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Ausgabe:

1953 Nr. 4

Spalte:

199-216

Autor/Hrsg.:

Haendler, Otto

Titel/Untertitel:

Komplexe Psychologie und theologischer Realismus 1953

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199

Theologische Literaturzeitung 1953 Nr. 4

200

Die kultische Frömmigkeit verfolgte eine mittlere Linie, die
weder die restlose Ablehnung der kanaanäischen Elemente noch
die völlige Anpassung des eigenen Glaubens bezweckte, sondern
die lebensfähigen, berechtigten und dem Jahweglauben nicht
widersprechenden Elemente einzubeziehen suchte. Unvereinbar
mit Jahwe waren die Gedanken der geschlechtlichen Aufspaltung
und des Sterbens der Gottheit. Konnte aber El nicht als Gatte
und Vater in Jahwe aufgehen, so doch als Gott des Himmels und
der Weisheit. Ließ sich die Stiernatur Baals und sein rhythmisches
Sterben und Wiederaufleben nicht auf Jahwe übertragen, so
doch seine Herrschaft über das Kulturland und seine segensreiche
Gewährung aller Fruchtbarkeit. Fast der gesamte israelitische Kultus
ist durch die kanaanäische Religion geprägt worden. Es ist
bezeichnend, daß der salomonische Tempel nach kanaanäischem
Vorbild errichtet worden ist, wie die 1936 entdeckte Parallele
von Teil Tainät in Nordsyrien erweist1". Oft genug ist Israel dabei
zu weit gegangen, so daß zwischen einem kanaanisierten
Jahwekult und einem jahwistisch beeinflußten Baalkult nur schwer
zu unterscheiden war. Von da aus werden die ständige Gefahr
des Synkretismus und die mehrfachen Kultusreformen verständlich
.

Ähnlich wie in der kultischen Frömmigkeit ist manches in
der national-religiösen Haltung der vorexilischen Quellenschichten
des Hcxateuchs zu beurteilen. Neben der Ablehnung fremder
Erzählungselemente stehen wieder ihre Übernahme und Aneignung
. Nicht nur sind kanaanäische Mythen auf Jahwe übertragen
worden, auch die sumerisch-babylonischen müssen vielleicht als
durch die Kanaanäer vermittelt gelten.

Schließlich ist die Gesetzesfrömmigkeit allein auf dem Boden
der apodiktischen Sätze Israels gänzlich undenkbar. Ihre wichtigste
Wurzel liegt in dem kasuistischen Recht der Kanaanäer, das
seit der Richterzeit in Israel heimisch wurde.

Da die Weisheitslehre wegen ihrer fremden, ausländischen
Herkunft außer Betracht bleiben muß, kann als israelitische Bewegung
gegen den kanaanäischen Einfluß zunächst nur die besonders
von Nasiräern und Rechabiten vertretene konservative
Haltung genannt werden. Sie lehnte die gesamte kanaanäische
Kultur und Religion zugunsten der nomadischen Lebensweise
rundweg ab. Dadurch hat sie zweifellos dazu beigetragen, die
Impulse des mosaischen Jahweglaubens lebendig zu erhalten, ihr

1S) Vgl. den Plan von C. W. McEwan in Am J Arch 1937, S. 9,
Abb. 4.

Sieg jedoch hätte Volk und Glaube zur Unfruchtbarkeit verdammt
.

Lediglich den Propheten ist es gelungen, in Auseinandersetzung
mit all den erwähnten Strömungen einen neuen und vollendeten
Glauben zu erreichen und in den Formen ihrer Zeit auszusprechen
und anzuwenden. Gerade angesichts des neuen und
schärferen Bildes der israelitisch-jüdischen Religion mit ihren so
verschiedenen, fast konfessionsähnlichen Richtungen auf dem Hintergrund
der kanaanäischen Einwirkung wird die epochale, weltweite
und ewig gültige Bedeutung der Prophetie deutlicher als
je zuvor. Sie stellt sich als eine einmalige Erscheinung dar, die
weder aus Israel noch aus der kanaanäischen oder einer anderen
altoricntalischen Religion geschichtlich abgeleitet werden kann.
Angesichts der Wiederentdeckung der kanaanäischen Religion ist
es also nicht nur erforderlich, die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte
neu zu betrachten, sondern auch wesentlich theologische
Folgerungen zu ziehen, die für den christlichen Glauben
eine noch schwer übersehbare Bedeutung erlangen könnten".

