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Ausgabe:

1953 Nr. 4

Spalte:

237-240

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gogarten, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Verkuendigung Jesu Christi 1953

Rezensent:

Schulze-Kadelbach, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 4

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Aber ist das nicht der in se incurvus, den uns G. hier beschreibt
? Der Christ soll seinen menschlichen Glaubensakt vervollkommnen
und dabei auf das bereits Erreichte als den terminus
a quo zurück- und auf einen anzustrebenden terminus ad
quem vorausblicken, der dann dazu bestimmt ist, wieder zum
terminus a quo zu werden? Soll der Mensch auf sich selbst und
seinen Glaubensakt bauen oder auf Christi einmalige und endgültige
Tat am Kreuz? Ist vielleicht die Gottestat der Rechtfertigung
nur ein Anfang, dessen Fortsetzung das menschliche Hei-
"gungswerk wäre? Dann behielte der in se incurvus im Grunde
Recht; nur daß er sich statt auf das natürliche Ich vielmehr auf
ein durch Christus begnadetes Ich einzustellen hätte!

Einstimmigkeit herrscht darüber, daß der Mensch durch den
Glauben in den Kampf gegen die Sünde hineingestellt ist. Luthers
Rede vom Bleiben der Sünde ist nicht resignierend, sondern
gewissenschärfend gemeint: Täusche dich nicht über dich selbstl
Aber der siegreiche Kampf gegen die Sünde kann nur im Glauben
an Christus geführt werden und nicht im Blick auf eigne Seelen-
zustände. Die Sünde wird in ihrem Wesen als Unglaube in der
Tiefe verkannt, wo der Mensch das Terrain absteckt, das er der
Sünde abgewonnen zu haben meint (als terminus a quo). Es ist
grade nach Luther nichts an sich Sünde und nichts an sich gut;
erst der Glaube oder Unglaube macht es gut oder böse. D. h.
Gut und Böse sind streng genommen nicht konstatierbar; Gott
allein ist der Herzenskündiger. Daher wird es dabei bleiben müs-
sen, „profectus" gegen G. nicht als Maß-, sondern als Zeitbegriff
zu verstehen. Diese Erdenzeit in ihrer Ganzheit ist die Zeit
des profectus, des Werdens unter dem Glauben, der seinen
Blick auf Christus richtet und von ihm her, nicht von einer vermeintlich
erreichten Stufe des Gutgewordenseins her sein Leben
führt.

Also ist die Heiligung ein „ständiges Neuanfangen"? Dieser
Begriff ist mehrdeutig. Er ist abzulehnen, wenn er verstanden
wird im Sinne eines immer wiederholten vergeblichen Anrennens
gegen die Sünde, eines nutzlosen Auf-der-Stelle-tretens, eines
ständigen Unterliegens. Dagegen ist er berechtigt als Hinweis
darauf, daß uns die Heiligung nie über den Christusglauben hinausführt
. Wo sie nicht mehr von diesem Glauben anhebt und
aus ihm hervorgeht, fängt der Mensch an, auf seine Fortschritte
zu sehen und sich nach ihnen zu richten. Wo aber der Glaube
regiert, bleibt das Urteil über etwaige Fortschritte in der Heiligung
getrost Gott überlassen.

G. betont die „Imputationsidee" und im Zusammenhang
damit die Bedeutung des „Christus für uns" (130 f.). Aber ist
nicht der im Glauben ergriffene „Christus für uns" zugleich der
-Christus in uns"? Und ist nicht eben damit die Heiligung so
gut wie die Rechtfertigung ganz auf den Glauben gestellt? Es
handelt sich bei der Imputation doch um mehr als eine bloße
Idee, nämlich um Gottes Spruch, der über mich und an mich ergeht
. Der Glaube an diesen Spruch hat den „Christus für uns"
und den „Christus in uns", hat Vergebung und Leben, Rechtfertigung
und Heiligung. Außerhalb des Glaubens aber gibt es
keine Heiligung, kein Leben, keinen „Christus in uns". Dann
nat aber die Heiligung von Anbeginn das ganze Heil, und es
kann ihr nicht um Vervollkommnung, wohl aber um Bewährung
des Glaubens (und Übung der Liebe) gehen.

Ordfswald E. Schott

Gogarten, Friedrich: Die Verkündigung Jesu Christi. Grundlagen
und Aufgabe. Heidelberg: L. Schneider [ 1948]. 545 S. gr. 8°. geb.
DM 12. 50.

Gogarten will es dem heutigen Menschen, der die Übermächtigkeit
der modernen Welt mit ihren Ansprüchen und Selbstverständlichkeiten
erfährt, durch „eine sachgemäße Erfassung und
Interpretation der biblischen Verkündigung im Ganzen" (S. 452)
ermöglichen, den christlichen Glauben festzuhalten. Das letzte
Ziel bei dieser Bemühung sieht Gogarten in der Rettung der
Welt vor Entmenschung und Nihilismus.

