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Ausgabe:

1953

Spalte:

459-466

Autor/Hrsg.:

Fichtner, Johannes

Titel/Untertitel:

Die 1953

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 8/9

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erkannte wohl als erster, daß die moderne Art des kirchlichen
Handelns Mission sei, wofür freilich die technische Form der
„Evangelisation" und „Volksmission" nicht als gültiger oder
abschließender Ausdruck betrachtet werden darf. Er erkannte darüber
hinaus, daß damit die Kirche zu ihrem historischen Anfang,
aber auch zu ihrem sachlichen Ursprung zurückkehrte. Mission
als Wiederaufnahme der urchristlichen Situation bedeutete ihm

die Urform des kirchlichen Handelns überhaupt31. So löste er
sein Jugendprogramm in einer umfassenden Weise durch seinen
Lebensinhalt ein und verstand es, die Urwirklichkeit des Christentums
als wegweisendes Zeichen inmitten der modernen Welt
aufzurichten.

31) vgl. dazu neuestens J. C. Hoekendijk, Die Theologie des vierten
Menschen. Die Neue Furche 6 (1953), 391 ff.

Die „Umkehrung" in der prophetischen Botschaft

Eine Studie zu dem Verhältnis von Schuld und Gericht in der Verkündigung Jesajas

Von J. F i c h t n e r, Bethel

Die Propheten Jahwes, die nicht durch ihre Bindung an den
Staatskult und das Königtum grundsätzlich Heil verkündigen,
geißeln in ihrer Scheit- und Drohrede in mannigfaltiger Variierung
das Verhalten des Gottesvolkes, einzelner Schichten in ihm
und seiner Führer. Man hat sie daher oft als Moralprediger oder
Sozialrevolutionäre angesehen, oder ihre Botschaft aus politischen
Motiven hergeleitet. Diese Sicht des wahren Prophetentums in
Israel gehört schon seit längerer Zeit der Vergangenheit an1.
Die Propheten haben ihre Botschaft nicht aus einer besonders
tiefen politischen Einsicht oder sittlichen Erkenntnis geschöpft;
sie reden vielmehr in göttlicher Vollmacht und urteilen über
Vergangenheit und Gegenwart des Gottesvolkcs und deuten
seine Zukunft einzig und allein vom Handeln und Reden Gottes
her. Darum ist jedes einzelne Schelt-und Mahnwort in ihre grundsätzliche
Beurteilung hineinzustellen.

Ebenso ist die Botschaft dieser Propheten vom Gericht und
Heil nicht in einzelne Gerichtsakte und Heilsbilder aufzulösen,
wenn man wirklich erfassen will, worum es ihnen in ihrer Verkündigung
geht, sondern man wird dem grundlegenden Motiv
nachgehen müssen, das die Gerichts- und Heilsbotschaft beherrscht
. Dieses grundlegende Motiv — sowohl für das prophetische
Urteil über das Verhalten Israels als auch für ihre Botschaft
vom Handeln Gottes — ist die U m k e h r u n g. Die wahren
Jahwepropheten sehen das Verhalten Israels nicht als ein
gelegentliches Abweichen des Volkes vom Wege Gottes an, das
durch ein Einlenken in den rechten Weg wieder aufgehoben werden
könnte, sondern sie sehen darin eine völlige Umkehrung,
d. h. Verkehrung des angebotenen und geforderten Weges, und
sie verkündigen, daß Gott darauf im Gericht mit einer radikalen
Umkehrung des Geschickes seines Volkes antworten werde, und
daß er damit dann — in radikaler Umkehrung des gegenwärtigen
Standes — das Heil bringen werde.

Diese Erkenntnis vom Wesen der prophetischen Botschaft
ist heute weithin Allgemeingut der alttcstamentlichen Wissenschaft
; sie braucht daher grundsätzlich nicht weiter begründet zu
werden. Das Ziel der vorliegenden kleinen Studie ist es lediglich
, an der Botschaft eines Propheten die grundsätzliche Erkenntnis
von der „Umkehrung" bis in die Einzelheiten hinein
aufzuzeigen. Dafür scheint mir die Botschaft Jesajas besonders
gegeben; denn in ihr läßt sich jene Umkehrung bis ins Terminologische
hinein überraschend klar verfolgen.

I.

