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Ausgabe:

1953 Nr. 6

Spalte:

343-345

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Das Wesen des Christentums 1953

Rezensent:

Lau, Franz

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343

Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 6

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die Heterodoxen, die Ermahnungen des Paulus zur Pflicht des
Gebetes, die Gottesdienstordnungen, die Pflichten der Kleriker
und besonders des Bischofs, das Verhältnis der Gläubigen, die
aus verschiedenen sozialen Schichten kommen. Als Abschluß bietet
er eine freie Übersetzung. Das Buch ist in einer leicht verständlichen
Sprache geschrieben. Der Verfasser hat durch seine
Gelehrsamkeit und seine tiefen Gedanken ein wertvolles wissenschaftliches
Werk geschaffen. Das Werk ist jedoch nicht durch die
Literaturkritik, sondern durch die Geschichte der kirchlichen
Tradition und durdi die Wissenschaft des Neuen Testaments bestimmt
, indem es die Botschaft ohne Flecken und untadelig bis
auf die Erscheinung unseres Herrn Jesu Christi bieten soll.

Marburg/L. Athanasius Giompliakis

KIRCHENGESCHICHTE: ALLGEMEINES
VND TERRITORIALKIRCHENGESCHICHTE

Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums. Neuauflage zum
fünfzigsten Jahrestag des ersten Erscheinens mit einem Geleitwort
von Rudolf Bult mann. Stuttgart: Ehrenfried Klotz Verlag (Lizenzausgabe
J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig) 1950. XXII, 185 S. gr. 8°.
DM 5,60; Hlw. DM 7.20.

— Do. Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt (Lizenzausgabe J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig)
[19511. XXII, 185 S. Hlw. DM 5.90.

Während des Wintersemesters 1899/1900 hat Adolf von
Harnack eine öffentliche Vorlesung über „Das Wesen des Christentums
" vor einer großen Zahl von Hörern aller Fakultäten
gehalten. 1900 ist die Vorlesung als Buch erschienen. Die erste
Auflage war im Nu verkauft. 14 weitere Auflagen der deutschen
Fassung (beiläufig 70 000 Exemplare) sind inzwischen noch erschienen
. Ebensoviel fremdsprachliche Übersetzungen sind veranstaltet
worden. Eine Fülle von Gegenschriften hat bereits die
erste Auflage ausgelöst. In der theologischen Auseinandersetzung
ging es eine Zeit lang „für oder wider Harnack" und sein Verständnis
des Evangeliums. Nachdem es bald ein Vierteljahrhundert
(seit der Auseinandersetzung der Dialektischen Theologie mit
dem Deutschen Idealismus!) um Harnacks Wesen des Christentums
still geworden war, ist jetzt plötzlich wieder eine „Jubiläumsausgabe
" der berühmten programmatischen Schrift Harnacks
herausgekommen, und zwar mit einem Geleitwort von Rudolf
Bultmann.

Natürlich ist die Neuauflage nicht nur durch das „Jubiläum"
veranlaßt. Die wahre Ursache liegt recht offen am Tage. Durch
die Theologie der Krise, durch den Kirchenkampf und durch die
kirchliche Entwicklung seit 1945 ist es zu einer scheinbar totalen
Auslöschung der liberalen Theologie gekommen. Man hat manches
Mal umgekehrt von dem totalen Sieg einer neuen Orthodoxie
gesprochen. Tatsächlich sind die letzten liberalen Anliegen
nicht gegenstandslos, sondern nur überdeckt worden. Es gehört
zu den interessantesten Vorgängen in der theologischen Situation
der Gegenwart, daß aus der Bekennenden Kirche selbst heraus
die Gegenbewegung gegen den neuorthodoxen Kurs gekommen
ist. Daß das geschieht unter ehrlichem Bekenntnis zu dem Dokument
, in dem einerseits die „liberalen Anliegen" am wirksamsten
zum Ausdruck gebracht worden sind, gegen das andererseits
die i. w. in der Bekennenden Kirche gesammelte kirchliche
Rechtgläubigkeit von vornherein auf das empfindlichste reagiert,
gereicht denen zur hohen Ehre, die den Kampf gegen eine (wie
sie es ansehen) orthodoxe Erstarrung und Verfälschung des Anliegens
, das sie in der Bekennenden Kirche mit vertreten haben,
aufzunehmen sich verpflichtet halten.

Es wäre unzweckmäßig, hier den Inhalt der Harnackschen Vorlesung
wiederzugeben und sich eingehend mit einzelnen Thesen auseinanderzusetzen
. Dem, der den Kampf um Harnack noch irgendwie erlebt
hat, wird bei der erneuten Lektüre des Buches deutlich, wie tief sich die
prägnanten Sätze Harnacks in das Bewußtsein einer ganzen theologischen
Generation eingeprägt haben: „Nicht der Sohn, sondern allein
der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündet hat, hinein"
(86). „Nicht wie ein Bestandteil gehört er [sc. Jesus] in das Evangelium
hinein, sondern er ist die persönliche Verwirklichung und die Kraft des
Evangeliums gewesen und wird immer als solche empfunden "(87). „Von

einem anderen Bekennen als dem Tun des Willens Gottes hat Jesus nie
gesprochen" (88). Oder ein Satz Wellhausens, den Harnack sich zu eigen
madit: „Durch Paulus besonders hat sich das Evangelium vom
Reich in das Evangelium von Jesu Christo verwandelt, so daß es nicht
mehr die Weissagung des Reichs, sondern die durch Jesus Christus geschehene
Erfüllung dieser Weissagung ist" (106). Es ist vielleicht gar
nicht gut, zuviel prägnante Formulierungen zusammenzustellen; das ergibt
leidit eine Vergröberung.

