Reihe von Erkenntnissen anerkannt
, jedoch als gänzlich bedeutungslos für die Erkenntnis des
„Selbst" und aller höheren Tatbestände, die überhaupt nur mittels
der intuitiven Methode erfaßt werden können. Konnten
diesem Gesichtspunkte die Vertreter des Westens nicht direkt
widersprechen, da sie nicht in der Lage waren, eine andere Weise
zur Feststellung des „Selbst" entgegenzusetzen, und ließ sich von
hier aus die Sicht auf eine gewisse Einigung eröffnen: so mußten
sie doch stark geltend machen, daß eine intuitiv zustande gekommene
Erkenntnis nicht in Worten mitteilbar und daher als Grundlage
einer Kultur unbrauchbar sei. Von der anderen Seite mußte
zugestanden werden, daß die Mitteilung in Worten unmöglich sei,
wie sie denn auch nicht versucht wird; der wortlose Unterricht
wurde sonderlich von Suzuki in seinem Vortrage demonstriert.
Worte, mit denen man die intuitive Erkenntnis beschreiben will,
bleiben sinnlos, zumindest für denjenigen, der nicht selber die
Intuition erfahren hat. Das der westlichen Kultur eigentümliche
Mißtrauen gegen alle esoterische Erkenntnis kam in dieser Aussprache
scharf zum Ausdruck.

Soweit Bericht und Protokolle vorliegen, berührt es seltsam,
daß von den Vertretern der Kultur des Westens die wirkliche
Stellung Kants zur Metaphysik weder in der methodologischen
noch in der metaphysischen Sektion zur Geltung gebracht worden
ist. Auch der gewichtige Beitrag Schellings zur intuitiven Methode
wurde, wenn er auch von seiner Zeit als überschwenglich
empfunden, audi von dem ihm folgenden Jahrhundert bei dessen
ausschließlich „exakt" sein sollender Wissensdiaft nicht ergriffen
wurde, nur seitens des indischen Philosophen Ruja gewürdigt.

Von Einzelheiten interessiert: 1). Die bekannte Stellung Northrops,
in der die erkenntnismethodische Differenz zwischen Ost und West
aufs stärkste betont ist, erhielt in dem Harvard-Philosophen John Wild
einen fulminanten Kritiker. 2). Suzuki unterstrich in seinem Vortrag
über Intellekt und Intuition im Buddhismus den Kontrast besonders
scharf. 3). Der Mönch Nikhilananda, sich streng an den Vedanta haltend,
wertete die feinen Unterschiede zwischen den zahlreichen vedantisdicn
Schulen als eine Fülle der durch dieselben tatsächlich auszuschöpfenden
Einen Realität. 4). Von mehreren Seiten wird wieder und wieder die
Shakti-Theologie herangezogen, die sich ja im heutigen Hinduismus besonderer
Beliebtheit erfreut und benützt wird, um das Verhältnis des
persönlichen Gottes Hari zur Welt zu beleuchten: Naturobjekte und
menschlidie Individuen sind die bunte Vielfältigkeit der Selbstäußerungen
der göttlichen Energie, eben der Shakti.

Indessen ist erfreulich, daß trotz der fundamentalen Differenzen
ein weitgehendes Entgegenkommen in der Frage der Metaphysik
erzielt worden ist. Allgemein wurde der These zugestimmt
, daß es im Universum einen Faktor gibt, dem das menschliche
Leben untergeordnet ist; nicht bloß in Beziehung auf die
organische Struktur des menschlichen Wesens, dessen Zusammenhang
mit der tierischen Organisation ebenfalls allgemein bejaht
wurde. Das Wesentliche war und blieb, daß das Universum von
einer Macht getragen wird, auf die religiöse Erfahrung und Verehrung
und alle geistlichen Funktionen des menschlichen Individuunis
hingerichtet sein sollten.

Ferner wurde einmütig bejaht, daß in dem menschlichen
Reiche der Welt ganz allein die individuelle Person Träger der
geistlichen Funktionen ist, während die Gruppe keinerlei Erhöhung
der geistlichen Fähigkeiten hinzubringt. Ausdrücklich wurde
hierzu erwähnt und fand allgemeine Billigung, daß die soziale
Determiniertheit des Individuums eine durchaus bescheidene Rolle
spielt. Dem entspreche, daß die Vollkommenheit und Güte des
Charakters sowohl vom individuellen wie vom kulturellen Urteil
unabhängig ist.

