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Ausgabe:

1952 Nr. 3

Spalte:

141-148

Autor/Hrsg.:

Richter, Liselotte

Titel/Untertitel:

Konstruktives und Destruktives in der neuesten Kierkegaard-Forschung 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 3

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Dr.Dodd erzählt, daß ein englischer Freikirchler, wenn er
das Wort „anglikanisch" hört, nicht nur an eine episkopali-
stisch-ritualistische Kirche denkt, sondern daß ihm dann zugleich
eine nicht-demokratische, mit ganz bestimmten Wirtschaftsgebilden
verbundene Größe vor Augen steht, und wohl
auch vice versa. Es werden damit also zugleich ganz bestimmte
Affekte ausgelöst. Diese Selbstbeobachtung fragt nun auch
uns: Gibt es so etwas ähnliches auch in Deutschland ?

Vilmar hat einmal gesagt: Es ist mir, ,,als wenn jedesmal
der Teufel bei mir vorüberflöge, wenn ich das Wort — , Synode
' höre oder schreibe"1. Und es gibt wohl immer noch

') Zitiert nach Barbara Schlunk, Amt und Gemeinde im theologischen
Denken Vilmars, 1947, S. 8.

kleine lutherische Kreise, die eine Gänsehaut bekommen, wenn
sie das Wort „reformiert" hören. Ebenso gibt es vereinzelt
Reformierte und Unierte, denen, wenn sie das Wort .lutherisch
" hören, so etwas wie ein bürokratisch-papalistisch-rück-
ständig-enges Etwas vorschwebt, das einen Anflug von Seekrankheit
auslöst. Das ist das ernsteste Phänomen, das in
diesem Zusammenhang auftaucht. Diese Stimmung ist auf
beiden Seiten die eigentliche Sünde wider die EKiD und zugleich
die eigentliche Sünde wider den ökumenischen Geist. Sie
sollten wir, wo immer sie uns begegnet, mit allem christlichen
Ernst, freilich zugleich mit aller christlichen Liebe bekämpfen.
Und dazu aufzurufen, das ist vielleicht der wichtigste Dienst,
den die Betrachtung der „vergessenen Faktoren" uns tun
kann.

Konstruktives und Destruktives in der neuesten Kierkegaard-Forschung

Von Liselotte Richter, Berlin

Das Bemühen um die Aneignung Kierkegaards weist im
Laufe der Generationen eine ganze Reihe von Stilen und
Formen auf, so daß diese selbst, schon historisch werdend, in
der Art ihrer Kgd.-Interpretation ein Spiegelbild der Geistesgeschichte
der letzten 100 Jahre bieten. Deshalb entspricht es
einer inneren Notwendigkeit, wenn die Kgd.-Gesellschaft zu
Kopenhagen mit einer Kgd.-Bibliographie eine Handreichung
zur ersten Orientierung für den heutigen Forscher vorlegt1.
Natürlich konnte sie nicht alles erfassen, was überhaupt in der
Welt an Kgd.-Literatur existiert. Sie beschränkt sich bewußt
auf die wichtigsten Ausgaben der Werke und Tagebücher sowie
das Hauptsächliche der neueren Literatur, wobei als Maßstab
alles das galt, was in dänischen Bibliotheken erreichbar
ist. Von Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen sind besonders
die dänischen, norwegischen und schwedischen von etwa 1915
bis 1949 und eine Auswahl der wichtigsten älteren nordischen
Kgd.-Artikel von 1841 bis 1913 berücksichtigt. Wer weitere
ausländische Zeitschriften-Literatur wünscht, wird auf die
älteren Verzeichnisse von Erslew, Lombardi, jolivet und Kabeil
verwiesen. Die Sammlung schließt mit dem Dezember
i95°-

Daß hiermit schon eine sehr brauchbare erste Orientierung
gewonnen ist, beweisen die 674 Nummern des Verzeichnisses,
das gegliedert ist nach i.Kgds. Werken, 2. Auswahleditionen,
3. dänischen Werken über Kgd. nebst einer Auswahl von kleineren
Publikationen, 4. ausländischen Werken nebst Auswahl
der kleineren Publikationen, 5. größeren Kgd.-Würdigungen
in anderen Werken, 6. Zeitschriftenartikeln und 7. Zeitungs-
aufsätzeu. Für den deutschen Leser ist von besonderem Interesse
der Einblick in die frühe Kgd.-Literatur Skandinaviens,
die zeigt, daß der große Einsame zu seinen Lebzeiten doch eine
stärkere Beachtung fand, als dies heute, rückläufig gesehen, erscheint
. Seine Einmaligkeit und überragende Bedeutung war zu
seinen Lebzeiten keineswegs so völlig verkannt, wie dies bei der
leidenschaftlichen Abwehr Kgds. gegen Mißverständnisse
heute aussehen muß. Besonders dankenswert sind hier die angeführten
nordischen Zeitschriften- und Zeitungsartikel. Ferner
ist für uns nach der langjährigen Absperrung vom Ausland
wichtig die Ubersicht über die englischen, amerikanischen,
französischen, spanischen, holländischen und finnischen Ausgaben
und die größeren Werke der Kgd.-Sekundärliteratur des
Auslands.