Bultmann bemerkt in seinem Geleitwort: „Daß wir heute
Harnacks .Wesen des Christentums' nicht ohne Kritik lesen, versteht
sich von selbst" (IX). Es wird ungefähr deutlich, wo er
kritisch einsetzt. Daß auch er Harnacks Vorbeigehen an der religionsgeschichtlichen
Fragestellung als einen Mangel empfindet,
darf nicht wundern. Die damit bedeutete Grenze Harnacks wird
stellenweise in den Vorlesungen nur allzu sichtbar (vgl. auf S. 96
das, was Harnack über den Kyriostitel schreibt). Das Entscheidende
für Bultmann ist wohl, daß er bei Harnack bemerkt, „daß
er den Unterschied zwischen dem kerygmatischen Charakter des
Evangeliums und einer aufklärenden Belehrung und einem sittlichen
Appell nicht klar erfaßt hat" (XIV). Das „kerygmatiiche
Anliegen" weist deutlich auf die Stelle, da sich der gegenwärtige
und der alte Liberalismus sehr erheblich voneinander unterscheiden
. Ganz abgesehen davon ist auf eine weitere Schranke
Harnacks deutlich hingewiesen. Wenn Harnack auf S. 100 sagt:
„.. der Gang, den die Kirchengeschichte genommen hat, hat es
herbeigeführt, daß man im Neuen Testament viel mehr die dogmatischen
Ausführungen hervorgesucht und erörtert hat als die
Abschnitte, in denen uns das Leben der ältesten Christen geschildert
wird und sittliche Ermahnungen gegeben werden. Und doch . .
sind nicht wenige sog. dogmatische Abschnitte lediglich um sittlicher
Admonition willen geschrieben", so machen diese Worte
im Zusammenhang mit vielen anderen Sätzen des Budies klar,
daß Harnack einen Schritt hinter Schleiermacher zurückgegangen
ist.

Zur kritischen Auseinandersetzung mit Harnack reizen viele Stellen
des Buches. Ob das harte Urteil über das östliche Kirchcntum zu
Recht besteht (S. 131: „Sic [die griechische Kirche] erscheint nicht als
eine christliche Schöpfung mit einem griechischen Einschlag, sondern als
eine griechische Schöpfung mit einem christlichen Einschlag"), ist doch
zu fragen. Überhaupt könnte es nützlich sein, einmal an die Partien
des Harnackschen Buches heranzugehen, die viel weniger beachtet worden
sind als die, die sich auf das ursprüngliche Evangelium beziehen,
also an die, die vom Evangelium in der Geschichte handeln. Die Frage,
ob Harnacks Behauptung, die ältesten christlichen Schriften und vollends
das Evangelium zeige noch gar keinen ernsthaften griechischen Einfluß
(vgl. 13 u. 119), zu Recht besteht, ist deshalb wichtig, weil die
Konzeption von Harnacks Dogmengeschichte mit auf ihr ruht. Und:
Ein methodischer Grundsatz Harnacks wird berührt. Das Neue, was
Jesus verkündet, ist das Wesentliche, nicht das, was er mit seinen Zeitgenossen
gemeinsam hat (S. 33; ist zunächst auf das Verständnis des
Reiches Gottes als dramatisches Zukunftscrcignis oder als inwendiges
Ereignis in einzelnen Seelen angewendet). Wenn die sittlichen >dmoni-
tionen gar nicht so neu wären, dann würde nach Harnacks eigenem methodischen
Grundsatz fraglich, ob in ihnen wirklich das Wesentliche
im ursprünglichen Evangelium gesehen werden dürfte. — Aber wir wollten
nicht in die Einzelheiten einer kritischen Auseinandersetzung mit
Harnack gehen. Die eine Hauptfrage, die zu klären ist, ist natürlich
die. ob in der (drücken wir uns behutsam so aus) ältesten Sdiicht des
Neuen Testamentes Jesus selbst wirklich nicht Gegenstand der Botschaft
ist, oder ob nicht doch trotz des Fehlens von Spekulationen paulinischcr
Art diese Botschaft Botschaft von Christus ist. Die Frage muß auf dem Boden
der neutestamentlichen Wissenschaft abgehandelt werden. Der andere
Punkt, der zu klären ist, ist noch schwieriger: Es gilt erst einmal den
Unterschied zwischen einem historischen und einem normativen Begriff
von Evangelium herauszustellen. Harnack, dem es angeblich nur um den
historischen Begriff geht, bleibt schwerlich in den selbstgesteckten Grenzen
, sondern operiert doch immer wieder mit einem normativen Evangeliumsbegriff
. Wenn man um einen solchen bemüht ist — und hier ist
die Systematik angesprochen—, ist es schwerlich erlaubt, einfach das
Evangelium zu suchen, wie es Jesus gepredigt hat (wird sich das mit
Sicherheit umgrenzen lassen?), sondern muß die Frage nach dem Kanon
usw. gestellt werden. Es ist hier nur möglich, die Problematik anzudeuten
.

Das Schöne bei der Lektüre des schwer umkämpften Harnackschen
Buches „im Abstand" ist dies, daß auch dem Leser, der
in grundlegenden Dingen kritisch zu Harnack steht, jetzt wohl
eine Seite von Harnacks Darlegungen deutlich wird, die bei den
hitzigen Gefechten um das Buch meist übersehen wurde. Man