Die alte Streitfrage über die Stelle des Ethos in den orientalischen
Kulturen führte, wie zu erwarten, zu einer ausführlichen
Erörterung des Problems der Begründung einer Ethik. Vor
allem wurde die Frage nach einer metaphysischen Begründung
des Ethos aufgeworfen. Die meisten waren der Meinung, daß sowohl
im Osten wie im Westen die Ethik metaphysisch begründet
ward und wird. Wo immer eine Ethik ohne metaphysische

Grundlage auftritt, da erweist sie sich als Unmoral, oder, in den
Worten von Charles Moore, der die Notwendigkeit der metaphysischen
Grundlage aller Ethik klar sieht: „Wenn es keine Universalität
der Seele und kein volleres Leben und kein weiteres Bewußtsein
(sc. als das materialistisch-selbstisch bestimmte) gibt,
mit dem die individuelle Seele identifiziert werden kann, dann
läßt sich die ethische Pflicht nicht rechtfertigen." „Jede Lebensphilosophie
hat ihren metaphysischen Unterbau d. h. eine philosophische
Auffassung von dem Wesen der Realität als einer
Ganzheit."

Vertreter beider Hemisphären betonten, daß die meisten
Schulen beiderseits der Ethik der Liebe die zentrale Stelle geben;
das confuzianische j e n (dies sei spezifisch für Kongtse, da der
Ausdruck vor ihm selten erscheine), wurde als isopolar dem
a h i m s a der Hindu- und Jaina-Tradition sowie dem buddhistischen
Mitleid und der christlichen Liebe zugesellt. Beachtlich waren
die Ausführungen über Moksha, die den ursprünglichen Begriff
der Befreiung von Lebens- und Bewegungshemmungen und
egoistischer Blendung auf die positive Ebene der Gewinnung volleren
Bewußtseins hoben, wie es etwa D. S. Sarma neuerdings in
seiner „Renaissance des Hinduismus" getan hat. Es war ein entschiedener
Mangel, daß auch hier nicht die westliche Parallele erwähnt
und in Vergleich gezogen wurde; zumal angesichts der auffallenden
Analogie, die in der Gestaltung des Heilsbegriffs im 16.
Jahrhundert (klassisch etwa bei Melanchthon und seinen Gegnern)
geprägt wurde.

Noch sollte ich wohl sagen, daß mehrfach versucht worden
ist, in kurzen Formeln Vorschläge (ohne daß dies ausdrücklich
erklärt wurde) für praktisches Vorgehen zu stärkerer metaphysischer
und religiöser Angleichung zu bilden. Neben demjenigen
von Northrop steht der von dem Rajputanaer Philosophen Raju
in folgender Wendung: „Die indische Philosophie sollte Elemente
der westlichen Philosophie aufnehmen, um ihre einseitige Beschäftigung
mit dem spirituellen Sein zu ergänzen; und der Westen
könnte in den tieferen Schichten des indischen Denkens Ergänzung
finden. Die westliche Philosophie sollte es als nützlich
erachten, den Menschen nicht bloß als ein Produkt materieller
Atome (Materialismus) oder als ein Produkt der Gesellschaft
(nach Mead und Dewey) zu verstehen, sondern als das Produkt
des Großen Geistes, als ein geistiges Wesen."

Wer möchte wohl leugnen, daß es ebenso das gebieterische
Ideal der Religion wie dasjenige der Philosophie ist, universal zu
sein, in universalem Geiste wohlmeinender Zusammenschau den
Umstand zu vergegenwärtigen, daß Religion, wo immer sie als
erdhaft gewordenes Himmelskind planetarisch wirken will, eine
Sendung des Einen Geists ist, der unentwegt eine kosmisch-planetarische
Geschichte zu jenem Ende leitet, welches vorzeitlich
bestimmt worden ist Iv rolg tnovQavioiq (nach Eph.), in jener
Transzendenz, der menschlicher Geist nur intuitiv nahen kann.
Das mag unendlich fern erscheinen, ein Ziel daher, das nicht in
einem Anlauf gewonnen werden kann. Es bedarf unzähliger Versuche
in freundschaftlich einander verstehenden Aussprachen, in
denen kleinste Keimchen rein geistiger Empfindungen, Ideen,
Gewißheiten, Wahrheiten, Schauungen erzeugt, übertragen und
verbreitet werden, aus denen einmal in vielleicht stetem Fortgang
, wenn es des Allwalters Wille ist, die ersten Ansätze des
künftigen Gartens Eden gedeihen können.

Chicago Karl Bett

Leisegang, Hans: Denkformen. 2. neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruy-
tcr 1951. VII, 457 S., 11 Fig. gr. 8°. Lw. DM 30.-.

Die neubearbeitete Auflage des Werkes von Leisegang, das
bereits im Jahre 1928 erschien, unterscheidet sich von der 1. Auflage
besonders durch eine neue umfassende Einführung in das
Problem der Denkformen und die bei der Auflösung dieses Problems
angewandte Methode. Als wertvolle Ergänzungen sind
außerdem Ausführungen über Gottes Denken und ein Kapitel
über dal euklidisch-mathematische Denken hinzugefügt. Die
ursprüngliche Gesamtaufgabe dagegen ist dieselbe geblieben:
„in das weite Feld der abendländischen Geistesgeschichte ein
paar tiefe, das Ganze durchschneidende und vorläufig gliedernde
Furchen" zu ziehen, wie es in dem Vorworte zur 1. Auflage
heißt, bei voller Erkenntnis des Sachverhalts, daß ihre Lösung