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Ausgabe:

1953 Nr. 1

Spalte:

39-41

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Hauck, Wilhelm A.

Titel/Untertitel:

Rudolf Sohm und Leo Tolstoi 1953

Rezensent:

Schoenfeld, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 1

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schung im einzelnen zu beschäftigen. Das gilt auch von dem
Abschnitt über „Natur" und „Wesen" der Urgemeinde (40-66).
Zum Problem der Divergenz von Kirchenbegriff und Gemeindebegriff
etwa wird auf das veraltete Werk von Puchta zurückgegriffen
, dem ein „rationalistischer" Gesamtkirchenbegriff freilich
unschwer nachzuweisen war, da es 1840 erschienen ist.

Am Mangel genügend breiter Fundierung leidet auch die
Polemik des Verf. gegen den „geistlichen" Charakter des kirchlichen
Rechts (67 ff.). Die überaus komplizierte Problemlage, wie
sie etwa neuerdings für Luther die Arbeiten von J. Heckel, für
Calvin die Studien von Bohatec und Baron (englisch), für Me-
lanchthon die Aufsätze Clemens Bauers herausgearbeitet haben,
wird nicht sichtbar. Die umfangreiche literarische Beschäftigung
der Studienabteilung des Ökumenischen Rats mit dem Problem
des Naturrechts blieb ebenso unbeachtet, wie die dazu seit 1945
in Frankreich (Ellul), England, Holland und Deutschland erschienenen
Bücher — obwohl der Verf. das Gemeindeprinzip ein „Naturrecht
" der Kirche nennt. Die ausgewertete kirchenrechtliche
Literatur von juristischer Seite, wie etwa G. Jellineks Allgemeine
Staatslehre oder R. Stammlers Schriftchen über Kirche und Recht,
ist kurz nach 1920 zum letzten Male aufgelegt oder entstanden;
sie erscheint schon deshalb und erst recht nach den Erfahrungen
der Kirchenkampfzeit als überholt.

Im übrigen bringt Verf. in seinen mehr allgemein-juristischen
Darlegungen über die „Kernform" und die „Abwandlungen" des
Gemeindeprinzips unter kirchlichem, staatlichem und privatem
Einfluß (135, bes. 159 ff.) viel gute, beherzigenswerte Gedanken,
die sich für den Verfassungsneubau der Kirche in reformierten
Ländern nützlich erweisen können. Insoweit die Arbeit kirchen-
politisch notwendige Fragen stellt und die Richtungen andeutet,
in denen ihre (vom Gemeindeprinzip her) zweckmäßige Lösung
liegt, erscheint sie originell und wertvoll.

Um freilich kirchenrechts-historisch und -dogmatisch, theologisch
und geistesgeschichtlich das „Gemeindeprinzip" als christo-
kratische und bruderschaftliche Organisationsform der Kirche
wirklich begründen und damit die großen Werke von Sohm, Stutz
und Holstein durch ein neues, unserer zeitgeschichtlichen kirchlichen
Erfahrung entsprechendes Buch zu ersetzen, müßte noch
ganz andere Vorarbeit geleistet werden.

Freiburg i. Br. Erik Wolf

Hauck, Wilhelm-Albert: Rudolf Sohm und Leo Tolstoi. Rechtsord-
mins; und G'ottesreich. Heidelberg: Winter 1950. 286 S. gr. 8°. Lw.
DM 16.—.