2. Lassen wir in den Beziehungen der Kanaanäer zur griechisch
-römischen Antike wieder allgemeine kulturelle Errungenschaften
wie die alphabetische Schrift, nautische Erkenntnisse sowie
die Wirkungen der zeitweiligen Seeherrschaft im Mittelmeer
und der kolonisatorischen Tätigkeit unbeachtet, so bleibt allein
schon der Einfluß der kanaanäisdien Religion auf das frühe Griechentum
beachtenswert. Es mag genügen, auf drei bereits beobachtete
Einzelheiten hinzuweisen, die sich offenbar aus der beiderseitigen
Neigung zu ästhetischem Empfinden und spekulativem
Denken ergeben haben20: die Gemeinsamkeiten des kanaanäischen
Pantheons mit dem homerischen Olymp, die teilweise
Abhängigkeit der Theogonie Hcsiods von der kanaanäischen Mythologie
und die anthropomorphisierende Götterdichtung Ugarits
als Vorbereitung der griechischen Religionsphilosophie.

Auf diese Weise gestatten die ugaritischen Texte Einblicke
in die Vorgeschichte der Geisteskultur der Antike, durch die wiederum
unser Dasein mitbestimmt ist. Dadurch und durch die Beziehungen
zu Israel erhalten sie eine nachhaltigere Bedeutung
und ein größeres Gewicht als die Funde, die man seit vielen Jahrzehnten
im übrigen Alten Orient gemacht hat.

") Vgl. den Überblick von G. Fohrer, Die zeitliche und überzeit-
lidie Bedeutung des Alten Testaments, Ev Theol 1949/50, S. 447—460.

20) O. Eißfeldt, Die religionsgesdiichtliche Bedeutung der Funde von
Ras Schamra, ZDMG 88 NF 13 (1934), S. 180-184.

Komplexe Psychologie 111

Ein Literaiurbericht Gber

Von Otto H a

Die Wiege der Tiefenpsychologie als einer Therapie steht in
Wien, zur universalen Kraft der Individuation wurde sie in Zürich
. Freud entdeckt die Wirklichkeit des Unbewußten und die
Traumanalyse als via regia der Psychotherapie, Jung entdeckt den
Zusammenhang des Unbewußten im Subjekt mit dem kollektiven
Unbewußten sowie den Mythos in seiner universalen Bedeutung
als Ausdruck der Urerfahrung der Menschheit und Zugang zu ihr.
So bleibt Freud trotz seiner Ausweitung des Menschenbildes zum
Unbewußten hin positivistisch-psychologisch, Jung kommt zur
„komplexen" Psychologie, die die Gesamtpersönlichkeit zu ihrem
„Selbst" führt durch Einordnung in die Totalität ihres Beziehungsfeldes
im ganzen Kosmos.

Jungs leidenschaftliches Eindringen in die Mythologie und
in alle Gegebenheiten, die die Tiefenschichten des Menschen zum
Ausdruck bringen (Alchemie u. a.), ist damit für ihn nicht ein
Spezialinteresse am Rande, sondern der von seinem Ziele her gewiesene
Weg seiner Forschung. Mit dem universalen Ziel ist dabei
zugleich die Bemühung um die Religion in ihren verschiedenen
Gestaltungen gegeben. Jung steht der Religion mit tiefer Ehrfurcht
, dem kirchlichen Christentum mit weitgehender, oft ätzen-

id theologischer Realismus

C. 0. Jung und seinen Kreis

e n d 1 e r, Berlin

der Kritik gegenüber. Dem Dogma bringt er nur äußeres, nur
psychologisch sich herantastendes, dennoch hierin erstaunlich et'
tragreiches Verständnis entgegen. Aber er hat mit dem allen als
erster und in seinem universalen Ansatz bisher einziger die
fruchtbare Begegnung zwischen Christentum und Psychologie
auf den entscheidenden Feldern angebahnt, sofern er in universaler
Breite und Tiefe das psychologische Phänomen der Religion
als einer Begegnung zwischen Person und universaler Wirklichkeit
mit deren beiderseitigen Ansprüchen aufweist, und alle Gestaltungen
, die diese Begegnung in der „Seele" als der entscheidenden
Wirklichkeit annehmen, in einheitlicher Schau untersucht.
Die wissenschaftliche Leistung, die Jung und seine Schule in den
letzten Jahren vorlegen, ist deshalb für alle universale Wirklichkeitsschau
und für die Theologie im Besonderen bedeutsam.

Da das gewichtigste Anliegen für uns die Auseinandersetzung
mit Jungs Einordnung und Schau der Religion und des Christentums
ist, behandeln wir diese hernach, und nehmen diejenigen
Arbeiten aus seiner Schule voraus, die aufgrund seiner Forschung
neue Felder gewinnen, oder von ihm aus entsprechende
Verbindungslinien ziehen.