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Ausgabe:

1953 Nr. 6

Spalte:

345-347

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Delekat, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der gegenwaertige Christus 1953

Rezensent:

Gloege, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 6

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spürt, zu welchen Hörern Harnack geredet bzw. für welche Leser
er geschrieben hat. Studenten waren seine Hörer, die günstigenfalls
die evangelische Botschaft in der Sicht eines David Friedrich
Strauß sahen. Einer Bildungsschicht gegenüber, die gewiß noch
äußere Beziehungen, aber kein ernsthaftes Verhältnis mehr zur
evangelischen Botschaft hatte, bedeutete Harnacks Buch Apologetik
des evangelischen Glaubens. So betrachtet werden viele
Partien des Buches doch recht eindrucksvoll, ob es nun der Abschnitt
über die Wunderfrage ist (vgl. S. 15 ff.) oder der über
das Verständnis des Todes Jesu als Opfertod (S. 93 ff.; die Kehrseite
der Deutung des Todes Jesu als Opfertod ist die Beseitigung
der blutigen Opferl). Vielleicht gewinnt das Harnacksche Buch
sehr stark, wenn wir es heute historisch zu lesen suchen, als Niederschlag
eines christlichen Zeugnisses, das in einer bestimmten
Zeit abgelegt worden ist und da eine wichtige Funktion erfüllt
hat. Über die theologischen Sätze dieses Zeugnisses wird vielleicht
noch eine geraume Zeit Streit sein; über die Echtheit und
die Frucht des Zeugnisses hat kein irdischer Kritiker zu befinden.

Markklceberg/Leipzig • Franz Lau

D c I c k n t, Friedrich: Der gegenwärtige Christus. Versuch einer Theologie
der Geschichte. Stuttgart: Kreuz-Verlag |I949], 220 S. 8°. Hlw.
DM 5. 80.

Der geistreiche Essay, der in der Anfechtungssituation der
Kirche bereits 1943 abgeschlossen wurde, stellt sich die Aufgabe,
..die gcschichtsphilosophische Problematik wieder in den theologischen
Rahmen hineinzustellen, den sie ursprünglich gehabt
hat" (15), Von der Doppeldeutigkeit des Wortes „parusia" als
Zu-kunft und als Gegenwart ausgehend (13), gibt der Vf. zunächst
eine Skizze des Glaubens an den gegenwärtigen Christus
im römischen Katholizismus (17—26) und im protestantischen
Humanismus (27—52). Aus der Verlegenheit der Glaubensspaltung
sei das neue Geschichtsbild des Historismus entstanden, dem
eine bestimmte Auffassung vom gegenwärtigen Christus zugrunde
liege. Im Gcccnschlag gegen das orthodoxe Schriftprinzip (Lessing
contra Goezc) sich klärend, identifiziere der Historismus
..Historisches" und ..Faktisches". ,,Der Historismus ist die heute
zur Auflösung gelangte Geschichtsauffassung des protestantischen
Humanismus. Seine Glaubensgrundlagc ist ein philosophischer
Chiliasmus, der sich dem Ziele der Geschichte nahe glaubt" (52),
vom Standpunkt optimistischer Eschatologie das Vergangene zum
bloßen Durchgangspunkt zum Endziel relativierend (50). — Die
Untersuchung gelangt zu ihrer Höhe im 3. Kapitel, das unter der
Überschrift „Probleme und Anfechtungen" (53—83) Geschichte
und Gcschichtserkcnntnis unter die drei Kernfragen nach Wirklichkeit
, Wahrheit und Sinn rückt. Alle drei Fragen lassen sich
von den Voraussetzungen des Historismus aus nicht beantworten.
Die Frage nach der Wirklichkeit nicht: weil die historische Geschichtsauffassung
außerstande sei, den Linterschied zwischen Tatsachen
als solchen und geschichtlichen Tatsachen klarzumachen,
so daß die Würde des Menschen bedroht werde. Die Frage nach
der Wahrheit geschichtlichen Erkennens scheitere am Problem der
Tendenz in der Geschichte, so daß &:t Mensch den Mächten der
J? auspelit"fcrt werde. Die Sinnfragc endlich scheitere daran,
daß der optimistische Vorschungsglaubc am Schicksalserlebnis zerbreche
. Die Folge der dreifachen Aporie sei - in ideokratischer
Vergewaltigung des Lebens- das dreifache Glaubensärgernis:
an der Gewalt, an der Lüge, an der Mcnschenvergötzung. Die damit
heraufbeschworenen Anfechtungen (4. Kapitel: 84-117) machen
die drei großen Schicksalsfragen der Menschheit dringlich:
Was ist Freiheit? Was ist Wahrheit? Woran glauben wir? Heute
unbeantwortbar geworden, empfangen sie durch den gegenwärtigen
Christus die Antwort, die an uns und durch uns geschieht.
Damit rückt das Problem „Geschichte und Offenbarung" (5. Kapitel
: 118-142) ins Zentrum. Es wird in drei Problemkreiscn
angegangen: a) Profan- und Heilsgeschichtc: b) der Christus des
Glaubens und der historische Jesus (Auflösung des Offenbarungs-
begriffcs durch Religionsgeschichte und Leben-Jesu-Theologie);
ej Entstehung eines neuen Verständnisses von Eschatologie, aus
Skepsis und Kulturkrisis. - Das 6. Kapitel „Die Wirklichkeit der
Geschichte" (143-173) entfaltet die Grundeinsicht: „Die Ineins-
setzung von Faktizität und Historizität im Historismus ist ursprünglich
ein Versuch gewesen, die gesamte Welt der Natur als
Geschichte aufzufassen, hat aber dazu geführt, daß die Naturwirklichkeit
in dem so entstehenden spannungslosen Wirklichkeitsbegriff
ein entschiedenes Gegengewicht bekam" (148). Das
Problem „Schicksal und Freiheit" sei nur mittels der Kategorien
Fluch und Segen zu erfassen. Diese seien, den Wirkungszusammenhang
zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft knüpfend
, das „reale Substrat" der Geschichte (150; vgl. 154, 172 f.).

