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Ausgabe:

1953 Nr. 5

Spalte:

265-270

Autor/Hrsg.:

Delekat, Friedrich

Titel/Untertitel:

Christentum und Geschichte 1953

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 5

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Dieses auf solider Kenntnis der Geschichte ruhende, inhaltsreiche
und besinnliche Buch des englischen Historikers greift so
tief nicht nur in die Diskussion über das Problem der Geschichte,
sondern auch in die über die aktuelle politische Situation Europas
ein, daß eine ausführlichere Besprechung gerechtfertigt ist. Es ist
ursprünglich entstanden aus Vorlesungen, die Verf. im Herbst
1948 auf Aufforderung der Theologischen Fakultät der Universität
Cambridge gehalten hat. Die englische Buchausgabe erschien
unter dem Titel „Christianity and History" 1949, die sehr gute
deutsche Übersetzung 1952. B. verdichtet das Problem des Verhältnisses
von Christentum und Geschichte zu ganz konkreten
historischen Fragestellungen. Dadurch wird das Buch zu einer
Fundgrube höchst wichtiger politischer Einsichten und zu einer
Schule der politischen Theologie.

Nach einer Einleitung, die sich mit dem Verhältnis von Natur
und Geschichte befaßt, behandelt das erste Kapitel die methodischen
Probleme der Geschichtsforschung. Die Frage, was objektive
Geschichtscrkcnntnis sei, wie weit sie reiche und wann sie
zu einer Glaubens- und Überzeugungssache werde, ist der erste
Punkt, an dem Christentum und Geschichte (verstanden als Geschichtswissenschaft
) sich berühren. Verf. stellt nüchtern fest,
daß es dem Historiker zunächst auf die Eruicrung der Tatsachen
ankomme, und daß es weitgehend möglich sei, durch wissenschaftliche
Forschung auch zwischen Menschen verschiedener
Glaubensüberzeugung Übereinstimmung des Urteils zu erreichen.
Freilich könne die Methode der historischen Quellenkritik, die
der Historiker zum Zweck der Tatsachenfcststcllung anwende,
übertrieben werden und führe dann in einen Skeptizismus hinein,
der die Grenzen des gesunden Menschenverstandes überschreite.
Zuzugeben sei ferner, daß „der Historiker keinen direkten Zugang
zu dem Inneren der Menschen habe .. . und deshalb seiner
einfühlenden Phantasie bedürfe, eines Stückes von seinem eigenen
Ich, um eine historische Persönlichkeit daraus zu rekonstruieren"
06). Daraus ergeben sich bestimmte Grenzen der historischen
Erkennbarkeit. Es ist z. B. fraelich. ob ein Christ einen Mohammedaner
, ein Weißer einen Schwarzen, ein Konservativer einen
Sozialisten, erst recht, ob wir Menschen Jesus Christus „verstehen
" können. Diese Schwierigkeiten der historischen Methodik
werden noch größer, sobald es sich um epochale Geschichts-
zusammenhänee oder gar um das gesamte Problem da« mensch-
'•chen Schicksals handelt (10). Immerhin: Die historische Tatsachenforschung
,.verschafft uns einige Sicherheit darüber, daß
pewisse Dinge sich wirklich ereignet haben, und daß gewisse
Zusammenhänge zwischen ihnen bestehen, unabhängig von unserer
eigenen Philosophie und unserem eigenen Glauben" (32).
Freilich: „Um die Endsumme unseres Glaubens und unserer
'deen über den Gang der Jahrhunderte bilden zu können, haben
Wlr den Dichter und den Propheten nötig, den Philosophen und
den Theologen" (32). Man kann nicht prinzipiell entscheiden,
wo das historische Tatsachcncrkenncn aufhört und der deutende
Olaubc des Historikers anfängt. Das muß die Diskussion am kon-
Cn jnb'Cm auszl,machen suchen. Man kann aber mit Grund
sagen, daß es ebenso unklug wäre, vom Historiker die Entscheidung
von Glaubcn<=fragen zu erwarten, wie umgekehrt, an einer
a j 10 0c,cr Tncolo2ic oder einer Meinung des Zeitgeistes
auch dann noch festzuhalten, wenn die historische Tatsachcn-
rorschung bewiesen hat, daß sie auf Illusionen beruhen (34).

Der zweite Berührungspunkt zwischen Geschichtswissenschaft
und christlichem Glauben ist die Lehre vom Menschen.
Wie urteilt der Historiker auf Grund seiner intimen Kenntnis
der Geschichte über den Menschen? B. zitiert den englischen
Historiker Lord Acton, der behauptet habe, „fast alle großen
Männer seien schlecht gewesen", meint aber, „es wäre netter von
ihm gewesen, wenn er die ganze Menschheit auf gleichen Fuß
gestellt hätte" (39). B. bezweifelt sogar die Ausnahmen, die
Acton noch gelten läßt. Hinter dieser liebenswürdig vorgetra-

1) Buttcrficld. Herbert: Christentum und Gejdiichte. Stuttgart
: Engclhornvcrlag Adolf Spemann |1952]. 165 S. 8°. kart. DM 7.80.

