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Ausgabe:

1953 Nr. 6

Spalte:

347-348

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Rothert, Hermann

Titel/Untertitel:

Westfälische Geschichte 1953

Rezensent:

Stupperich, Robert

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 6

348

(l 10 f.)- Ähnliches gilt von der Beurteilung der religionsgeschichtlichen
und der Leben-Jesu-Forschung, an denen der „Zerfall" der
historischen Geschichtsauffassung demonstriert wird. Zuweilen
wird man an Harnacks Warnung erinnert, sich davor zu hüten,
„von skeptischen Disteln apologetische Feigen zu lesen" (mitgeteilt
von Fr. Loofs, Wer war Jesus Christus? (1922), S. 128).

2. Wichtiger erscheint mir jedoch die Aufgabe, die vom Vf.
aufgerollte Problematik durch eine intensivere Befragung des
biblischen Geschichtsdenkens zu klären. Für unzureichend
halte ich die heute vielgehörte, fast als Axiom gehandhabte
These, Christus sei „die Mitte der Geschichte" (130;
208). Wo wird das im NT eigentlich gesagt? Für das NT ist Christus
wohl das t e 1 o s, d. h. Ziel und Ende zugleich (Rom. 10, 4),
aber nie das ,m e s o n'. Ich halte diesen Begriff für ein geschidhts-
philosophisches Theorem, das das biblische Geschichtsdenken
säkularisierte und zwangsläufig jenen „heilsgeschichtlichen" Evolutionismus
erst heraufbeschwor, der die „sakrale" Vorform des
„profanen" Geschichtsdenkens darstellt (also dessen, was der Vf.
unter „Historismus" versteht). Über der Betonung Christi als der
„Mitte" wird die reformatorische Einsicht von seiner Realpräsenz
im Vollzuge von Wort und Sakrament (trotz des Verweises auf
den Stellvertretungsgedanken auf S. 172 f. und die dazu gehörige
beachtliche Anm. 7 auf S. 220) an den Rand gedrängt und
ihrer kritischen wie konstruktiven Auswirkung beraubt. Darum
kommen auch die Erörterungen über „geschichtliche und mathematische
Zeit" (163 ff.) über formale Definitionen kaum hinaus.
Weil Christus nur als „Mitte", nicht aber als „Ende" der Geschichte
begriffen wird, wird die radikale Eschatologie weder in
dem in der Kirche Christi als seinem „regnum" noch in der Glaubensentscheidung
sich ereignenden Heilsgeschehens aktualisiert.
Deswegen scheint der Vf. auch noch eine relative Mächtigkeit
der Geschichte als solcher zu kennen, so daß, auf unerklärliche
Weise, Faktizität wiederum für pragmatische Argumentation beweiskräftig
wird. Denn: wie soll man es sonst verstehen, daß
„die Geschichte" zur römisch-katholischen Lehre vom gegenwärtigen
Christus „ihr unwiderrufliches Nein" gesprochen habe
(21 ff.)? Und wie sonst die Vermutung, daß durch die „akute
Kulturkrise" Person und Werk Christi „ganz von selbst" wieder
in den Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung gerückt seien
(141)? Wie sonst endlich die postulierte Konvergenz zwischen
der in die konsequente Eschatologie einmündenden historischen
Leben-Jesu-Forschung und dem „Welt- und Lebensgefühl des heutigen
Menschen"? „Es ist, als ob (!) Gott uns dadurch hätte sagen
wollen..." (139 f.)? — Mir will scheinen, daß allein eine
sachlich gegründete Erfassung des urchristlichen Heilsgeschehens
erst das Phänomen des „Historismus" in den Blick bringt, so daß
zugleich seine innere Überwindung möglich wird. Wer hingegen
mit geistesgeschichtlicher Analyse und kulturkritischen Erwägungen
beginnt, muß notgedrungen im Bann des Historismus
bleiben — gerade dann, wenn er „Christus", genauer gesagt: eine
Christus i d e e zur „Mitte" dieser „Geschichte" erhebt.

Aufs ganze gesehen wird man dem Vf. Dank wissen dafür,
daß er auf einen für Forschung und Verkündigung gleich wichtigen
Fragenkomplex so energisch das Augenmerk lenkt und daß
er das in so wohltuend klarer Gedankenführung und in einer
so schlichten und auch dem fernstehenden Leser eingängigen
Sprache tut.

Jena Oerhard Oloege

R o t h e r t, Hermann: Westfälische Geschichte. 3 Bde. Gütersloh:
Bertelsmann [1949—1951]. gr. 8°.

1. Bd.: Das Mittelalter. XVI, 567 S. 32 Taf., 15 Kt. Lw. DM 24.-.

2. Bd.: Das Zeitalter der Glaubenskämpfe. VIII, 371 S., mehr. Bl. Abb.
u. Kt. Skizzen. Lw. DM 24.—.

3. Bd.: Absolutismus und Aufklärung. VIII, 472 S., 23 Taf., mehr. Kt.
Skizzen. Lw. DM 24.—.

Als der Verfasser dieser groß angelegten Landesgeschichte
vor 5 Jahren ein Kapitel des 2. Bandes gesondert herausgab,
sprachen wir den Wunsch aus, das ganze Werk möchte bald der
Öffentlichkeit zugänglich werden (ThLZ 1948, Sp. 606). Es erfüllt
uns mit Freude, daß dieser Wunsch in so kurzer Zeit seine
Verwirklichung gefunden hat.

