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Ausgabe:

1953 Nr. 10

Spalte:

585-592

Autor/Hrsg.:

Fendt, Leonhard

Titel/Untertitel:

Die Einübung des Neuen Testaments 1953

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 10

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nis des göttlichen Heiles. In den ältesten Zeiten gab es aufgrund
des Gottesglaubens eine ungebrochene allgemeine Gewißheit
von Gottes Segen (Gen. 49; Num. 24). Aber dann folgt die
schwierige Zeit, in welcher man lernen mußte, daß nur der an
Gottes Herrschaft Anteil bekommt, der das tut, was Gott im
Alltag von ihm fordert: Gerechtigkeit und Liebe im Umgang
mit dem Nächsten. Die Propheten wissen, daß nur ein Rest das
Gericht überstehen wird, während der Messias als Zweig aus der
Wurzel Isais entsprießen wird und leben aus dem Geiste Gottes.
Aber als nach dem Gerichte, das Gott durch das Exil am Volke
vollstrecken ließ, sich der Rest nicht erheben will und die Geretteten
sich nicht oder kaum als Rest bewähren — da begreift
der letzte große Prophet während der Verbannungszeit wieder
etwas Neues: er weiß von der Notwendigkeit einer zweiten Erlösung
des Volkes, von der Aufgabe der Reinigung, von der
Sühnung der Sünden des Volkes — und so von dem Leiden,
das allein das Volk zu neuem Leben erwecken kann: vom stellvertretenden
Leiden dessen, der sein Volk reinigen wird. So
wird am Ende des geistlichen Lebensweges in das entscheidende
Zentrum der Zukunftserwartung die Verheißung der Reinigung,
der Sühne gerückt. Damit aber wird die Hoffnung ihrer Vorstellungsform
nach - in ihrer Mitte: die Heilsgestalt - vollkommen
umgebildet. Was nach dieser Zeit kommt, ist doch
tatsächlich Nachgeschichte. Erst im Christentum geht das Verstehen
weiter, weil dann durch einen Einzigen, Jesus von Nazarcth,
dieser Weg zu Ende gegangen wird und so in Ihm wieder Neues
geschaffen wird.

Wir wissen, wie es den Heilserwartungen Deuterojesajas in
der Geschichte gegangen ist. Die letzte, tiefste Fassung der Zukunftsverkündigung
hat in Israel nur sehr wenig Anklang gefunden
. Vor Christus lassen sich in der Theologie kaum Anspielungen
darauf nachweisen. Denn tatsächlich sind es die alten
Bilder des politischen Messianismus, die immer wiederkehren
und den Geist des Volkes gefesselt halten. Neben diesen politischen
Erwartungen finden sich die mehr vergeistigt-apokalyptischen
, welche z. B. im Danielbuch die Gestalt eines „Menschensohnes
" schaffen, die — sei es kollektiv, sei es individuell verstanden
— immer mehr die Heilsgestalt der Zukunft wird.
Auch wird die Heilserwartung angewendet auf das individuelle
Leben, wobei sich zwei Linien unterscheiden lassen: eine apokalyptische
, die zum individuellen Auferstehungsgedanken fortschreitet
(Jes. 26; Dan. 12); und eine andere, die Sicherheit anbietet
in der Gewißheit von Gottes Nähe auch im Tode (Ps. 73).

Wir lernen aus dem AT: wie die Gemeinde, die die Hoffnung
auf Gottes Herrschaft kennt, nicht nur jeweils durch Krisen
in die Entscheidung gezwungen und immer wieder zur
Buße und Bekehrung gerufen wird; sondern auch: wie sie
in dem Knechte Gottes zum Leiden berufen und in dieser Gestalt
zur Herrlichkeit vorherbestimmt wird.

Die Botschaft der biblisdien Hoffnung, wenigstens vom AT
her gesehen, kann nur verkündigt werden:

1) von der freudigen Glaubensgewißheit aus, daß Gott lebt
und sorgend bei uns ist;

2) von der sicheren Heilsgewißheit aus, daß Ihm die Welt
von heute gehört und daß Er seine Herrschaft nun und in
der Zukunft offenbaren wird;

3) in der unumgänglichen Überzeugung, daß die Welt weit
entfernt ist von der Herrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit
Gottes, ja daß, je mehr der Gläubige den Namen
Gottes zu tragen bereit ist, er desto stärkeren Widerstand
in der Welt erweckt;

4) mittels eines Aufrufes an Kirche und Welt zur Bekehrung,
weil nur der an Gottes Herrschaft Anteil erhält, der dem
Willen Gottes gehorsam wird;

5) darum darf die Kirche die Botschaft der Hoffnung der
Christenheit und der Welt nur dadurch ausrichten, daß sie
gleichzeitig den Menschen an die Gestalt des 'ebed Jahwe
erinnert: an den, der den Dienst der Sühne, der Reinigung
der Welt von ihren Sünden vollendet hat. Gott ist
der Gott des Lebens. Er wird da als Gott des Lebens
erkannt und erfahren, wo man das Leben zu verlieren bereit
ist, um Ihm zu dienen in der Nachfolge des Gekreuzigten
und Auferstandenen.

