Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1953 Nr. 7

Spalte:

409-412

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Preiss, Théo

Titel/Untertitel:

La vie en Christ 1953

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

409

Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 7

410

wir Bach niemals zu begreifen. Jedoch die vielerlei Strömungen,
die bei Bach zusammentreffen, verwirren das Gesamtbild nicht;
denn sie werden allerdings in erster Linie durch den zentral wirkenden
lutherischen Glauben in einer geschichtlich einmaligen
Universalität musikalischen Schaffens im innersten Wesen zusammengefaßt
und vereint.

Anhangsweise sei noch auf die den Theologen besonders
angehende Frage nach der gottesdienstlichen Verwendbarkeit des
geistlichen Werkes von Bach, besonders seiner Kantaten eingegangen
. Nicht nur die Gestalt des Gottesdienstes, wie ihn Bach
zu seiner Zeit vorgefunden hat und damit im Zusammenhang die
gottesdienstliche Stellung seiner geistlichen Musik beschäftigen
uns heute in erhöhtem Maß — Christhard Mahrenholz hat
darüber seinen Festvortrag beim Göttinger Bachfest 1950 gehalten
*7 —, sondern darüber hinaus ist in letzter Zeit eine lebhafte
Diskussion über den gottesdienstlichen Charakter der Kantatenform
entbrannt. In kaum zu überbietender Schärfe hat Hermann
Keller (bis vor kurzem Direktor der Staatlichen Hochschule
für Musik in Stuttgart) die liturgische Unmöglichkeit der
Bachschen Kantaten vertreten und zwar sowohl im Hinblick auf
deren uns zum großen Teil völlig fremden Texte als auch auf
deren von der Oper her bestimmte musikalische Gestalt48. Infolgedessen
müssen die Bach-Kantaten nach Hermann Keller als
Fremdkörper im evangelischen Gottesdienst erscheinen. Das gilt
ungeachtet des unbestritten künstlerischen Wertes der Bachschen
Musik. Von der musikalischen Seite her betrachtet ist die Kantate
unverkennbar eine Spätform in der Gottesdienstgeschichte,
während diese sich bereits im Auflösungsprozeß befindet. Wiewohl
Hermann Keller in manchen seiner Urteile, wie z. B. bei
dem, was er über die Predigt des 17. Jahrhunderts (vgl. S. 1431)
oder über Bachs Parodieverfahren (vgl. S. 1432) sagt, gewiß zu
weit geht, so ist doch seine Stimme auf das Ganze gesehen nicht

„Zeitwende". 22. Jahrg. 1952. S. 25 ff., in dem ebenfalls der Gefahr
einer einseitigen Beurteilung Bachs begegnet wird. Köberle weist besonders
darauf hin, daß Bach an der verhängnisvollen Aufspaltung von
Seele und Geist sowie von Natur und Geist in der neueren abendländischen
Geistesgeschichte keinen Anteil hat und daß nicht zuletzt
darauf die Lebenskraft seiner Musik beruht. Ferner sei auf einen wichtigen
Beitrag von Rudolf Gerber (Prof. für Musikwissenschaft in
Göttingen) „Bachs Kunst in der Entwicklung des abendländischen Geistes
" in „Die Sammlung" 6. Jahrg. 1951 S. 65 ff. hingewiesen. Gerber,
dem wir auch eine tiefgründige Arbeit über „Formstrukturen in
Bachs Motetten" in „Die Musikforschung" 3. Jahrg. 1950 S. 177 ff. verdanken
, weist hier von musikgeschichtlichem Aspekt her in mancher
Hinsicht in gleicher Richtung. Schließlich nenne ich noch W. Gurlitts
Vortrag „J. S. Bach in seiner Zeit und heute" in „Bericht über die
wissenschaftliche Bachtagung" a. a. O. S. 51 ff., in dem — ähnlich wie
in des Verfassers in Anm. 21 zitierter Schrift — die soziologische und
geistige Umwelt Bachs in meisterhafter Sachkenntnis und Anschaulichkeit
dargestellt wird.

*') Vgl. Chr. Mahrenholz „J. S. Bach und der Gottesdienst
seiner Zeit" in „Musik und Kirche" 20. Jahrg. 1950 S. 145 ff., auch als
Schrift erschienen (Kassel: Bärenreiter-Verl. 1950. 16 S. DM —.90),
ferner Hans Arnold Metzger „J. S. Bach und der evang. Gottesdienst
seiner Zeit" in „Musik und Kirche" 20. Jahrg. 1950 S. 49 ff.

