Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1953 Nr. 4

Spalte:

231

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ragaz, Leonhard

Titel/Untertitel:

Mein Weg 1953

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

231

Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 4

232

Ragaz, Leonhard: Mein Weg. Bd. I. Zürich: Diana Verl. [1952].
375 S. 8°. geb. sfr. 13. 85.

Leonhard Ragaz, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den
bedeutendsten Führern der religiös-sozialen Bewegung in der
Schweiz gehörte, berichtet in dem vorliegenden ersten Band seiner
Lebenserinnerungen, sehr anschaulich und lebensvoll über den
Werdegang seiner Entwicklung von der Jugendzeit in Tamins,
den Schülerjahren in Chur, der Studienzeit in Basel, Jena und Berlin
, bis er am Heinzenberg im Bündnerland seine erste Pfarrstelle
antrat. Dem demokratisch-sozial gerichteten schweizer Studenten
mußte das damalige kaiserlich-militaristische Berlin kaum zusagen
und so brachte er auch Kaiser Wilhelm II. wenig Sympathie
entgegen. „Seine ganze Haltung, die auf das Imponieren
eingestellt war, das nichtssagende, mich nachträglich ein wenig an
Hitler erinnernde Gesicht, der hohle Blick seiner Augen stießen
mich ab." Wenn Ragaz dann aber den Satz prägt: „Meine Erinnerung
weist nicht einen starken Eindruck auf, den mir die Berliner
Universität vermittelt hätte", so ist das psychologisch insofern
schwer verständlich, als gerade zu jener Zeit Berlin „einen
ganzen Himmel voll von Sternen ersten Ranges aufwies" (A. Har-
nack, R. Seeberg, J. Kaftan, O. Pfleiderer, W. Dilthey u. a.), der
besonders jungen Semestern eine Fülle von Anregungen ins Leben
mitgab. So kam es auch, daß dem später so sozial empfindenden
Stadtpfarrer Ragaz in Chur und Basel die tatkräftige, rednerisch
glänzende Persönlichkeit A. Stöcker's „unbedeutend" erschien.

Mit schlichten und doch stellenweise ergreifenden Worten
schildert Ragaz seine Tätigkeit als Bergpfarrer und dann als
Stadtpfarrer in Chur. Das Erleben Gottes in der Natur blieb der
geheime Unterton seines bewegten Lebens: „Es begleitete mich
im Großen und im Kleinen, im Berggipfel und in den Blumen
am Wege, im Strahlen der Sonne und im Rauschen des Baches,
ohne Unterbrechung". Und seine Erlebnisse in Chur gehören
heute schon der für eine so kleine, geistig so reiche Stadt im
Bündner Land der Geschichte an, denn hier begann sein soziales
Wirken, das ihn mit der Berufung nach Basel und zum Professor
für svstematische Theologie nach Zürich führte. In diesen
beiden für das schweizerische Geistesleben markanten Städten
trat die Gestaltungswende seines Lebens ein durch seine aktive
Beteiligung an der religiös-sozialen Bewegung, durch die Gründung
(19061 der leider zu wenig beachteten, vorzüglich redigierten
Zeitschrift .Neue Wege', durch die Veröffentlichung des Büchleins
: ,Du sollst! Grundlinien einer sittlichen Weltanschauung';
ebenso wie durch die vom Glauben an die Macht des Geistes erfüllten
, idealistischen Bücher ,Von Christus zu Marx, von Marx
zu Christus'; ,Die Botschaft vom Reich Gottes'; ,Die Bergpredigt
Jesu', deren grundlegende Erweiterungen in R.'s fünfbändigem
Bibelwerk: ,Die Bibel — eine Deutung' (1. ,Die Urgeschichte';
2. .Moses'; ,Die Geschichte Israels'; ,Die Propheten'; Jesus') aufgenommen
wurden.

Zwischen seiner umkämpften Wirksamkeit in Basel und
Zürich liegen die Ereignisse seines Amerikabesuchs (1907) anläßlich
des .Weltkongresses für freies Christentum' in Boston. Es
war die Tragik in Ragaz' Leben, daß jede begonnene neue Wirksamkeit
(auch in Zürich) überschattet wurde von politischen Begebenheiten
(wie der Zürcher Generalstreik, 1912), die ihn wegen
seines Eintretens für die Arbeiterschaft unmittelbar in Konflikt
mit dem behäbig-konservativen Bürgertum seines Landes
brachte. Er war und blieb ein Prediger in der Wüste mit seiner
„Botschaft vom Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit für die
Erde" —,, als Botschaft und nicht als System", woran die damalige
Theologie keinen Mangel hatte. War das Dogma (nach Harnack)
ein Gebilde des Evangeliums auf dem Boden des Griechentums,
so sollte die Botschaft vom Reiche Gottes zur biblisch-prophetischen
Wahrheit der Offenbarung des lebendigen Gottes zurückführen
. „Der Kampf zwischen den beiden fundamentalen Denkweisen
, der quietistischen und der dynamischen, hat immer wieder
die Darstellung der Entwicklung der Sache Christi" bei Ragaz
beherrscht. Müde all der widrigen geistigen und sozialen Kämpfe
zog sich Ragaz 1921 in das wildromantische Parpan bei Chur zurück
, um in einer von Staat, Kirche und Gesellschaft ganz freien
Weise in Vorträgen und Schriften im In- und Ausland auf Volkshochschulen
unter der Arbeiterschaft Christus und das Reich
Gottes verkündigen zu können.

