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Ausgabe:

1953 Nr. 10

Spalte:

610-612

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Santayana, George

Titel/Untertitel:

Die Christusidee in den Evangelien 1953

Rezensent:

Oepke, Albrecht

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 10

610

barung zurück; man fragt nach allgemeinen Zusammenhängen
und Parallelen und gerät damit in_ Gegensatz zu dem eigentlich
dogmatischen Denken. Es besteht die Gefahr, daß der theologische
Aspekt durch einen psychologischen oder religionsphilo-
sophischcn ersetzt wird. In der Nachkriegszeit (der Periode
nach 1919) entfaltet sich in unserer Wissenschaft die form-
geschichtliche Methode (M. Dibelius, R. Bultmann), die in ihrer
Auswirkung ebenfalls eine exegetische Wende bedeutet. Die
Verkündigung, das göttliche Wort trägt Entscheidungscharakter
und darf nicht verwechselt werden mit einer objektiven Geschichte
. Die literarkritische und religionsgeschichtliche Skepsis
dient letztlich nur dazu, die Besonderheit dessen, was die neu-
tcstamentliche Verkündigung meint, hervorzuheben. Die Formgeschichte
zwingt dazu, die historisch-psychologische Betrachtungsweise
durch eine neue theologische zu ersetzen (a. a. O. 61).

Entscheidend wird aber in dieser Entwicklung der modernen
Exegese die Auseinandersetzung mit dem philosophischen
Seinsverständnis und der Geschichtsphilosophie
. Es geht ja um die Glaubensdeutung, die der Exeget in seine
wissenschaftliche Methodik einarbeitet und die gerade bei einem
Exegeten wie E. Lohmeyer besonders umstritten ist. E. Lohmeyers
Auslegung muß im Zusammenhang mit der philosophischen
Arbeit von R. Hönigswald (1875—1947) gesehen werden.
Er unterscheidet rein theoretische, kritisch-historische und rein
historische Wissenschaft. Seine eigene wissenschaftliche Methode
will kritisch-historisch sein, d. h. er will dem historischen Material
sein volles Recht einräumen, dabei aber eine apriorische
Begrifflichkeit und Normfindung anwenden (a. a. O. 124). Eine
,.pneumatische" Exegese lehnt er bewußt ab: „Es handelt sich
hier um eine methodische Forderung, die für jede Wissenschaft
schlechthin gültig ist, und alle historische Forschung ist strenge
kritische Theorie, und alle Theorie exakte Tatsachenforschung"
(E. Lohmeyer, Deutsche Theologie 2, 1929, 55). Ein Prüfstein
für die im engeren Sinn theologische Fragestellung ist auch hier
der G 1 a u b e n s b e g r i f f; E. Lohmeyer spricht vom „Erleben
eines höchsten, nicht nur allen Bedingungen entrückten, sondern
schlechthin und grundsätzlich bedingungslosen Gewißheits-
wertes" („Vom Begriff der religiösen Gemeinschaft" 1925, 22).
Die Selbständigkeit der Religion und ihre Verbundenheit mit der
Erfahrung des Menschen kommen in dieser Definition genügend
zum Ausdruck; aber ein derartiger Umschreibungsbegriff v/ie der
des Erlebnisses soll einerseits eine Metaphysik des Glaubens
voraussetzen, anderseits die im Subjekt ruhende Transzendentalanschauung
zur Geltung bringen. Die Wirklichkeit des zeitlichen
Geschehens und des personhaften Erlebens hängt mit einem
Reich des Glaubens zusammen, von dem die Bekenntnisse aller
Zeiten immer wieder reden.

E. Esking gelingt es, die erkenntnistheoretischen und philosophischen
Hintergründe der Theologie E. Lohmeyers aufzuzeigen;
es ist aber nur folgerichtig, daß er nicht bei einem Gesamtbild
stehen bleibt, sondern daß er kritische Fragen sowohl
an die exegetische Methode wie auch an die Darstellung des Urchristentums
richtet (a.a.O. 126; 135; 208 f.; 242). Unser Verfasser
hat gut zusammengefaßt, warum es uns unmöglich ist, die
Konstruktion von E. Lohmeyer auch heute noch zu vertreten.
Und doch hätte ich es gewünscht, daß die eigene theologische
Position des Verfassers noch deutlicher und klarer herausgetreten
wäre. Wir haben E. Lohmeyer wegen mancher historischen Untersuchung
und exegetischen Einzclbeobachtung, die ihren bleibenden
Wert behalten, sehr geschätzt. Vor allem aber war uns sein
Ziel, zu einer Verständigung zwischen systematischer und historischer
Betrachtungsweise zu gelangen, besonders wichtig; um
dieses Zieles willen hat er seine eigene Bedeutung in der exegetischen
Forschung. An dem gleichen Ziel arbeiteten die Vertreter
der neutestamentlichen Wissenschaft, die sich weder mit
dem Anspruch von K. Barths „Römerbrief" (2. Aufl.) noch den
Pragmatischen Feststellungen des Lietzmannschen Handbuches
begnügen konnten. Nicht das Ziel, wohl aber der von E. Lohmeyer
eingeschlagene Weg löst Bedenken aus. Wenn E. Esking
(a. a. O. 242) feststellt, daß nach E. Lohmeyer der Glaube eigentlich
über die Geschichte hinaus führt, und daß seine Verwirklichung
das Ende der Geschichte bedeutet, dann zeigt sich