Der theologisch, philosophisch und juristisch gleichermaßen
ausgewiesene Verf. gliedert sein gelehrtes, seinem Lehrer Gustav
Radbruch gewidmetes, förderliches Buch in fünf Kapitel, die also
überschrieben sind: A. Geschichtliche und religionsphilosophische
Voraussetzungen. B. Rudolph Sohms theologische und kirchen-
rechtsgeschichtliche Position. C. Leo Nikolajewitsch Tolstoi.
D. Leo Nikolajewitsch Tolstoi und Rudolph Sohm. E. Rechtsphilosophische
und theologische Grenzfragen. — Der einfache und
zutreffende Grundgedanke des Buches ist der, daß Sohm die Frage
nach dem Recht des Kirchenrechts in einer höchst verdienstlichen
Weise aufgeworfen, aber zu Unrecht völlig verneint habe.
Und zwar deshalb, weil er die Kirche ohne weiteres mit dem Reiche
Gottes gleichgesetzt habe, was unzulässig sei (S. 143, 154,
248). „Sohm hat gleichsam den Satz des Johannes-Evangeliums:
6 Xoyoq ortpf lyhero nicht ernst genug genommen" (S. 251).
Zwar zeige die geschichtliche Erscheinung Jesu „die völlige In-
kommensurabilität von Recht und Christusbotschaft" (S. 265);
aber in dieser unvollkommenen Erdenwelt seien restlos ideale
Verhältnisse „höchstens anzuvisieren", jedoch nicht durchzuführen
. „Völlig wirklichkeitsfremde Extremlösungen", wie Sohm sie
anstrebe, seien deshalb zu vermeiden, wobei uns die ebenso
tröstliche wie überraschende Versicherung zuteil wird (S. 268):
..Zwischen Recht und Christentum besteht im gesunden Normalfalle
eine fruchtbare Wechselwirkung."

Wns ist zu dieser Grundanschauung des Buches zu snecn? Ich meine
folgendes: Wer zu den 99 Schriften über Rudolph Sohm eine 100.
fügt, muß entweder die alte Sache in einem neuen Lichte zeigen oder
wenigstens einen erschöpfenden Überblick über den Stand des Gespräches
, das seit sechzig lahren im Gange ist, geben, was sehr verdienstvoll

sein kann. Ein drittes aber scheint nicht gut möglich, zumal in einer
Zeit mit soldien Druckschwierigkeiten wie der heutigen. Von diesen
beiden Möglichkeiten scheidet die zweite im vorliegenden Falle aus.
Denn das Literatur-Verzeichnis, das der Verf. vorlegt, ist ebenso lückenhaft
wie die Auseinandersetzung mit dem Schrifttum unzureichend. Das
bedeutende Buch von Georg Wehrung, Kirche nach evangelischem Verständnis
1945, das wesentlich der Frage Sohm gewidmet ist, ist nicht
einmal erwähnt. Offenbar also hat der Verf. nur die erste Möglichkeit
in Erwägung gezogen, worüber sidi reden ließe, wenn es mit der nötigen
Gründlichkeit geschähe. In dieser Hinsicht stimmt es uns allerdings
nachdenklich, daß er auf S. 154 und in seinem Literatur-Verzeichnis unter
den „nicht minder ausgezeichneten rein juristischen Arbeiten" Sohms
einen Beitrag zu seiner eigenen Festgabe aufführt, der begreiflicherweise
gar nicht von ihm ist, sondern von einem seiner Söhne, der sich damit
seine wissenschaftlichen Sporen verdienen wollte, was deutlich aus ihm
hervorgeht.

