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Ausgabe:

1953 Nr. 4

Spalte:

235-237

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gyllenkrok, Axel

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen Theologie Luthers 1953

Rezensent:

Schott, Erdmann

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Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 4

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nisses von göttlicher Allwirksamkeit und menschlicher Freiheit,
ein Verzicht, den der Verfasser denn — sehr sympathisch für den
protestantischen Menschen — selbst ausspricht und mit der Einsicht
in die Unbegreiflichkeit Gottes und in das Geheimnis der
menschlichen Person begründet. (342 ff.). Den abschließenden
Sätzen, die das Zusammenwirken von Gott und Mensch im Heilsgeschehen
als Mysterium bezeichnen, würde auch Schleiermacher
zugestimmt haben, der ja keineswegs, wie der Verfasser behauptet
, die Gnade abgelehnt hat. (266).

Der wesentlich kürzere Schlußabschnitt bringt dann eine
Darstellung der Auswirkung der Gottesgemeinschaft des begnadeten
Menschen. Noch einmal wird das Thema „Verdienst" angeschlagen
: „Die guten Werke der Gerechtfertigten sind vor Gott
wahrhaft Verdienste" (401). Sie empfangen ihren Lohn. Doch
soll mit dieser Lehre nicht eine neue menschliche Selbstherrlichkeit
aufgerichtet werden. Man spürt, daß das reformatorische
soli deo gloria doch stark auf den Verfasser gewirkt hat. Das
gilt für seine ganze Beurteilung des christlichen Gnadenstandes
in der Welt, die zuletzt eschatologisch ausklingt: „Die Lehre
vom Verdienste zeigt neuerdings, daß das ganze Leben des Christen
sich nicht im Kreise dieser Welt vollendet, daß es vielmehr
hingeordnet ist auf das Kommen Christi" (415). Das sind wirklich
neue Töne, die fruchtbar in die Zukunft weisen.

Auch der protestantische Theologe liest das Werk nicht nur
mit gespannter Aufmerksamkeit, sondern auch mit innerer Anteilnahme
. Man spürt, daß der Verfasser wirklich von Christus ergriffen
ist, und das verbindet uns mit ihm. Und doch legen wir
zuletzt das Werk aus der Hand mit dem beglückenden Gefühl,
wie reich uns Luther gemacht hat mit seinem einfachen, schlichten
und doch unendlich tiefen sola gratia.

Kiel Werner Schultz

Cyllenkrok, Axel, Dozent: Rechtfertigung und Heiligung in der
frühen evangelischen Theologie Luthers. Uppsala: Lundequist und
Wiesbaden: Harrassowitz 1952. X, 148 S. gr. 8° = Uppsala Univer-
sitets Arsskrift 1952:2. skr. 8.—.

Der Dozent an der Universität Uppsala A. Gyllenkrok hat
eine gründliche Untersuchung zur Theologie des jungen Luther
vorgelegt. Sein Thema: „Rechtfertigung und Heiligung" ist so
wichtig, daß eine etwas ausführlichere Würdigung gerechtfertigt
ist.

G. erörtert je gesondert das Rechtfertigungs- und das Heiligungsproblem
. Die reformatorische Rechtfertigungslehre, die sich
in der Forderung der Heilsgewißheit vollendet, findet sich in der
Römerbriefvorlesung noch nicht, wie G. gegen Holl nachzuweisen
versucht. Erst von der Hebräerbriefvorlesung (1517) an beginnt
„Heilsgewißheit und fröhliches Gewissen" „des Christen Stellung
vor Gott" zu kennzeichnen (74). Das alte Humilitasideal hat nun
seine beherrschende Stellung an die neue evangelische Heilserkenntnis
abgeben müssen; Luther hält es nur insofern noch fest,
„als er immer noch Leiden, Verzweiflung und Kreuz als das notwendige
Los des Christen betrachtet" (76 f.).

Schon dieser erste sehr erwägenswerte Teil der G.sdien
Schrift ist stark polemisch gehalten. G. ist nämlich in seiner theologischen
Entwicklung zu Luther hin von der Literatur über Luther
ausgegangen, so daß ihm die Kritik an andern Forschern besonders
nahe liegt (V). Diese Eigentümlichkeit seiner Arbeitsweise
tritt in den weiteren Ausführungen, die von der Heiligung
handeln, noch stärker hervor. Sein Hauptgegner ist hier R. Hermann
und die „Hermannsche Schule", deren Hauptvertreter G.
in Regin Prenter sieht und heftig bekämpft (78 f.). Es geht dabei
um die Frage, ob die Heiligungslehre Luthers ein „augustinisch-
sanatives Gepräge" habe (78). G. bejaht sie entschieden mit Holl,
R. Seeberg, O. Ritsehl, Hamel u. a. gegen Hermann und seine
„Schule".