Die wichtigsten skandinavischen Kgd.-Publikationen
fanden gründliche Besprechung und Würdigung in der Reihe
„Publications of the Kierkegaard Society, Copenhagen". Der
erste Band dieser Reihe „Methods and Results of Kierkegaard
Studies in Scandüiavia", a Historical and Critical survey by
Aage Henriksen2, gliedert die Schriften der Kgd.-Forschung
des Nordens in zwei große Epochen: Diejenigen, die sich auf
die erste Edition der Tagebücher stützen (in der Zeit von 1869
bis 1909), und diejenigen der zweiten, endgültigen Tagebuchausgabe
von 1909—1949. Von besonderem Wert für die deutsche
Wissenschaft ist es, daß nicht nur die bekanntesten
Autoren wie Brandes, Höffding usw. eine ausführliche und
kritische Behandlung erfahren, sondern vor allem, daß hier

') Soren Kierkegaard. Bidrag til en bibliografi. Contributions to-
wards a bibliography. Udarbejdet af Edith Ortmann Nielsen under med-
wirken af Niels Thu Ist rup. Kopenhagen: Munksgaard 1951. 96S. 8°. s 9.6

2) Henriksen, Aage, m. a.: Methods and Results of Kierkegaard
Studies in Scandinavia. a Historical and Critical Survey. Kopenhagen
: Munksgaard 1951. 160;S. gr.8° = Publications of the Kierkegaard
Society, Copenhagen, Vol. I. t 3.25.

weniger bekannte Namen wie Hans Sophus Vodskov (1846
—1910), Waldemar Rudin (1833—1921), Fredrick Petersen
(1839—1903), Oswald Kuylenstierna (1868—1932), Niels Teisen
(1851—1916) u. v. a. eingehende Erwähnung finden. So ergeben
sich Einblicke und Ubersichten von den Werken über
Kierkegaard in Dänemark, Norwegen und Schweden, die
hier kaum zugänglich sind. Ihre kritische Einordnung in die
wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Entstehungszeit
erlaubt weitgehende Rückschlüsse darüber, wie
weit die besprochenen Arbeiten heute noch einen Wert für die
Forschung haben. In jedem Falle ist es überraschend zu sehen,
daß bereits 14 Jahre nach Kgds. Tode eine lebhafte wissenschaftliche
Diskussion um sein Werk und seine Persönlichkeit
im Gange war, und daß es keineswegs so war, daß ca.
80 Jahre nach seinem Wirken eine Kgd.-Renaissance sein
Werk erst wieder entdecken mußte. Dies gilt jedenfalls nicht
für die skandinavischen Länder, wie man sieht. Allerdings
macht diese dankenswerte Übersicht deutlich, wie in den einzelnen
geistesgeschichtlichen Epochen vom Positivismus in
der Mitte des 19. Jahrhunderts über den Historismus und
Psychologismus bis zur Tiefenpsychologie sowie der dialektischen
Theologie und Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts
sich eine ganze Skala von mehr oder minder adäquaten
Kgd.-Interpretationen herausgebildet hat, wobei es
keineswegs ausgemacht ist, daß nun gerade unser Zeitalter die
vollkommenste Form von Kgd.-Verständnis erreicht hat. Dies
eben ist das sehr nachdenklich stimmende Ergebnis, welches
die aufmerksame Lektüre einer solchen kritischen Darstellung
von 80 Jahren wissenschaftlichen Ringens um die Aneignung
Kgds. zeitigt: soviel Formen des Verstehens — soviel Möglichkeiten
des Mißverstehens bis heute! Der Kgd.-Gesellschaft gebührt
besonderer Dank, durch die Eröffnung einer solchen
Publikationsreihe die internationale Kgd.-Forschung in so
fruchtbarer Weise zu fördern.

Wie stark das Heimatland Kgds. nunmehr die Führungsrolle
in der Kgd.-Forschung übernommen hat, beweisen die
konstruktiven Werke von Johannes Hohlenberg. Der grundlegenden
biographischen Darstellung1 tritt ergänzend zur Seite
die umfassende Monographie über Kgds. Werke2. Beide Bücher
sind dadurch besonders schätzenswert, daß sie statt der nun
schon seit längerer Zeit lähmenden Spezialisierung und Aufsplitterung
der Kgd.-Literatur in bloße Detail-Ausschnitte ein
Ganzheitsbild geben, ohne auf Gründlichkeit der Detailforschung
zu verzichten. Angesichts der nun langsam steril werdenden
Einseitigkeit eines modernen Psychologismus und Historismus
in der Kgd.-Forschung, die sich allzu ausschließlich
in den Fragen erschöpft, ob Kgd. geisteskrank oder bucklig
war, wie es um die psychoanalytischen Ursachen seiner Entlobung
stand, welche Stellung er zum Gelde einnahm u.a.,
begründen die Hohlenbergschen Bücher einen neuen Stil der
Kgd.-Forschung dadurch, daß sie den „ewigen Kgd." zum
Thema machen und von der eigentlichen Zentralidee seines
Schaffens her zur Ganzheitsgestalt Kgds. streben. Anstelle
monokausaler Verallgemeinerung von Teilergebnissen im Stile
früherer Kgd.-Forschung durch relativistische, psychologisie-
rende und historisierende Detailuntersuchungen wird nun das
„Korrektiv" der Ganzheitserkenntnis vom Wesentlichen her
zum neuen Ziel einer Kgd.-Darstellung, für die der frühere

1) Hohlenberg, Johannes: Soren Kierkegaard. Hrsg. v. Th. w.

Bätscher. Basel: Schwabe [1949]. 455S. gr.8°. Lw. sfr. 22.—.

2) Hohlenberg, Johannes: Den ensommes vej. En fremstilling af
Saren Kierkegaards vaerk. Kopenhagen: Hagerup 1948. 324S. gr. 8°. dkr. 21.50