Solche Versehen können vorkommen und sind deshalb verzeihlich.
Schwerer aber wiegt, daß der Verf. sich begnügt hat, diese mit Recht
berühmten rein juristischen Schriften lediglich aufzuzählen, und zwar
in einer willkürlichen Auswahl. Denn hätte er sie gelesen, so wäre seine
Betrachtung über „Rudolph Sohms Stellung zum Recht" (S. 154-156)
wohl etwas gehaltvoller ausgefallen, als sie leider ist, was wir deshalb
bedauern, als hier der Schlüssel zu des Rätsels Lösung liegt, wenn uns
nicht alles täuscht. Hätte der Verf. auch nur die eine oder andere dieser
Schriften gründlich untersucht, so hätte ihm ihre Abhängigkeit von dem
völlig verweltlichten, abstrakt-formalen Rechtsdenken ihres positivi-
stisch-historistischen Zeitalters schwerlich verborgen bleiben können. Er
hätte dann gemerkt, daß Sohm im Stile dieses Reditsdenkens es liebt,
die Gegensätze so lange zuzuspitzen, bis sie ihre verbindende Mitte verloren
haben. Daß jeder wirkliche Gegensatz in einer Gemeinschaft gründet
, in einer Urgemeinschaft also, die nicht zerschnitten werden darf,
weil damit das konkret-materiale Gefüge des geschichtlichen Lebens zerstört
wird, dieser Gedanke, der Gedanke einer echten und rechten Dialektik
, einer Coincidentia oppositorum, war R. Sohm und seinem Zeitalter
durchaus fremd geworden. Er ist leider auch dem Verf. nicht genügend
gegenwärtig, weshalb er der Sohmschen „Dialektik" im Grunde
hilflos gegenübersteht, obwohl er ihre Ungerechtigkeit und deshalb auch
ihre fragwürdige Christlichkeit deutlich spürt (S. 66, 123, 137, 143, 154,
248).

Es ist dem Verf. leider nicht der befreiende Gedanke gekommen
, den durchaus fruchtbaren Vergleich von Sohm und
Tolstoi, der ihm am Herzen liegt, bis in seine Tiefen durchzuführen
. Denn dabei wäre er auf die Frage nach der Gerechtigkeit gestoßen
, die er nur am Schluß flüchtig streift (S. 269 ff). An der
Frage nach der Gerechtigkeit muß sich die Frage nach dem Recht
allen Rechts, also auch Sohms Frage nach dem Recht des Kirchenrechts
entscheiden. Ist es in der Gerechtigkeit begründet, dann ist
es gut, und ist es nicht in ihr begründet, dann ist es schlecht um
das Kirchenrecht bestellt. Darauf kommt es an; und alles andere,
es mag historisch oder theoretisch noch so reizvoll sein, ist bedeutungslos
. In diesem Lichte enthüllt sich uns die Schwäche
Sohms, der diese Frage nicht gestellt hat, weil er nicht eigentlich
kritisch, sondern dogmatistisch vorgeht, wie der Verf. mit Recht
andeutet (S. 108). Sohm dekretiert unermüdlich: „Das Wesen der
Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich; das Kir-
chcnrccht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch." Ob
das mit der Gerechtigkeit, die jeweilen auch die andere Seite
hört, vereinbar ist oder nicht, spielt keine Rolle. Sic volo, sie
jubeo, das ist Sohms Rede vom ersten bis zum letzten Wort.

Dieser starre Voluntarismus, diese „Eigenwilligkeit", wie
der Verf. sagt (S. 260), bricht immer wieder durch bei Rudolph
Sohm, am ergreifendsten an einer Stelle, die der Verf. anführt
(S. 146), ohne sie nach Gebühr zu würdigen. „Das Kirchenrecht
kann sein", so lesen wir in seinem Kirchenrecht (I S. 482), aber
„lediglich als Kreuz, welches die Kirche trägt. In Luthers mächtigem
Geiste, der sich gebadet hatte in den Tiefen des Evangeliums
, ist mit dem Christentum auch die ursprüngliche Überzeugung
der ersten Christenheit wiedergeboren worden: die Kirche
Christi will kein Kirchenrecht". Wer diese glanzvolle Rhetorik
durchschaut, weil er im Geiste von Ebr. 4 v. 12 kritisch ist. muß
sich verwundern, solches zu lesen. Denn das heißt ja mit klaren,
dürren, nüchternen Worten gar nichts anderes als: die Kirche
Christi will kein Kreuz, sie will das Kreuz nicht, das ihr Herr und
Meister gehorsam auf sich genommen hat, weil er nicht seinen,
sondern Gottes Willen wollte (Mt. 26 v. 39). Sollte sich hier
nicht der geheime Hochmut verraten, der der Sohmschen Leugnung
des Rechts des Kirchenrechts zu Grunde liegt, wodurch ihm