G. interpretiert Luther folgendermaßen: „Die Wanderung
des Christen zum Ziele hin" bedeutet „eine Entwicklung und
Verbesserung der humilitas und Fides" (102). „Profectus" ist ein
Maß-, nicht nur ein Zeitbegriff (102S). Das Leben des Christen
ist „eine ständige Bewegung nach vorwärts", wobei „von dem
jeweiligen terminus a quo" auszugehen ist, der sich dank des
profectus „ständig nach vorne" verschiebt; das Christenleben

ist also nicht ein ständiges Neuanfangen (Ulf.). Das Simul
justus et peccator bedeutet häufig „Bewegung und Vermittlung
zwischen zwei Extremen", „Mitte zwischen vollkommener Gerechtigkeit
und Sünde" (121). Der Christenmensch ist einerseits
„eine Mischung von Gut und Böse", andererseits findet er „an
sich selber nichts Gutes" und besitzt das Leben nur in Christus.
Diese beiden Aspekte faßt die Imputationsidee zusammen, indem
sie die angefangene Gerechtigkeit antezipatorisch für vollwertig
erklärt (130).

G. s Anliegen ist tief in der Sache, um die es ihm und uns
geht, begründet. Rechtfertigung und Heiligungl Der Gerechtfertigte
ist seines Heiles in Christus gewiß trotz seiner Sünde
und vor allen guten Werken; wird diese Vergleichgültigung der
Sünden und der Werke im Rechtfertigungsaspekt nicht den Heiligungsernst
zerstören? Aber das Dringen auf Heiligung wird kaum
ohne eine gewisse Werkgerechtigkeit auskommen; wo bleibt
dann Rechtfertigung und Heilsgewißheit? So scheinen Rechtfertigung
und Heiligung einander auszuschließen.

G. versucht, diesem Dilemma zu entgehen. Allerdings kann
sein Ergebnis nicht befriedigen. Schon methodisch fällt auf, daß
die Bewertung der Römerbrief Vorlesung, einer Hauptquelle G. s,
etwas im Zwielicht steht. Die Rechtfertigungslehre ist nach G.
erst seit 1517 auf der vollen reformatorischen Höhe; gilt nicht
vielleicht das gleiche auch von der Heiligungslehre? Diese Frage
hätte zumindest gestellt werden müssen. Stattdessen nimmt G.
in der Heiligungsfrage die Römerbriefvorlesung ohne Bedenken
als vollwertiges Dokument reformatorischer Theologie. Aus
Raumgründen verzichten wir darauf, in die Erörterung einzelner
Lutherstellen einzutreten, und bemerken nur, daß G. den Gegner
zuweilen mehr abfertigt als widerlegt. So, wenn er sich begnügt
, einen gegnerischen Satz als „ziemlich dunkel" abzutun,
ohne sich um das Verständnis weiter zu bemühen (861), oder
im Vollbewußtsein der Richtigkeit der eigenen Position
die These des Gegners für „wenig durchdacht" zu erklären (1051)-

Sachlich basiert die von G. vorgetragene Lösung auf einer
Anthropologie, die mit Luther nicht übereinstimmt. G. geht davon
aus, daß „Luther ein Subjekt voraussetzt, ein Ich1, das reli-
quiae camis in sich11 findet, wodurch ich111 zum Bösen neige
und eine inclinatio zu mirlv selbst habe" (87). Ich1 und Ich11
faßt G. als Ichsc zusammen; es handle sich hierbei um ein Ich,
„welches einen partialen Spiritus und eine partiale caro (eben
die reliquiaef) umfaßt" (a. O.). Ich111 und IchIV bilden nach G.
ebenfalls eine Einheit und, zwar als caro, Icfac; denn „pronitas
ad malum ist offenbar identisch mit inclinatio ad nos ipsos. IchIV
ist also mit dem Bösen identisch" (a. O.)! Schließlich spricht G.
nodi von einem Ichs, das in paradoxer Weise dem Ichc (duo toti
homines) gegenübersteht (8 8).

Diese ganze Konzeption leidet an dem entscheidenden Mangel
, daß in ihr das kreatürliche Ich keinen Platz hat. Für Luthers
Theologie ist es doch von hoher Bedeutung, daß idi esse, trinke,
schlafe, arbeite, ruhe, lebe, sterbe, kurz „tue, was vor die Hand
kommt". Luthers theologisches Interesse am Ich-Begriff erschöpft
sich also nicht darin, festzustellen, daß das Ich eine Mischung
oder eine paradoxe Einheit von Spiritus und caro, von Glaube
und Unglaube, ist. Das sei an dem Begriff „in se ineurvus" verdeutlicht
. Der in se ineurvus ist nicht darum böse, weil das Idi,
auf das hin er sich verkrümmt, böse ist, sondern weil er in der
Abwendung von Gott steht. Um G.s termini aufzunehmen: IdiIV
ist nicht böse und also nicht mit Ich111 identisch! Es ist ein Kerngedanke
Lutherscher Theologie, daß der in se ineurvus sich hinter
guten Gaben Gottes, ja selbst hinter geistlichen Gütern, gegen
Gott abschließt. Diese Gaben und Güter werden dadurch "
nicht böse; böse ist der Mensch, der sich in sie verkrümmt, als
wären sie sein ohne und gegen Gott.

Wie steht es nun mit dem profectus-Begriff? G. betont, daß
der Glaube auch als „psychologische Realität" gewürdigt werden
müsse (113): „Er ist sowohl menschlicher Akt wie göttliches
Wort" (19). Als menschlicher Akt nun, als psychologische Realität
ist der Glaube perfektibel. Diesen Tatbestand habe Luther
im Auge, wenn er von proficere und profectus im Christcnlcbeii
rede; er denke dabei an einen stufenweisen Fortschritt im Glauben
und damit in der Heiligung mit einem jeweiligen terminus
a quo und ad quem (111 f.).