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Ausgabe:

1953 Nr. 1

Spalte:

31-32

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gilson, Etienne

Titel/Untertitel:

Der Geist der mittelalterlichen Philosophie 1953

Rezensent:

Hessen, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 1

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Denkens der Väter gewährt. Es geht dabei nicht nur um die Frage
der Vermittlung antiken Geistesgutes an die christlich-abendländische
Kultur schlechthin, auch nicht nur um die Kombination
der Denkmotive und -methoden, sondern zugleich und in all
dem um eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung, die auch den
Unterliegenden weithin doch Sieger sein läßt. Das hat der Verf.
klar und eindringlich herausgestellt und in einer den früheren
Untersuchungen dieses Fragenkreises gegenüber selbständigen
Weise dargetan.

Berlin . W. Elliger

KIRCHEN GESCHICHTE: MITTELALTER

G i I s o n, Etienne: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie. (Deutsche
Fassung von R. Schmücker.) Wien: Thomas-Morus-Presse im Verlag
Herder [1950]. XV, 467 S. gr. 8°. Lw. S 60.— ; DM 18.—.

Die 20 Kapitel dieses Buches sind Vorlesungen, die ihr Verfasser
als Gifford-Lectures 1931 und 1932 in Schottland gehalten
hat. In ihnen nimmt der bekannte Erforscher der mittelalterlichen
Philosophie Stellung zu der auch innerhalb des Katholizismus
umstrittenen Frage, ob es eine „christliche Philosophie" gibt.
Seine These lautet: Es gibt eine christliche Philosophie, und sie
tritt uns in der mittelalterlichen Philosophie entgegen. Der „Geist
der mittelalterlichen Philosophie" ist kein anderer als der „Geist
des Christentums, der die überkommene griechische Philosophie
durchdringt, sie innerlich umgestaltet und befähigt, eine spezifisch
,christlicheWeltanschauung' hervorzubringen" (S. V). Den Inhalt
der christlichen Philosophie bilden „all jene rationalen Wahrheiten
, die entdeckt, vertieft oder einfach tradiert wurden dank jener
Hilfe, welche die Offenbarung der Vernunft geleistet hat"
(S. 38). Darin unterscheidet sich also die christliche Philosophie
von jeder andern, daß sie die Offenbarung als unentbehrliche Helferin
der Vernuft betrachtet (S. 40). Wie die mittelalterliche
Philosophie unter Benutzung der Offenbarung als höchster Erkenntnisquelle
die Hauptthemen der Philosophie (Gott, Welt,
Mensch, menschliches Erkennen und Handeln etc.) behandelt hat,
wird dann vom Verfasser in tiefschürfenden Untersuchungen
aufgezeigt. Als „das Fundament, auf dem die gesamte christliche
Philosophie aufbaut", gilt ihm der Gottesbegriff des Ego sum qui
sum (Exodus, Kap. 3).

„Von hier an ist ein für allemal ausgemacht, daß .Seiend' der
Eigen-Name Gottes ist, und daß, wie Ephrem sagt und Bonaventura
wiederholt, dieser Name sein Wesen bezeichnet. Wenn nun
aber das Wort .Seiend' Gottes Wesen bezeichnet, so folgt daraus, daß
in Gott, und zwar nur in Gott, Wesen und Existenz identisch sind"
(S. 59). Hier wird man zwei Bedenken nicht unterdrücken können. Das
eine betrifft den Sinn der Exodus - Stelle. Man verkennt den Charakter
des biblischen Denkens, wenn man darin den Begriff des ens a se,
bei dem Wesen und Existenz zusammenfallen, ausgesprochen findet.
Treffend bemerkt dazu ein katholischer Theologe der Gegenwart: Es
soll hier „ganz bestimmt nichts über das metaphysische Sein Gottes
ausgesagt sein. Wer diese Stelle als Beleg für das dogmatische ens a se
anführt, beweist, daß er von alttcstamcntlichem Denken keine Ahnung
hat" (Franz Auer, Alttcstamentlichc Frömmigkeit, Nürnberg 1947,
S. 12). Aber auch dann, wenn jene Interpretation richtig wäre, könnte
man — und das ist das zweite Bedenken — den so gewonnenen Gottesbegriff
doch unmöglich als den genuin christlichen ansprechen. Der
Gott des Christentums ist der Gott der A g a p e. Sein Wesen spricht
sich nicht in dem Ego sum qui sum aus, sondern in dem Satz: Deus est
Caritas (1. Joh. 4, 16).

Damit haben wir bereits an die Grundlage der Gilsonschen
Sicht gerührt. Nur deshalb vermag er in der christlichen Philosophie
eine Fortsetzung und Vollendung der griechischen zu erblicken
, weil er die Eigenstruktur der beiden Geisteswelten, der
biblischen und der griechischen, nicht scharf genug sieht.

Um ihre Herausstellung hat sich bereits der englische Forscher
E. H a t c h in seinem auch heute noch lesenswerten Buch „Griechentum
und Christentum" (übers, von E. Preuschen, Freiburg 1892) bemüht.
Innerhalb der deutschen Philosophie hat vor allem Rud. E u c k e n
auf diesen entscheidenden Punkt hingewiesen. In seiner Schrift, „Die
Philosophie des Thomas von Aquin und die Kultur der Neuzeit"
(2. Aufl. Bad Sachsa 1910) heißt es: „Wenn Thomas alle Arbeit daran
setzte, Aristotclismus und Christentum zusammenzubringen, so konnte
das nur geschehen, weil ihm beider Welten Eigenart nicht in ihrer lebendigen
, treibenden und stoßenden Kraft gegenwärtig war, weil sein Mühen
viel weniger auf ein Erfassen vom tiefsten Grunde her, auf ein

