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Ausgabe:

1953 Nr. 5

Spalte:

290-291

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Strohl, Henri

Titel/Untertitel:

La pensée de la réforme 1953

Rezensent:

Chambon, Joseph

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 5

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das Moment der Religion die entscheidendste (!) Rolle spielt, ist zwar
sprachlich mißglückt; aber was der Verfasser sagen will, dürfte sachlich
richtig sein (vgl. S. IJ7)| und darin, daß Karl V. nicht zu verstehen ist
ohne seine Kirchcnreformpläne, kann der Rezensent dem Verfasser nur
vollinhaltlich zustimmen. Aber es hat kaum einen Sinn, weitere Einzelheiten
aufzuzählen. Selbstverständlich ist, daß hinter vielen Sätzen
Forschungskontrovcrsen stehen, von denen freilich die Leser, für die
das Buch eigentlich bestimmt sein dürfte, schwerlich etwas ahnen werden.

Die Historiker werden Joachimsens Sicht der Dinge nicht in
jedem Falle teilen. Aber interessant und hilfreich ist die Sicht der
Vorgänge, die Joachimsen bietet, mindestens an einer sehr großen
Zahl von Stellen.

Das Gesamturteil Joachimsens über die Reformation lautet
dahin, daß die „Reformation" Europa eine wirkliche Reformation,
eine reformatio renascens et acterna, schuldig geblieben ist. Der
Grund dafür liegt darin, daß die Reformation als religiöse Bewegung
zusammengetroffen ist mit einem Versuch, eine neue
christliche Universalmonarchie aufzurichten, daß sie bei der Auseinandersetzung
zwischen universalen und partikularen Kräften
auf die Seite der letzteren gedrängt worden ist und nun, statt
daß „Gemeinden" geworden sind, hat zur Kirche (Kirche im römischen
Sinne) werden müssen, und das im Rahmen des deutschen
Territorialstaatcs. M. a. W.: Die Reformation „mußte ...
statt von dem ihrem Ursprung entsprechenden Begriff der christlichen
Gemeinde, von dem Begriff der christlichen Obrigkeit ausgehen
, und sie mußte diesen Begriff in der Dürftigkeit aufnehmen
, wie ihn der deutsche Territorialstaat ihr bot" (S. 278).

So viel die Reformationsgeschichte Joachimsens uns bietet —
es darf doch nicht verschwiegen werden, daß sie uns auch so manches
schuldig bleibt.

Zunächst einmal fällt der merkwürdige Wechsel hinsichtlich Dämlichkeit
und Undeutlichkeit der Darstellung auf. Manche Vorgänge
sind wesentlich ausführlicher behandelt, als es sonst üblich ist. Wieviel
'st über das V. Latcrankonzil gesagt/ Wie ausführlich ist Luthers
••Selbstzeugnis" von 1545 besprochen Anderes ist seltsam kurz erledigt
. Ks ist schon früher darauf hingewiesen worden, wie rasch Joachimsen
über Luthers Abcndmahlslehre und den Abcndmahlsstrcit hinweg'
Rcht. Das ist keine Einzelerscheinung. Am eigenartigsten ist das fast
völlige Versdiwcigcn der schweizerischen Reformation. Demgegenüber
ist über die Vorgänge in Schweden einigermaßen ausführlich gesprochen
. Was auf einer Seite über Schwenckfeld. Sebastian Franck und
Paracclsus gesagt ist. ist für den. der noch nicht Bescheid weiß, kaum
verständlich. Auch rein politische Vorgänge sind mit betroffen. Karls V.
interessantes Tunisunternehmen von 1 53 5 ist gerade angedeutet.
Beispiele ließen sich noch eine Menge bringen.

Natürlich kann man sagen: Das läßt sich bei solcher Stofffülle
und bei dem ursprünglichen Zweck der Darstellung nicht
vermeiden. Der Grund liegt aber doch nicht einfach nur in der
Bedrängnis durch die Fülle der Ereignisse und der Gestalten. So
sehr Joachimsen sich in Probleme hineingedacht hat, die die Theologen
beschäftigen (vgl. die Unterscheidung von Urerlebnis und
Bibelcrlcbnis beim klösterlichen Luther; S. 25), so wenig läßt
sich verkennen, daß Joachimsen das Glaubensanliegen der Reformatoren
nicht voll erfaßt hat. Die subjektivistische Auffassung
von Luthers Rechtfertigungsverständnis, die Luther einfach nicht
trifft (Rechtfertigung als die Fähigkeit, Gott aus dem Bewußtsein
unserer Sündhaftigkeit heraus über alles hinaus zu fürchten und
zu Leben), geht auf Konto des Herausgebers (S. XVII!). Aber
bietet der Verfasser des Werkes eine klarere und bessere Aussage
über das, was bei Luther Rechtfertigung heißt? Dazu glcch
noch eine Feststellung des Herausgebers: Joachimsen „stellt sich
auf den Boden eines Humanismus, der auch den Rüdegang auf
Luther und das religiöse Problem in sich schließt und der sich
gerade darin der ganzen Problematik dieser Einheit bewußt wird,
die darin liegt, daß jeder einzelne und jede Epoche stets von
neuem unmittelbar zu Gott ist" (S. XVI). Von daher werden die
blassen Stellen der joachimsenschen Darstellung der Reformationsgeschichte
recht verständlich. Mit dem Gegensatz Luther und
Erasmus wird Joachimsen nicht fertig und kann er schwerlich fertig
werden. Die Behauptung, daß Luther in den Schriften von
1520 die Lehre zerstören wollte, welche die Sakramente aus Bezeugungen
des Glaubens zu kirchlichen Gnadenmitteln gemacht
hatte, ist m. E. ganz schwer anfechtbar. Ist Melanchthon richtig
verstanden, wenn von ihm gesagt wird, daß er noch weniger als

Luther daran dachte, den Sakramentsbegriff der alten Kirche zu
verlassen (S. 200)? Mit der anderen Feststellung über Melanchthon
: „Ein seltsames Geschick hat diesen so ganz unpolitischen,
ganz für die Stille der gelehrten Arbeit bestimmten Menschen
immer wieder in die verantwortlichen Situationen geworfen"
(S. 260) dürfte Melanchthon, der tatsächlich ausgesprochen politisch
denken konnte, vollständig verkannt sein.