Christentum und Geschichte1

Von Friedrich D e 1 e k a t, Mainz

genen Kontroverse verbirgt sich ein tieferes theologisches Problem
. Lord Actons Urteil über die großen Männer setzt offensichtlich
einen moralistischcn Begriff der Sünde voraus. Inwiefern
ist es „netter", wenn man ihn auf das ganze Menschengeschlecht
erweitert, und ist das überhaupt erlaubt? Oder macht der Historiker
B., wenn er eine derartige Verallgemeinerung vollzieht,
eine nicht ganz genau definierte Anleihe bei der christlichen
Erbsündcnlehre, die ja kein moralisches, sondern ein theologisches
Urteil über den Menschen enthält? Wir stehen hier
jedenfalls vor der Frage: Darf man die Geschichte und das, was
sich in ihr ereignet, als Manifcstationsfeld einer christlich-dogmatischen
Aussage über den Menschen betrachten? Oder kann
man die Beobachtungen, die in Richtung der Erbsündenlehre weisen
, historisch auch anders auffassen?

B. beantwortet diese Fragen nicht theoretisch, sondern praktisch
, indem er auf eine Reihe höchst unheimlicher Tatsachen hinweist
, die zweifellos nicht moralisch aus einem gelegentlichen Versagen
bestimmter Personen, sondern nur allgemeiner aus grundsätzlichen
Mängeln der menschlichen Natur oder der gesellschaftlichen
Institutionen verstanden werden können. Sie sind vermutlich
für englische Ohren noch viel brüskierender als für heutige
deutsche. Solche Tatsachen sind, daß die Moralität der gegenwärtigen
europäischen Zivilisation ein trügerischer Moorboden ist
(„unter bestimmten Lebensbedingungen fangen alle Leute an zu
rauben und zu plündern"), daß die „menschliche Grundsubstanz,
mit der die Welt heutzutage ausgerüstet ist, nicht minderwertiger
ist als sonst", daß Kapitalismus und industrielle Revolution
auf gewissen Stufen der Geschichte das Beste sind, was die
Vorsehung mit der menschlichen Habeier anfangen konnte,
daß die Ideale der französischen Revolution für eine lange
Periode des 19. Jahrhunderts gerade soweit verwirklicht wurden
, als sie der Machtpolitik dienten, daß der Liberalismus
im modernen Machtstaat endet, daß die Verkündigung der „Vier
Freiheiten" und die Rede von „dem Krieg, der alle Kriege beenden
würde", auch ein politischer Mcssianismus ist, und daß
in der Selbstgcrechtigkeit die eigentliche Ursünde aller Menschen
und Nationen besteht, die sie aus ihrer schwierigen Lage nicht
herauskommen läßt. Man sieht: Der Historiker kann sehr nachdrücklich
Buße predigen. Ob er es freilich als Christ oder als
Zyniker tut, oder ob er als historischer Dialektiker im Sinne von
Hegel und Marx sein theologisch-ethisches Urteil über den Menschen
in den Bereich des Logischen transponiert, das entscheidet
sich erst an den Konsequenzen, die er aus solchen Beobachtungen
zieht und an der Art, wie er sie als Geschichtsschreiber verwertet
.

Die dritte von B. behandelte Frage führt in das Zentrum
jedes Versuches, die Geschichte theologisch zu verstehen. B.
meint: „Daß . . . Gericht in der Geschichte existiert, ist eine Tatsache
, die kaum geleugnet werden kann; wobei jedoch die Feststellung
von Wichtigkeit ist, daß seine Urteilssprüche vorübergehenden
Charakter haben und keine endgültigen Lirteile über
irgend eine Angelegenheit darstellen" (68). Musterbeispiel: Der
preußische Militarismus bzw. das „Hohenzollertum". Aber gilt das
nur von Deutschland? Gilt es nicht ebenso vom zaristischen Rußland
? Lind sind die Völker, Staaten, und neuen Männer, die jeweils
Werkzeuee des Gerichtes über die Sünden der anderen
waren, deshalb besser als diese? Das ercäbe sehr seltsame Rechtfertigungen
höchst umstrittener geschichtlicher Ereignisse und Bewegungen
. Vor allem: Wir leben in einer Zeit, in der das Gericht
der ganzen Welt droht und über alle Ordnungen und Systeme
„der Tag der Abrechnung kommen kann" (64). Auch über
die Demokratie, weil sie zum Zweck propagandistischen Stimmenfangs
„die Taktik des Schmeicheins (der Massen) begünstigt und
geradezu in ein System gebracht hat, so daß Politiker auf keinem
anderen Wege ein Amt zu erlangen vermochten". Das gleiche gilt
analog für Journalisten und kirchliche Würdenträger, wenn ihre
Äußerungen in dem Bestreben, Anstoß zu vermeiden, zu sibylli-
nischen Rätselworten werden, deren wahre Meinung vor lauter
Verklausulierungcn kein vernünftiger Mensch mehr versteht (69).