darin die ganze Schwierigkeit der Konstruktion. Der Ernst der
Geschichte geht verloren, wenn nicht im geschichtlichen Vorgang
selbst das Geheimnis des göttlichen Wirkens gesehen wird.
Offenbarung ist ja nicht „Enthüllung eines wahren Seins", sondern
schaffendes Wort des lebendigen Gottes. Alle Begriffe und
Definitionen müssen daher geprüft werden, ob sie diesem Anspruch
, der in der Geschichte liegt, genügen. Wir arbeiten auch
heute noch an diesem Ziel einer echten Verbindung zwischen
systematischer und historischer Betrachtung, bei der das Eigenrecht
des exegetischen Tatbestandes sein volles Eigenrecht empfängt
. Ich glaube auch, daß wir hermeneutisch über die
von E. Esking gegebene Darstellung des Problemkreises heute
hinausgewachsen sind. Die Besonderheit der reformatorischen
Schriftauslegung ist uns in den letzten Jahren immer deutlicher
geworden, und wir wissen, daß es uns nicht leicht fallen darf, zu
Konstruktionen zu kommen, die sich nicht mehr vor der reformatorischen
Schriftauslegung rechtfertigen können. Es ist nun
eine Erfahrung des täglichen Lebens, daß der Hinweis auf die
reformatorische Schriftauslegung keineswegs zu einer bestimmten
Lösung theologischer Probleme führt, daß er aber zur methodischen
Klärung verhilft. Es fällt mir auf, daß die Untersuchung
von E. Esking wohl die enge Berührung E. Lohmeyers mit bestimmten
philosophischen Strömungen herausstellt, aber von
einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der reformatorischen
Theologie nicht berichtet.

Es darf nun nicht so scheinen, als ob dies kritische Referat
über den Bericht von E. Esking die theologische Verbundenheit
mit E. Lohmeyer in Frage stellen soll. Sein exegetischer und
systematischer Weg bedarf der Klärung, und meine Gedanken,
die ich anläßlich des Berichtes von E. Esking vorlege, sind nur
eine Ergänzung des Berichtes von E. Esking. Es ist zu begrüßen,
daß unsere junge Generation die Möglichkeit erhält, E. Lohmeyer
als Theologen und Forscher zu verstehen und ernst zu nehmen.
In diesem Sinn begrüßen wir auch den Neudruck seiner letzten
Arbeiten in der jüngsten Zeit. Aber als einer, der sich mit besonderem
Interesse mit dem Werk des verehrten Toten beschäftigt
hat, ist es mir doch wichtig zu sagen, daß in seinem Grundansatz
eine theologische Schwierigkeit liegt, die keineswegs unbedenklich
ist.

Tübingen O. Michel

Santayana, George: Die Christusidee in den Evangelien. Ein kritischer
Essay. München: C.H.Beck 1951. VI, 268 S. gr. 8°. DM 12—-
Lw. 15.—.

Wenn ein in Spanien geborener Philosoph und Dichter, der
nach längerem Weilen in Amerika heute in Rom lebt, sich über
eine „Idee" verbreitet, so darf man auf Überraschungen gefaßt
sein. Ob sie erfreulicher Art sind, bleibt abzuwarten. Der Vcrf
will vor allem Fernerstehenden zu einem neuen Verständnis der
Evangelien helfen. Eigentlich historische Ziele verfolgt er weniger
. In einer mit „Inspiration" überschriebenen Einleitung rückt
er seinem Untertitel zum Trotz von einer rational-kritischen
Auffassung der Evangelien ab, fällt aber nun in das entgegengesetzte
Extrem, wenn er sich mit Spinoza zur scharfen Trennung
zwischen dem historischen Jesus und der göttlichen Christusidee
bekennt und die religiöse Begeisterung der Evangelisten mit der
Wirkung von Wein und Frühling in Dichtern und Liebenden
oder gar mit dem Opiumrausch oder der Geistesverfassung spiritistischer
Medien zusammenbringt. Die Evangelien sind das Ergebnis
einer „unterdrückten Traumfähigkeit der Psyche". Wenn
gleichzeitig der Hochkirchler Newman als Zeuge beschworen wird,
so ist das zwar interessant, macht aber die Grundauffassung noch
nicht überzeugend.

Die weiteren Darlegungen scheinen nun doch einen historischen
Anlauf nehmen zu wollen. Über eine Charakteristik der Evangelien,
die Erörterung der Begriffe Messias, Sohn Gottes, Menschensohn, über
die Wunder, Gleichnisse, Prophezeiungen, Gebote und Gebete Jesu
werden wir zur Passion und Auferstehung geführt. Aber der Schein
trügt. Die „Inspiration" siegt. Das Griechisch ist mangelhaft (vgl. die
Umschreibung des Lukasprologs S. 18). Joh. 8, 58 sucht der Verf. bei
Markus, die Emmausgeschichte bei Matthäus. Lk. 1, 34 wird auf ein
Keuschheitsgelübde der Maria gedeutet. Das „spekulative" vierte Evangelium
ist nach der Meinung des Verf. von Philo inspiriert, dessen