Die territoriale Kirchengeschichte hängt so sehr mit der allgemeinen
Landesgeschichte zusammen, in bestimmten Epochen
unserer deutschen Vergangenheit gehen sie sogar so stark ineinander
über, daß sie ihre Forschungsergebnisse gegenseitig notwendigerweise
berücksichtigen müssen. Es wird daher nicht als
unangebracht angesehen werden, wenn hier auf diese neue Darstellung
der Geschichte Westfalens das Augenmerk gelenkt wird.

Westfalen gehört zu den Gebieten, die erst spät eine umfassende
, auf der Grundlage der heutigen wissenschaftlichen Forschung
aufgebaute Landesgeschichte bekommen. Einzelne kurze
Abrisse hat es zwar schon gegeben, aber erst ein in der Heimatgeschichte
bewährter und bewanderter Forscher hat es vermocht,
die tatsächlichen Schwierigkeiten zu überwinden und eine Darstellung
von großer Geschlossenheit und einheitlicher Auffassung
vorzulegen, die zugleich den Anforderungen der Einzelforschung
gerecht wird. Wie der Verfasser berichtet, hat er von 1938—1946
ununterbrochen an diesem Werk gearbeitet. Ohne auf archiva-
lisdics Material zurückgreifen zu können, hat der Verfasser eine
Darstellung gegeben, die die Ergebnisse der Einzelforschung nach
Möglichkeit berücksichtigt und ein erstaunlich reichhaltiges Bild
entwirft. Die weitgehenden Interessen des Verfassers ermöglichten
ihm das Eingehen auf die politische Entwicklung ebenso wie auf
die der Wirtschafts- und Kulturgeschichte.

Uns liegt es besonders daran, die Stellung der Kirche auf
westfälischem Boden im Verlauf von 1000 Jahren anhand dieser
Darstellung zu vergleichen. Angefangen von der. Missionsgeschichte
in Karolingischer Zeit, von den Gründungen der Bistümer
und Klöster und den Anfängen der kirchlichen Organisation
bis zum geistigen und künstlerischen Schaffen im Bereich
der Kirche, zeigt der Vf. große Perspektiven und Einzelbilder wie
z. B. den Anteil Westfalens an der Ostkolonisation oder an geistlichen
Bewegungen. Es ist dem Verfasser aber ebenso gelungen,
die Geschehnisse von mehr örtlicher Bedeutung klar zur Geltung
zu bringen.

Der 2. Band, der dem Zeitalter der Reformation und Gegenreformation
gewidmet ist, zeigt insbesondere, in welchem Maße
Westfalen in dieser Zeit am Leben der Nation Anteil hat. Das
langsame Vordringen des neuen Glaubens und besonders das
Münsterische Täuferreich werden mit aller Anschaulichkeit und
Lebendigkeit gezeichnet und der Gang der Entwicklung im Widerstreit
der Kräfte verständlich gemacht. Da das Werk für weitere
Kreise bestimmt ist, wird auf spezielle Einzelheiten verzichtet.
Die Zweiteilung, in politische und kulturgeschichtliche Darstellung
, die fraglos ihre Vorteile hat, erweist sich hier als ungünstig
. Die Darstellung ist, auch wo sie in Einzelbilder sich auflöst,
von großer Farbigkeit und Kraft. Gerade die Gegenreformation,
und die kirchliche Lage während des 30jährigen Krieges finden
eine äußerst vielseitige und aufhellende Betrachtung.

Nicht minder anregend ist der 3. Bd. Er gilt dem Zeitalter
1648—1815, das Westfalen in zunehmendem Maße mit Brandenburg
-Preußen verbindet. Die Durchführung der Westfälischen
Friedensbestimmungen, die preußische Kirchenpolitik im Zeitalter
Friedrichs IL, Aufklärung und Säkularisation der geistlichen
Fürstentümer werden in zahlreichen aus dem Leben
des Landes gewonnenen Zügen deutlich gemacht. Daß dabei die
großen Gestalten der westfälischen Geschichte, ein Justus Moser,
Frh. vom Stein und Vincke treffende Beurteilungen finden, sei
besonders hervorgehoben.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß dieses Werk »eine
Aufgabe erfüllt und weiten Kreisen ein gegründetes und reiches
Anschauungsbild vermittelt. Sollte hier und da der durchgehend-'
Faden vermißt werden oder in Einzelheiten eine Verkürzung erfolgt
sein, aufs Ganze gesehen, ist es eine erfreuliche Zusammenfassung
, in der die mühevolle Kleinarbeit mehrerer Generationen
von Heimatforschern ihre Frucht trägt. Es ist nur zu wünschen
, daß von hier aus wieder Anregungen zu neuem Forschen
in der Folgezeit ausgehen. Für den Benutzer werden Literaturangaben
und ausführliche Register auch in dieser Hinsicht von
großem Vorteil sein.

MünsteriWestf. R. Stupperlch