*

Die Verkündigung vom Kommen der Gottesherrschaft hat
immer ihre Gefahren. Sie treten nach zwei Richtungen hin ernsthaft
auf: sowohl dann, wenn die Herrschaft Gottes zu unmittelbar
mit dem Geschehen auf Erden verbunden wird; als auch
dann, wenn man sie von dem hiesigen Leben völlig loslöst.

Wenn es nur Gottes Herrschaft ist. die man verkündigt,
die Herrschaft dessen, der allein die Hoffnung der Gläubigen
(auch der individuellen) ist; dessen, der die Seinen bereits hier
in der Welt zu seiner Herrschaft eingehen läßt — dann wird
man selbst nicht fehlgehen und andere nicht in die Irre führen.

Die Aufeinanderfolge der unterschiedlichen Formen der alt-
testamentlichen und der neutestam entlichen Hoffnung sollten die
Theologen sehr bescheiden und sehr vorsichtig machen, wenn es
sich darum handelt, die Formen der künftigen Herrschaft zu umreißen
und etwa eine bestimmte Form zu predigen.

Andererseits aber sollte der Christ, der die Hoffnung zu
bezeugen hat, nicht eine solche Vorsicht anwenden, daß darüber
die Hoffnung ganz ins Allgemeine gewandt würde. Das würde
nur einem ganz oberflächlichen Optimismus Vorschub leisten.
Darum soll man in Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen
, Form und Maß für die christliche Glaubenserwartung
finden.

Ein bekanntes Wort von Blumhardt variierend, könnte
man das, was die Kirche als Zeugnis des Glaubens und der Hoffnung
zu verkündigen hat, in folgende Formulierung fassen: Der
Gekreuzigte ist Sieger; d.h.: Unsere Hoffnung ist das Reich
Gottes, unser Weg dazu ist Jesus, der Gekreuzigte, der uns ruft
zum Leidenskampf — zur Heiligung der Welt.

Die Einübung des Neuen Testaments

Von Leonhard Fendt, Augsburg

Es handelt sich hier um die meistgedruckte, meistgekaufte
"nd meistgelesene Literatur zum NT. Man nennt sie, vielleicht
etwas hölzern, „Praktische Exegese" — sie selbst weiß sich als
••Dynamit". Diese Literatur, von den Wissenschaftlern übersehen
oder mit Humor gelesen, kann man nicht wichtig genug nehmen,
obgleich sie zur Erforschung des NT wenig beiträgt; denn diese
Literatur ist es, welche das Schicksal des Bibelchristentums in
Händen hat. Ihre Kraft liegt in der Einübung des NT, das
NT selbst wird dabei als genügend erforscht oder auch als sich
selbst darlegend vorausgesetzt. Diese Einübung nun geschieht
in einer Skala von erstaunlichem Umfange: unten die einfache

dung des Inhaltes für die Gegenwart, die bis zu einer Neugestaltung
führen kann. Wenn auch nicht alle Grade dieser Skala
„Kunst" anzeigen, so drängt doch alles auf „Kunst" hin, auf die
Kunst der Einübung des NT — die genannte Skala ist
im Grunde doch eine Skala dieser Kunst, und der Künstler sind
viele, hervorragende, unterschiedliche. Es müßte nun selbstverständlich
sein, daß diese Künstler der Einübung des NT sich den
Inhalt des NT von der Wissenschaft vom NT darreichen lassen
— es ist aber nicht selbstverständlich, sondern eine beinah seltene
Ausnahme. Manche Künstler der Einübung des NT lehnen die
wissenschaftliche Forschung ganz ab; die Mehrzahl achtet sie,

Darlegung des Inhalts des NT für Lernbegierige, weiter oben i ohne sich allzutief mit ihr einzulassen; nur eine Minorität ist
verschiedene Grade der Popularisierung und vor allem Aktuali- ganz wach und weiß: Das NT einüben heißt, es zuerst kennen,
sicrung, ganz oben die geniale Nachempfindung und Neuempfin- I und die nüchterne Kenntnis haben die Wissenschaftler! Man