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Ausgabe:

1952 Nr. 2

Spalte:

75-80

Autor/Hrsg.:

Fendt, Leonhard

Titel/Untertitel:

Anmerkungen zur Interpretation des Römerbriefs 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 2

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in der imago dei-Lehre (276—284, 566). Es muß dem Verf.
zugestanden werden, daß er hier eine geschickte Methodik
anwendet und daß er sie technisch und darstellerisch meisterhaft
beherrscht. Nun ist aber zu beachten und zu bemerken,
daß gerade diese Relationsbeziehung ein Ausdruck der dialektischen
Auffassung von unendlich qualitativem Unterschied
von Zeit und Ewigkeit, von Gott und Mensch ist (257). Wird
man also mittels dieser Relationsbeziehung auch Luther interpretieren
dürfen ? Und diese Frage wird dringlicher im Blick
auf Paulus, wo es um die pneumatische Grundbegrifflichkeit
des ,,S?ins in Christo" geht (278, 288—317, 472—473). Der
Apost.-l redet von einer incorporatio Christi, die mehr als eine
dialektische Beziehungsgröße ist. Der Verf. ist sich dieses
Sachverhaltes durchaus bewußt, und zwar da, wo er diese für
ihn ontische Fakta als Nebenprodukte der christlichen Existenz
ausweist (300, 360). Doch dürfte er damit dem Mysterium
der incorporatio Christi im Paulmischen Verständnis nicht
gerecht werden. Die in diesem Zusammenhang vorgetragene
kontroverstheologische Anthropologie (354—367) kann als ein
Kabinettstück des Buches bezeichnet werden.

Von diesen prinzipiellen Fragen abgesehen tritt der Gesamtcharakter
dieses Werkes als Ausdruck dessen in die Erscheinung
, was uns seit Jahren aus der Wirksamkeit Thielickes
bekannt ist. Man sollte dieses Werk eine Ethik in der Begegnung
nennen. Denn die Begegnung mit den Problemen der
Gegenwart kennzeichnet die Darstellung auf Schritt und
Tritt. Und eben damit wird uns diese Ethik im guten Sinne
des Wortes „aktuell". Keine akademische Kathederluft, keine
dialektisch-theologischen Monologe oder Wortverschraubun-
gen für theologisch süffisante Intelektuelle. Vielmehr die Verkündigung
des christlichen Ethos auf dem Schauplatz unseres
Lebens heute. Und gerade darum auch die Fülle des Bandes,
die nichts zu tun hat mit den dickleibigen Dogmatiken der

esoterischen Theologen, sondern die Lebensfülle ist. So spricht
diese Ethik von der Basis einer reifen reformatorischen Theologie
her hinein in die Gegenwart unserer Probleme und Nöte.

In welcher Weise Thielicke in sich in solchem Bemühen einer gegenwartsbezogenen
ethischen Verkündigung verstanden wissen will, das hat er selber
einmal in seiner ihm eigenen, lebendigen Weise auf S. 466 ausgesprochen, wo
es ihm um die Gewinnung des säkularen Menschen für das Verständnis der
Erbsünde geht: „Bis zu jenem Punkte, an dem die eigentliche Entscheidungsfrage
des Glaubens laut wird, ist der Gesprächsgegner ganz einfach zu nötigen,
bestimmte Lebensphänomene, die auch sonst auftauchen, anzuerkennen. Wir
müssen ihm die Möglichkeit nehmen (0 wie apologetisch wird das für dialektische
Kennerohren klingen) . . . sich entweder unter Berufung auf die angebliche
Zwangsläufigkeit der Sünde als verantwortungslos zu bezeichnen oder
im Namen des idealistischen Verantwortungsethos gegen die Transsubjektivität
der Erbsünde zu protestieren. Nur so machen wir den Weg frei — nicht
zum Glauben . . . sondern zur Begegnung mit der Sünde als Glaubensgegenstand
... Es kann ja doch immerhin sein, daß zwei Masken auf einem Ball
sich voneinander abgestoßen fühlen . . . die in unmittelbarer Begegnung durchaus
zueinander gehören; und umgekehrt . . . Das Verhältnis zwischen Kirche
und Welt gleicht meistens einem Maskenball dieser Art. Beide haben sich
immer wieder nicht erkannt und verweilen darum in falscher Freundschaft
miteinander oder stoßen sich in ebenso falscher Feindschaft ab".

Technisch ist anzumerken, daß ein umfassendes Namen-, Sach- und
Schriftstellenregister zur Erleichterung der Durcharbeit des Buches dient.
Dabei ist der Verfasser dazu übergegangen, die Darstellung noch in Sinnabschnitte
aufzugliedern und entsprechend durchzunumerieren. —

Der Autor hat mit diesem Buch den Platz der theologischen
Ethik für eine gute Zeit mit weitem Vorsprung belegt.
Und wer es nunmehr unternehmen will, eine evangelische
Ethik zu schreiben, der mag es nur dann noch tun, wenn er in
der Lage ist, die prinzipielle Problematik einer theologischen
Ethik in der von uns angeschnittenen Weise einer umfassenderen
Lösung zuzuführen. —