München R. F. Merkel

KIRCHEN- UND HOJSFESSIOJSSKVNDE

Rost, Hans: Die katholische Kirche, die Führerin der Menschheit.

Eine Kultursoziologie. Westheim b. Augsburg: G.Rost [1949]. 544 S.
8°. Lw. DM 13.80.

R.s Schrift ist symptomatisch für unsere geistige Situation,
insbesondere für den völligen Stimmungswechsel, der sich seit der
Jahrhundertwende vollzogen hat. Damals herrschte ein selbstbewußter
Kulturoptimismus, ein trotz mancher kritischer Stimmen
im Ganzen ungebrochener Fortschrittsglaube; heute nach zwei
furchtbaren Weltkriegen angesichts einer schier ausweglosen
weltpolitischen Lage ist das Selbstbewußtsein des Kulturmenschen
weithin erschüttert und gebrochen, der einst so siegesbewußte
Liberalismus ist in Kirche und Welt fast erloschen, statt dessen
ringen verschiedene Autoritäten um die Herrschaft über die nach
einem Halt suchenden Gemüter.

Da bietet sich nicht zuletzt die katholische Kirche als Führerin
der Menschheit an, und R. ist ein begeisterter und sachkundiger
Künder ihres Führungsanspruchs. Er preist das Prinzip
der Bindung im Katholizismus, besonders den päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruch
, als eine ungeheure Wohltat für die Menschheit
auf allen Gebieten menschlichen Lebens, sei es Kunst, Philosophie
und Wissenschaft oder Wirtschaft, Politik, Ehe und Familie
. Christen, NichtChristen und Antichristen (Nietzsche!) ruft
er zu Zeugen auf und führt ein umfangreiches Material vor bis
hin zur Bevölkerungs- und Selbstmordstatistik.

Seine Polemik gegen den Protestantismus ist maßvoll. „Wir
stehen mit Hochachtung vor dem protestantischen Menschen, der
die ganze seelische Problematik des Gewissenskampfes aus alleiniger
Kraft austragen muß" (23). Aber das katholische „Prinzip
der Bindung an die Entscheidungen der Kirche" (23) erweist darin
seine Überlegenheit, daß es den beglückenden Ausweg „aus
Skrupeln, seelischen Nöten und Hemmungen" zeigt (23). Selbst
Albigenserkreuzzug (70 ff) und Inquisition (119) waren heilsame
notwendige Maßnahmen. Heute allerdings besteht eine „Weggemeinschaft
" zwischen evangelischer und katholischer Kirche
(360), wenn R. auch zeigen zu können meint, daß sowohl Kalvin
wie Luther Geistesverwandte Hitlers sind (99).

Aus Raumgründen sei auf eine gründliche Kritik der von R.
propagierten Geschichtsauffassung verzichtet. Wichtiger ist das
Problem des kirchlichen Führungsanspruchs. Zweifellos ist der
Kirche immer wieder in der Geschichte eine bedeutsame Führerrolle
zugefallen, und auf bestimmten Gebieten ist sie bis in die
Neuzeit hinein gradezu bahnbrechend gewesen (Innere Mission!).
Aber bei R. geht es um etwas ganz anderes, nämlich um das Ansinnen
an die Welt, sich dem Papst und der katholischen Kirche
als den ihr von Gott gesetzten Autoritäten zu unterwerfen. Die
Kirche soll also grundsätzlich für die Weltgeschichte mehr sein
als ein Faktor unter andern. „Gott regiert die Welt und er tut
das durch die von ihm gestiftete Kirche" (518). „Der Papst kann
zwar nur in Sachen des Glaubens und der Sitte unfehlbare Entscheidungen
treffen. Aber es liegt in der Linie des göttlichen
Auftrages von Christus, daß er auch die Wegweiser für die Belange
der Philosophie, der Kultur, der Wirtschaft, der Politik,
der Staatsführung aufstellt, weil alles menschliche Handeln und
Tun niemals von der Verantwortung vor Gott losgelöst sein
kann. Aus diesen Erwägungen erhellt für jeden katholischen Christen
der Führungsanspruch des Papsttums und der Kirche" (520).

Ähnliche Gedanken legen sich zuweilen auch der evangelischen
Kirche als der Verkünderin der Schriftoffenbarung nahe.
Zumal aus der in der Welt verbreiteten Katzenjammerstimmung
wird vielfach auch evangelischerseits unerlaubterweise theologisches
Kapital geschlagen. Unerlaubterweise — ; denn Gottes
Selbstoffenbarung in Christus nimmt der Vernunft nicht die Aufgabe
ab, die Welt- und Lebensrätsel zu lösen, wohl aber schenkt
sie dem Glauben die Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater
für Zeit und Ewigkeit. Die Nöte und Rätsel unseres zeitlichen
Daseins rücken dadurch in das Licht des Glaubens, der uns die
innere Freiheit gegenüber der Welt gibt. Diese christliche Freiheit
muß sich bewähren auch bei der Lösung der großen brennenden
Menschheitsprobleme. Sie ist drangegeben, wenn ein an-