Niemand wird das große Buch ohne aufrichtigen Dank aus
der Hand legen. Seine Gegenwartsanalyse ist weithin überzeugend
. Über Gesetz (z.B. S. 196), Buße und Glaube, Gerechtigkeit
(S. 236), Lehre (S. 424 ff.) u. a. wird Wertvolles gesagt;

auch über das Bittgebet, wenn man die Worte einfältig nehmen
darf, wie sie dastehen (S. 95 f.). Eine ganze Reihe von Schriftstellen
rückt in ein neues Licht. Aus Luther, insbesondere der
zweiten Psalmvorlesung und der Schrift „De servo arbitrio" wird
Wichtiges herbeigezogen.

Aber je länger um so mehr beunruhigt den Leser die Frage,
ob bei alledem nicht doch die Substanz der kirchlichen Lehre verloren
gehe. Denn die biblischen Termini und die kirchliche Sprache
, die weithin verwendet werden, als gälten sie in ihrem wörtlichen
Sinn, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß G. mit
ihnen meist etwas ganz anderes meint. Er will mit der biblischen
Offenbarung eine Übersetzung aus dem Mythischen ins Geschichtlich
-Personale vornehmen (S. 452). Aber kann es sich dem
NT gegenüber wirklich in erster Linie oder gar ausschließlich um
existentiale Interpretation, also um die Frage nach dem Verständnis
von Sein handeln, oder wird der Ausleger nicht zu
einem Hören auf das gerufen, was Gott für die Menschen in
Christus getan hat und fort und fort tut? Es geht doch um das
extra nos, das gewiß pro nobis geschehen ist, aber das nicht aufhört
, wahr zu sein auch außerhalb des den Menschen treffenden
Anrufes Gottes.

Obwohl G. bewußt die Gestalt Jesu Christi in den Mittelpunkt
seines Buches stellt (S. 1 8), gibt es bei ihm keine Christo-
logie. Entscheidend ist ihm die Verkündigung, die Jesus ausgeübt
hat. Der Tod Jesu wird von G. rein existcnzialistisch als Funktion
des personalen Lebens gedeutet. Jesus erfüllt seine Liebe, sein
Vertrauen, seine Treue, indem er das Leben in die geheimnisvolle
göttliche Wirklichkeit preisgibt. Er empfängt seinen Tod
von Gott, und eben dieses Empfangen des Todes ist seine Überwindung
des Todes (S. 139). Er nimmt den Tod als „Leben",
als das „Leben", das Gott ihm bestimmt hat. (Die Anführungsstriche
stammen von Gogarten S. 161 vgl. S. 367).

Gewiß hat das theologische Denken über Christus von der
Menschheit Jesu auszugchen (S. 3 56), aber in dem Sinn, daß sich
Gott in der Niedrigkeit seines eingeborenen Sohnes der Welt
zum Heil schenkt. Gogarten versucht hingegen nicht nur Kreuz
und Auferstehung Jesu von der Verkündigung Jesu her zu verstehen
, während es biblisch und reformatorisch ist, die Verkündigung
des Propheten von Nazareth im Lichte von Kreuz und
Auferstehung zu sehen; sondern er meint auch in seinem Verständnis
des Todes Jesu den Schlüssel zum Verständnis seiner
Auferstehung zu haben, statt mit dem NT vom Glauben an den
Auferstandenen her das Verständnis des Kreuzes Jesu zu gewinnen
. Das Wort „Auferstehung Jesu Christi" besagt darum bei G.
im Grunde gar nichts anderes als die Überzeugung, daß es immer
wieder Menschen geben wird, wie den endgültig verstorbenen
Jesus, Menschen seines Glaubens und seines personalen Lebens
(z.B. S. 162. 217. 220 f.), die entschlossen auf den Tod hin leben
, bis auch sie endgültig sterben (S. 223. 274).

Es kann bei der Fülle von Problemen, die das inhaltreiche
Werk aufwirft, hier in keiner Weise auch nur alles Wichtige berührt
werden. Nur einige wenige Fragen seien eben noch angedeutet
. Kann wirklich behauptet werden, daß nach dem neu-
testamentlichen Zeugnis in der Versöhnung nur der Mensch umgestimmt
wird, oder muß nicht doch gelehrt werden, daß auch
Gott seinen Zorn aufgibt (Rm 5,10 vgl. V. 9 und V. 11; I. Th
1, 10)? Ist es vom biblischen linearen Zeitverständnis her vertretbar
, daß Gogarten das „Ende dieser Welt", das mit dem Reiche
Gottes kommt, mitten im Ablauf der Zeit, ohne diesen aufzuhalten
, hereinbrechen läßt (S. 103)? Oder bleibt das „Einst"
nidit doch ein Einst, ein wirkliches Ende der wirklichen Zeit,
auch wenn der Glaube das Einst je und je vorwegnehmen kann
und wird? Und schließlich: Kann die kirchliche Sakramentslehre
als Sakramcntarismus entwertet werden? Das christliche Gottesverhältnis
ist eben doch nicht, wie G. will, „weltlos", d. h. allen
wclthaften Bedingungen entnommen, sondern gerade „welthaft".
Denn wenn der Mensch gewiß auch von sich aus in keiner Weise
über Gott verfügen kann, so hat Gott sich doch zum Menschen
herabgelassen, er hat „sich angebunden", er „läßt sich tappen"
(Luther). Daß Gott durch das Sakrament sein Heil zueignet und
daß das Heil im Glauben empfangen wird, widerspricht sich nicht.
Denn das Sakrament ist eben keine magische Handlung.