— Von der Geschichtlichkeit des als Schickung verstandenen
Schicksals handelt das 7. Kapitel (Die Wahrheit des geschichtlichen
Erkennens: 174—199): Das Schicksal erschließt die Geschichte
. Die Geschichte hilft das Schicksal meistern. Von Christus
her, der die „Mitte der Geschichte" darstelle (130), werde
die vom Historismus her unbeantwortbare Frage nach einer absoluten
Wahrheit in der Geschichte entschieden: „Beruht die Geschichtlichkeit
unseres Daseins darauf, daß jede Gegenwart durch
Gottes Fluch und Segen mit der Vergangenheit und durch Gottes
Drohung und Verheißung mit der Zukunft verbunden ist,
so ist das Erkennen dieses Zusammenhanges nicht eine Sache des
bloßen Wissens, sondern in erster Linie eine solche des Glaubens,
und das Schicksal, das Gott sendet, zwingt uns, nach der rechten
Ausrichtung unseres Glaubens zu fragen" (197). Als hilfreich erweise
sich dabei „die Erfahrung, daß Person und Werk Jesu Christi
all den Epochen .gleichzeitig' werden, die einer besonders
schweren Belastung durch das Schicksal ausgesetzt waren". „Die
Auffassung, die eine bestimmte Epoche von der Person und dem
Werk Jesu Christi hat, ist der Index für ihre Geschichtstiefc"
(198 vgl. 129). In einem Schlußkapitel „Vom Heil und Unheil in
der Geschichte" (200—219), das die Fragen der Überweltlichkeit
und Innerweltlichkeit des Reiches Gottes berührt (Staat und Kirche
) und auf die „Una saneta ecclesia" ausblickt, verklingt
das Buch.

Delekats Untersuchung stellt ein Bekenntnisbuch dar, dessen
Meditationen, aus lcidvollem Erleben geboren, anderen Leidenden
seelsorgerliche Dienste leisten können. Der Theologe verleugnet
auf keiner Seite den humanistisch geprägten Pädagogen,
und dieser bringt den ganzen Reichtum eines umfassenden Bildungswissens
zur Sprache, das die Geistesgeschichte der letzten
Jahrhunderte erhellt. So ergeben sich viele wichtige Einsichten
in den Säkularisationsprozeß, der die Moderne ausmacht (z. B.
Anthropologie des protestantischen Humanismus als verweltlichte
Christologie: 43, 132; Ursprung und Ziel der Geschichte
als verweltlichte Proto- bzw. Eschatologie: 155 f). Sentenzen
wie die wird man schwer vergessen: „Skepsis und Gewalt sind
Geschwister" (52): ..Der Staat ist existenz-, aber nicht heilsnotwendig
" (212): „Was ist denn der Antichrist anderes als ein Vorbote
der Wiederkunft Christi?" (199). Oder die erwägungswerte
Anmerkung: „Möglicherweise liegt die letzte Wurzel des Historismus
da. wo der Glaube an die Realpräsenz Christi im Abendmahl
einer Theorie vom Abendmahle wich, die sich bei seiner
Feier *n das stellvertretende Opfer Christi nur noch wie an etwas
Vergangenes erinnern wollte. Erinnerung setzt die historische
Distanz" (220, Anm. 7).

Das Buch, das sich selbst als einen „Anfang" (7) versteht,
zeigt allerdings zugleich, wie sehr die hier in Angriff genommenen
Fragen weiteren eindringlichen Durchdenkens fähig sind.
Und zwar nach zwei Seiten hin:

1) Bedürfte nicht das Phänomen des Historismus sowohl
geistesgeschichtlich wie systematisch einer noch sorgfältigeren
, verständnisvollen Untersuchung? Die kritischen Fragestellungen
Troeltschs. mag man sie beurteilen, wie man will, harren
immer noch der Aufarbeitung. Die großartige, wenn auch gewiß
nicht unanfechtbare, (anti-positivistische!) Analyse Friedrich Mei-
neckes in seiner „Entstehung des Historismus" (1936) tritt nicht
einmal in den Gesichtskreis. Der Vf. begnügt sich mit einer
höchst einseitigen Definition und scheint einer differenzierten,
nach Motiven forschenden Befragung abhold. Die kulturkritischen
Beanstandungen der Moderne wirken oft ungerecht, etwa:
..Wir wissen heute, daß in jeder technischen Errungenschaft ein
Dämon steckt (!) und daß sie auch zu einem Fluch werden kann"

— ein Satz, der freilich auf der nächsten Seite durch den Hinweis
auf „das Dämonische im Menschen" eingeschränkt wird