Jesaja hat in allen Perioden seines Wirkens, wie verschieden
auch jeweils die politische Lage war, das Verhalten des Gottesvolkes
als radikale Umkehrung des ihm von Gott gegebenen
und gebotenen Standes gebrandmarkt2. Es wäre reizvoll, das für
König, leitende Stände und Volk im einzelnen aufzuweisen; wir
werden das auch gelegentlich tun. Aufs Ganze gesehen erweist
sich freilich eine solche Aufteilung als unsachgemäß. Jesaja untcr-

*) Vgl. neben den neueren Kommentaren und Monographien zum
Prophetismus besonders G. v. Rad, Die falschen Propheten (ZAW 1933
S. 109 ff.) G.Quell, Wahre und falsche Propheten, 1952; H.-J. Kraus.
Prophetie und Politik (Theol. Exist. heute, NF 36, 1952).

') Das geschieht in längeren Reden und in kurzen prägnanten
Worten, die gelegentlidi den Abschluß einer solchen Rede bilden, in
bildhafter und in eigentlicher Redeweise.

Albrcclä Alt zum 70. Geburtstag

scheidet zwar hier und da zwischen dem Volk und den leitenden
Männern, die es verführen (1,23. 9, 15), und wendet sich auch
gelegentlich unmittelbar an den König (7, 1 ff. 10 ff.) und die
verantwortlichen Schichten des Volkes (1,10. 3,2. 5, 8 ff.; vgl.
auch 3, 16 ff. 32, 9 ff.); aber er weiß sich gegen das ganze Volk
gesandt (6, 9 ff.) und sieht das ganze Volk in der Abkehr von
Jahwe (1, 2 f. 8, 11 ff. 17, 10 ff. 30, 1 ff.), und daher trennt er
nicht immer zwischen dem Volk und seiner Leitung.

Israels Sein ist ein Sein aus Gott und sollte ein Sein für
Gott sein. Am Anfang seiner Geschichte steht Jahwes Tat an
ihm, die Hinwendung Gottes zu diesem Volk, das er durch die
Geschichte leitet und das er seiner Herrschaftsordnung unterwirft
. Was Jahwe an Israel tat, und was er von ihm als Antwort
auf diese Tat erwartet, das bestimmt für Jesaja die Beurteilung
der Vergangenheit und Gegenwart des Volkes. Der vorspruch-
artige Vierzeiler, der jetzt das Buch Jesaja einleitet, formuliert
im Blick darauf die Verkehrung des rechten Verhaltens Israels
klassisch:

„Söhne habe ich großgezogen und hochgemacht,
aber sie sind abgefallen von mir"3 (1, 2).

Die ganze Unnatur und Verkehrtheit dieses Tatbestandes
veranschaulicht der Prophet an dem Verhalten der unvernünftigen
Kreatur gegenüber ihrem Herrn: Ochs und Esel kennt und
anerkennt seinen Herrn, Israel nicht. — In gleicher Weise redet
der Prophet im Weinbcrgslicd von der Umkehrung. Der Herr und
Eigentümer des Weinbergs hat seinen Weinberg gehegt und gepflegt
und erwartete gute Trauben, er aber brachte Herlinge
(5, 1 f.); Gott wandte an sein Volk alle erdenkliche Liebe und
Mühe und erwartete aber erntete ^^p'?, er erwartete

fTPT"J» und erntete *T»Jf (5, 7)

Was für Jesaja die Hinwendung Gottes zu Israel bedeutet,
bringt er in der Gottesbezeichnung, die er wohl selbst geprägt
hat und oft verwendet, zum Ausdruck: »Vty, Der Erhabene
, dessen TOJ die ganze Erde erfüllt, der heilige Herr
der Welt, tritt mit Israel in eine besonders enge Verbindung,
er „bindet sich" an dies Volk, indem er es erwählt, mannigfaltig
beschenkt und führt, aber damit zugleich das Volk auch an
sich bindet und für sich fordert. Diese Erkenntnis steht im Hintergrunde
, wenn der Prophet im Namen Jahwes, des Heiligen
Israels, redet; sie klingt vor allem mit in seinem Urteil über die
Stellungnahme des Volkes zu seinem Gott. In völliger Verkehrung
des von Gott angebotenen und geforderten Standes in Vertrauen
und Gehorsam haben die DTPfflliM D,:a „Jahwe verlassen
und den Heiligen Israels verachtet" (1,4), haben nicht auf
ihn allein geblickt und ihn allein gesucht (31, lc; vgl. 5,12),
sondern sein Wort verachtet (5, 24. 30, 12) und sein Planen verspottet
:

„Es komme doch eilens und schnell sein Werk,
damit wir es sehen können;

3) Die Antithese der beiden Vershälften ist durch das betonte
Subjekt (CHI) besonders stark unterstrichen.

') Duhm gibt das Wortspiel von 5, 7 sehr treffend wieder: „Und
er hoffte auf gut Regiment, und siehe: Blutregiment, auf Rcditsprechung-
und siehe: Reditsbrcohung."