Es gäbe noch mancherlei, worüber mit dem Verfasser des
Werkes zu rechten wäre, ganz gleich, ob im Einzelfall ein Zusammenhang
mit dem angedeuteten Grundmangel vorliegt oder nicht.
Nur auf drei Punkte sei noch hingewiesen.

Den Satz: „Luther bemerkte um diese Zeit [sc. Mitte der 30er
Jahre!], daß man anfange, sich für die Fragen des Lebens und der bürgerlichen
Ordnung auf das natürliche Recht zu berufen, und
er bemühte sich zu zeigen, daß dies mit der Meinung der Menge nicht
gleichbedeutend sein könne" (S. 218 f.), verstehe ich nicht. Auf das
natürliche Recht hat sich Luther selbst immer wieder berufen, und zwar
lange vor 1530; und das Anliegen, das natürliche Recht abzusetzen
von der Meinung der Vielen, ist bei Luther viel früher bereits vorhanden
. — Daß Luther in der Schrift von Konzilien und Kirchen in großartiger
Klarheit die drei Hierarchien Kirche, Obrigkeit und Schule als
die drei hohen göttlichen Rcgimente entwickelt habe (S. 236), ist
mir ebenfalls unverständlich. Auch am Ende der angezogenen Schrift ist
das dritte Regiment neben Kirche und weltlicher Obrigkeit nicht die
Schule, sondern die Haushaltung. — Nach S. 283 ist bei Luther deshalb
keine völlige Sicherheit des Besitzes aufgekommen, weil Luther
der Widerspruch zwischen sittlichem Grundsatz und dem, was er von
Sittlichkeit um sich sah. immer wieder ergriff. Das bedeutet nun völlige
Verkennung Luthers. Wenn Luther „nur" certitudo gehabt hat und
nicht securitas, dann liegt das daran, daß er alles, was er hatte, nur
im Glauben hatte, der Glaube aber immer in der Anfechtung steht.

Aber das führt nun in Tiefen der Theologie Luthers, die Joachimsen
nicht erreicht. Damit ist auf die Grenze der in ihrer Art
trefflichen Darstellung sehr deutlich hingewiesen. Auch die grundsätzliche
Sicht der Reformation, wie sie oben bezeichnet war, bedürfte
von der Schicht her, zu der Joachimsen nicht durchdringt,
einer Korrektur. Wenn die Reformation „stecken geblieben" ist,
dann dürfte das nicht nur an der an sich richtig gesehenen tragischen
Verflechtung der religiösen Bewegung mit den Reichsrcformplänen
liegen, sondern „theologische" Gründe haben und
nur von der Frage Glauben und Unglauben her letztlich aufhellbar
sein.

Markklccberg/I.cipzig Franz Lau

Stroh), Henry: La Pensee de la Reforme. Ncuchätel, Paris: Dela-
chaux et Niestie [1951]. 264 S. gr. 8°. = Manuels et Precis de
Theologie XXXII. sfr. 7. 50; geb. sfr. 10. 50.

Die reichhaltige und äußerst instruktive Arbeit Strohls gibt
eine gedrängte Zusammenfassung des Glaubens innerhalb der
eigentlichen Reformation. Die Form der Darstellung ist — im
weitesten Sinne des Wortes — die einer vergleichenden Synopse,
welche sorgsam nicht nach dem Unterschiedlichen, sondern nach
dem Gemeinsamen im Gedankengut der bedeutendsten Reformatoren
fragt und ihr durchgängiges Streben nach einem Maximum
der biblischen Botschaft herausstellt. Die Divergenzen, so
der Antagonismus Luther: Zwingli und die Abendmahlsdifferenzen
erscheinen in der StofTbehandlung unterbetont.

Im Großen und Ganzen wird der „Gedanke der Reformation
" als ein verhältnismäßig homogener Gesamtblock gesehen.
Er steht im Gegensatz zum römischen Glaubensbegriff von einer
allgemeinen oder vorläufigen „admissio", einer Zustimmung,
und von einem in der Monstranz gegenständlichen und gegenwärtigen
Glaubensobjekt. Die göttliche „presence effective" im
Bewußtsein der Reformatoren wird subjektiv und individuell verstanden
, als erlebter Erfahrungsinhalt, als „contact personnel
avec Dicu" und als „decouverte du Dieu vivant". Die Terminologie
und auch gewisse Gedanken erinnern gelegentlich stark an
Socderblom's, in französischer Sprache erschienenes posthumes
Vermächtniswerk: „Dieu vivant dans l'Histoire". Dementsprechend
ist der Glaubensstand mehr passiv betrachtet — die
rezeptive Glaubenshaltung der Reformatoren scheint mir
zurückzutreten. Im Schlußabschnitt spricht der Verfasser die Hoffnung
aus, daß die aufgezeigte Evidenz der Einheitlichkeit im
Glauben der Reformatoren einen Schritt vorwärts bedeuten