Anmerkungen zur Interpretation des Römerbriefs

Von Leonhard Fendt, Bad Liebenzell

Die Interpretation des Römerbriefs (Rm) hängt stark davon
ab, welchen „Anknüpfungspunkt" man für diesen Brief
in der römischen Christengemeinde der fünfziger Jahre statuiert
. Oder ob man den „Anknüpfungspunkt" nur in Paulus
selbst suchen will, nicht in der Gemeinde zu Rom. Dazu tritt
seit Jahrzehnten die Forderung der modernen Verkündiger des
Evangeliums, bei der Interpretation des NT, hier des Rm,
müsse „theologisch" oder „pneumatisch" in größere Tiefen
gebohrt werden (womit eine an das Leben greifende, hinreißende
, umwandelnde „Gegenwartsbedeutung" des Rm gemeint
ist). Endlich wollen auch diejenigen nicht vernachlässigt
werden, welche eine „produktive" Interpretation befürworten
(durch den Rm werden „Anregungen" gegeben).
Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, wieweit wir auf
diese Weise wieder in die Nähe des drei- oder vierfachen
Schriftsinns gekommen sind. Auf keinen Fall wird die heutige
Hermeneutik eine Interpretation des Rm aus dem Prinzip
des mehrfachen Schrifttums zulassen, sondern die Erfüllung
jener Anliegen am Rm mit den Arbeitsmitteln der historisch-
psychologischen Exegese anheimstellen. Anderseits war stets
zu erwarten, daß der „mehrfache Schriftsinn" nicht bloße
ioca episcoporum darstellte, sondern ein sachliches Anliegen
vertrat, in dessen „Vertretung" er umging. Doch kann auch
heute nicht zugegeben werden, daß die Kategorie „Wort
Gottes" eine methodische überbietung der historisch-psychologischen
Methode sei — die Kategorie „Wort Gottes" setzt
vielmehr alle sachgemäßen Methoden erst recht in Gang (um
der Bibel als „Weltliteratur" willen würde man kaum soviel
Akribie aufbringen).

Will sich demnach die Interpretation des Rm keinem der
genannten Ansprüche verschließen, so muß sie auf fünf (bzw.
sechs) Fragen antworten. 1. Welchen Inhalt hat der uns vorliegende
Rm als ein Dokument der Vergangenheit? 2. Was
wollte Paulus mit seinem Rm den damaligen Adressaten in
Rom Besonderes sagen ? 3. Was hörten jene damaligen Adressaten
aus dem Schreiben des Paulus Besonderes heraus?
4. Was dürfen die heutigen Evangeliumsverkündiger mittels
des uns vorliegenden Rm verkündigen ? 5. Inwieweit ist die
wissenschaftliche Beantwortung der Fragen 2 und 3 a) für die
Wissenschaft, b) für die Verkündiger von Bedeutung ? Auf
keinen Fall darf der Verkündiger an die Stelle der Fragen 2
und 3 (also auch 5) die Frage setzen (6): „Was hört der
heutige Evangeliumsverkündiger für sich und für seine Gemeinde
aus dem uns vorliegenden Rm heraus ?" Denn die Beantwortung
dieser Frage 6 ist zwar homiletisch-statistisch
interessant, gibt aber keinen Ausschlag für die Interpretation
des Rm, die vielmehr wesentlich von der Beantwortung der
Fragen 1—5 bzw. der Frage 1 abhängt. Doch ist die Antwort
auf die Frage 6 fähig, als Einleitung des ganzen Verfahrens
oder als ein Stimulans im ganzen Verfahren zu dienen, wenn
diese Antwort auf Frage 6 nur immer wieder sich von den
Antworten auf die Fragen 1—5 korrigieren läßt.

Es liegen der ThLZ vier Werke zum Rm vor, die unter
den soeben angedeuteten Gesichtspunkten studiert werden
sollen. Das originellste der vier Werke ist zweifellos die Untersuchung
von Ernst Fuchs1 zu Rm 5—8 (ohne daß darob die
anderen drei, die wieder ihre eigenen Meriten haben, geringgeschätzt
werden dürften). Fuchs setzt die Arbeit zu unserer
Frage 1 etwa so voraus, wie sie Hans Lietzmann gibt und
wendet sich unserer Frage 2 (damit auch der Frage 3) zu —
für diese Fragen 2 und 3 untersucht er Rm 4—8 neu. Was wollte
also Paulus nach Fuchs mit dem Rm den damaligen Adressaten
Besonderes sagen? Fuchs gibt die Antwort: „Jene
ngooaycoyrj von Rm 5,2 ist tatsächlich nichts anderes als die
TCiang selbst (sola fide). Dies gegen Christen wie Petrus zu
erweisen wurde der Römerbrief geschrieben." (Dieses „Christen
wie Petrus" ist hochinteressant von F. C. Baur bis zu Lietzmann
.) Fuchs zieht aus Rm 4—8 einen „liturgisch formulierten
Bekenntnistext" (auch das verdient einen Stern!), ja „ein
römisches Glaubensbekenntnis judenchristlicher Prägung",
welches aus Rm 4, 24 + 4, 25a + 4, 25b + 8, 34c + 8, 34a1
+ 5, 2 + 5, 1 besteht, deutsch übersetzt: „Wir glauben an
Jesus, unseren Herrn — welcher dahingegeben wurde wegen
unserer Sünden — und auferweckt wurde wegen unserer Ge-
rechtmachung — welcher ist zur Rechten Gottes und tritt für
uns ein — durch welchen wir den Zugang zu Gott haben."
Dieses Bekenntnis ist der „Anknüpfungspunkt" Pauli in der
römischen Gemeinde, diesem Bekenntnis gibt Paulus das
Moment der Freiheit (8, 2) und das zä Ttdtna von 8, 32 als Beleuchtung
und 5, 11 als Korrektur bei: „Die nqoaaywyr ist die
xaraklayfi, ist die jtlaxiq." So kann Fuchs nun zur Arbeit an
unserer Frage 4 übergehen: Was heute die Kirche zu ver-

') Fuchs, Emst: Die Freiheit des Glaubens. Römer 5—8 ausgelegt.
München: Chr. Kaiser 1949. 123 S. gr.8° = Beiträge zur evang. Theologie
ed. E. Wolf, Bd. 14. Kart. DM 5.50.