*8) Vgl. Hermann Keller „J. S. Bach und die Säkularisation der
Kirchenmusik" in „Universitas" 2. Jahrgang 1947 S. 1425 ff.

vereinzelt geblieben. Zwar ist ihm auch widersprochen worden,
so begreiflicherweise von Günther R a m i n, der sich in der Nachfolge
von Karl Straube mit der Pflege des Bachschen Kantatenwerks
besonders verdient gemacht hat. Ramin weist auf den
engen Zusammenhang der Bach-Kantate mit dem liturgischen
Detempore hin und redet einer vorsichtigen Neugestaltung von
uns allzu fremdartig anmutenden Texten durch einen berufenen
Dichter unserer Zeit das Wort49. Dennoch kommen die Stimmen,
daß die Form der Bach-Kantate zu unserer gegenwärtigen Vorstellung
vom evangelischen Gottesdienst in einer nicht auflösbaren
Spannung stehe, nicht zum Schweigen. Hier ist noch besonders
Rene W a 11 a u s Referat vom Lüneburger Kongreß
„Die kirchliche Bedeutung der Bachschen Musik" zu nennen3".
Wallau stellt zwar fest, daß die Bachsche Kantate (wie auch seine
Oratorien und Passionen) ein Liturgicum seien, aber sie sprengen
den Gottesdienst nach unserer heutigen Auffassung. Er kommt
daher zu dem Schluß: „Bachs große Werke kirchlicher Kunst
brauchen eine eigene Form kirchlicher Darbietung, die ihnen bis
heute die Kirche schuldig geblieben ist" (vgl. S. 110). Wiewohl
wir weitgehend Wallau zustimmen, so soll doch nicht verschwiegen
werden, daß dieser Standpunkt sehr nachdrücklich von Friedrich
Buchholz, dem Kantor von „Alpirsbach", angefochten
wird, der in dem „liturgischen Rahmen" von besonderen Kantate
-Gottesdiensten den fragwürdigen Versuch wittert, den Bachschen
Kantaten einen Verkündigungscharakter zu sichern. Wenn
das die tatsächliche Absicht solcher Gottesdienste wäre, hätte
allerdings Buchholz recht. Seine Warnung mahnt jedenfalls zur
Vorsicht und genauen Überlegung bei solchen Unternehmungen51
. — Trotz der zweifellos vorhandenen Problematik, die
der Bachschen Kantate sowohl von textlicher wie musikalischliturgischer
Seite her anhaftet, ist ihre volksmissionarische Bedeutung
in der Gegenwart kaum bestritten, wobei weniger an
die breite Menge der Gemeindeglieder, als an bestimmte Kreise
der Gebildeten gedacht werden muß. Dadurch wird freilich ihre
volksmissionarische Aufgabe nicht geringer. Hierin liegt das
Wunder der Bachschen Musik in unserer Zeit, daß sie trotz ihres
Alters eine einzigartige Wirkungsmacht besitzt, die keinesfalls
nur historisches Interesse und den Bereich des Ästhetischen berührt
, sondern über diese Welt hinausweist. Gerade darum aber
fordert sie die theologische Deutung6*.

49) Vgl. Günther R a m i n „J. S. Bachs Kantaten in heutiger Sicht"
in „Universitas" 3. Jahrg. 1948 S. 1159 ff.

w) Vgl. „Kongreßbericht Lüneburg 1950" a. a. O. S. 107 ff.

61) Vgl. Fr. B u ch h o 1 z „Liturgie—Lethargie" in „Evangelische
Theologie" Jahrgang 1949/50 S. 461 ff., besonders S. 463 f. Besonders
bemerkenswert ist auch die „Saarbrücker Bach-Rede" von Buchholz
(Saarbrücken: Saarländische Verlagsanstalt 1950. 15 S.). Ein eingehendes
Gespräch mit Friedrich Buchholz ist in diesem Zusammenhang nicht
möglich, da es sich allgemein mit dem Wesen des Gottesdienstes und
den Möglichkeiten der Musik in ihm beschäftigen müßte.

BS) Nach Drucklegung der vorliegenden Arbeit werde ich noch
auf folgende ausländische Arbeit aufmerksam, die in die Betrachtung
nicht mehr mit einbezogen werden konnte: Walter E. B u s z i n „Lutheran
Theology as reflected in the Life and Works of J. S. Bach in „Con-
cordia Theological Monthly", St. Louis, Dezember 1950.

ALLGEMEINES

ft2 lß' Th6° f : La Vie en Cnrist- Prcface de Roger Mehl. Neu-
aiatel: Delachaux & Niestie 1951. XX, 201 S., 1 Titelb. gr. 8° =
Bibliotheque Theologique. sfr. 7. 50.

Als 1950 der Professor für Neues Testament an der evangelisch
-theologischen Fakultät der Universität Montpellier, Theo
re>ß, im Alter von 39 Jahren dem schweren Leiden erlag, von
em " vergeblich im Sanatorium Universitaire in Leysin Heilung
gesucht hatte, verlor der französische Protestantismus einen seiner
tüchtigsten und zu großen Hoffnungen berechtigenden theologischen
Köpfe. Freilich war der Name von Theo Preiß über den
Raum des französischen Sprachbereichs wohl nur wenig herausgedrungen
, hat doch Preiß seine äußerst selbständigen und immer
wertvollen Arbeiten ausschließlich in Zeitschriften und Sammelwerken
des Protestantismus französischer Zunge veröffentlicht,
noch dazu in den Jahren, in denen der wissenschaftliche Austausch
sehr erschwert oder fast lahmgelegt war. Umso mehr werden
sich alle, denen schon bisher die Arbeiten von Preiß wichtig
gewesen waren, darüber freuen, daß seine Freunde seine wesentlichsten
Aufsätze in einem leicht zugänglichen Sammelband einer
weiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt haben. Und