Aneignen der letzten Triebfedern als auf ein Nebeneinanderausbreiten
und Zusammenbringen der einzelnen Ergebnisse gerichtet war" (S f.).
Ganz im selben Sinne betont Heinridi Scholz in seiner feinsinnigen
Studie „Eros und Caritas" (Halle 1929), daß es keinen Übergang von der
platonisch - aristotelischen Metaphysik zur Metaphysik des Christentums
gibt (S. 5 5). In der Theologie der Gegenwart haben vor allem
E. Brunner und Rud. Bultmann die Strukturverschiedenheit
des biblischen und des hellenischen Denkens ins Licht gerückt. In seiner
leider viel zu wenig beachteten Schrift „Wahrheit als Begegnung" (Berlin
1938) zeigt der Erstgenannte, wie unter dem Einfluß der griechischen
Philosophie der christliche Glaube durch Denkkategorien geprägt und
geformt worden ist, die mit denen der Bibel im Widerspruch stehen.
Von dem im Titel seiner Schrift genannten Grundbegriff bemerkt er:
Die Wahrheit, von der die Bibel spricht, ist von dem rationalen Wahrheitsbegriff
der Griechen völlig verschieden. Für die Bibel ist die Wahrheit
„immer ein Geschehen, und zwar das Geschehnis der Begegnung
Gottes mit dem Menschen, ein Tun Gottes, das in einem Tun des Menschen
aufgenommen werden muß. Die Wahrheit tun — das ist die charakteristisch
unphilosophische, ungriechische Art, wie die Bibel von der
Wahrheit spricht" (S. 155). Auch für den an zweiter Stelle genannten
Theologen stehen sich die biblische und die griechische Ideenwelt in
wesentlichen Punkten antithetisch gegenüber. Bezüglich der Auffassung
vom Menschen bemerkt er: „Es ist klar, daß das urchristliche Verständnis
des Menschen dem der griechischen Tradition radikal entgegengesetzt
ist" (Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen
, Zürich 1949; S. 200). In diesem Zusammenhang darf ich auch
wohl auf meine Arbeit „Piatonismus und Prophetismus.Die antike und
die biblische Geisteswelt in strukturvergleichender Betrachtung" (München
1939) hinweisen. In ihrem ersten Teil werden die beiden Welten
unter einem dreifachen Gesichtspunkt (Gottesidee, Weltbild, Idee des
Menschen) miteinander konfrontiert. Im zweiten werden die versuchten
Synthesen, insbesondere die thomistische, in ihrer Problematik im einzelnen
aufgedeckt.

Hätte Gilson alle diese Forschungen gekannt, so hätte er seine
These wohl weniger zuversichtlich aufgestellt. Er hätte sich
dann wohl die Frage vorgelegt, ob das, was er „christliche Philosophie
" nennt, überhaupt auf dem Boden des Christentums ursprünglich
entstanden ist. In Wirklichkeit ist es doch so gewesen,
daß das Christentum sich zu seiner begrifflichen Ausdeutung und
Ausformung einer Philosophie bediente, die auf einem ganz anderen
, nämlich griechischem Boden erwachsen ist. Mit Recht hat
Scheler betont, daß „die gedankliche und philosophische Ausprägung
dieser einzigartigen Revolution des menschlichen Geistes
in fast unbegreiflicher Weise versagt" hat. „Es gibt in diesem
Sinne und gab nie eine christliche Philosophie, sofern man unter
diesen Worten nicht, wie üblich, eine griechische Philosophie mit
christlichen Ornamenten, sondern ein aus der Wurzel und dem
Wesen des christlichen Giunderlebnisses durch selbstdenkerischc
Betrachtung und Erforschung der Welt entsprungenes Gedankensystem
versteht" (Krieg und Aufbau, Leipzig 1916, S. 411). Wer
sich das klar gemacht hat, muß Gilsons These die Zustimmung
versagen, mag er ihm auch für die lichtvolle Darstellung der
scholastischen Denkarbeit noch so dankbar sein.

Köln Johannes Hessen

Wcllner, Franz: Drei liturgische Reimhistorien. Aus dem Kreis der
Minderen Brüder. Lat. u. dt. Eingcl. u. formgetreu übers. München:
Köscl-Vcrl. [1951]. 155S. 8°. kart. DM 7.50.

Der Quellenwert der liturgischen Zeugnisse für die historischen
Wissenschaften ist schon seit langem anerkannt, wird jedoch
durch die vorliegende Arbeit wieder im Detail überzeugend
bestätigt. Der Hagiograph, wie der Dogmengeschichtlcr
werden für Ausgabe und Übersetzung dieser Reimhistorien
dankbar sein. Allerdings dürfte durch den Titel des Buches nur
ein kleiner Kreis auf seinen Wert aufmerksam gemacht werden.

Darum erklärt der Verf. im ersten Einleitungskapitel den
Begriff „Reimhistorie". Sie ist eine für das liturgische Beten der
mittelalterlichen Kirche typische Gebetsform, bei der sämtliche
Antiphonen (der Verf. schlägt als Übersetzung „Geleitchöre"
vor; ob nicht das inzwischen eingeführte ..Rahmenvers" treffender
ist?), Hymnen und Rcsponsoricn des Tagesoffiziums das Leben
des betreffenden Heiligen schildern oder das Geheimnis des
Festes lehrhaft beschreiben, und zwar in dichterischer Form. Die
bekanntesten dieser Reimhistorien sind wohl die hier veröffentlichten
und übersetzten Rcimoffizien auf die ML Franziskus von
Assisi und Antonius von Padua, die den Minderbruder Julian
' von Speyer zum Verfasser haben. So wurden das Vorbild