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Ausgabe:

1952 Nr. 12

Spalte:

735-737

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gustafsson, Berndt

Titel/Untertitel:

Kyrkoliv och Samhällsklass i Sverige omkring 1880 1952

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 12

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pheten der Didache letzte Ausläufer von Propheten galiläischen
Gepräges sehen.

Hans von Campenhausen (Lehrerreihen und Bischofsreihen
im 2. Jahrhundert S. 240—49) untersucht die Frage, wie
es zur Vorstellung einer namentlich gesicherten Überlieferung
kam und wie der bischöfliche Sukzessionsbegriff daraus erwuchs
. Ergebnis: ,,Eine Vorstellung der antiken Philosophie
und Soziologie ist über die vermittelnde Rolle der Gnosis hinweg
von Grund auf verkirchlicht tmd gerade gegen die Gnosis
gewandt worden, hat sich schnell durchgesetzt und findet schon
bei Irenaeus klassische Entfaltung" (248 f.).

Helmut Gollwitzer (Zur Auslegung von Joh. 6 beiLuther
und Zwingli, S.143—168) entwirft, anknüpfend an das Marburger
Religionsgespräch von 1529, ein höchst anschauliches und
in der theologischen Abgrenzung klares Situationsbild des Gegensatzes
zwischen Zwingli und Luther, um den Leser vor rascher
Parteinahme zu warnen, weil der „heimliche Ubergang
von der Exegese zur Metaphysik" als Gefahr auf beiden Seiten
lauert. Steht hier Schrift gegen Schrift, wird hier Anspruch auf
Gehorsam gegen die Schrift und Vorwurf, daß die Auslegung
des Gegners ein metaphysisches Vernunftsprodukt sei, auf beiden
Seiten geltend gemacht, sokönntehierderrömischen These, daß
die Schrift wegen ihrer Dunkelheit eines unfehlbaren Interpreten
bedürfe, ein glänzender Beweis geliefert sein.

Indessen legt Gollwitzer meisterhaft klar, wo Grenze und
Aufgabe beider Standpunkte zu suchen sind; denn es geht nicht
um eine Alternative, welche eine Entscheidung für die eine oder
andere Seite erfordert, sondern bei allem Gehorsam gegen die
Schrift um überholte Auffassungen. (Zwingli argumentiertvon
einem Dualismus Geist: Materie her, den er in Joh. 6,63 fand,
Luther dagegen von der Inkarnation der Offenbarung her.
Luther hat den Sinn von Joh. 6, 63 besser getroffen als Zwingli.
Dennoch ist ein Protest gegen Luthers ,,substantielles" Verständnis
des Leibes Christi, welches die Kraft Gottes menschlich
verfügbar macht, „das theologische Recht des idealistischen
Protestes", S. 165). Auf Grund heutiger exegetischer Erkenntnisse
müssen Lutheraner und Reformierte erneut um ein
rechtes Verständnis ringen, weil man sorgsam unterscheiden
muß, „worin uns heute das NT Gewißheit gibt und worin nicht".
Mit der Rezitierung der beiderseitigen Standpunkte von 1529
ist uns in der Tat nicht geholfen, weil jeder des anderen „Zuversicht
" in der Schriftauslegung zum Anlaß nehmen sollte,
nach den Unzulänglichkeiten des eigenen Standpunktes zu
fragen.

Der Uberblick über dieses gehaltreiche Gedenkbuch wäre
unvollständig, wenn nicht das Wichtigste noch zidetzt erwähnt
würde. Der Beitrag aus Ernst Lohmeyers Nachlaß: „Mir ist gegeben
alle Gewalt. Eine Exegese von"Matth. 28, 16—20" (S. 22
bis 49) zeigt noch einmal die Kraft und Gabe des Verewigten,
eigene Wege zu gehen, wenn er in dem viel exegesiertcn Missionsbefehl
einen alten Bericht findet, der noch vor der Konzeption
des Ekklesiagedankens entstanden sein muß und dessen
Inhalt sich umschreiben läßt: Machet sie zu Nazoräern! Steht
dieses Wort bedeutungsvoll am Anfang des 1. Evangeliums,
so paßt es auch an seinen Schluß. Glaube an den eschatolo-
gischen Herrn und Gehorsam gegen seine Gebote (vgl. Ap. 22,
12 ff.) schließen hiereine „Gottesschar der letzten Tage, gleichsam
das wahre Israel" zusammen, die noch nichts von „Kirche"
weiß. Darin ist eine Besonderheit des Matthäusevangeliums
unter den anderen Evangelien ausgeprägt. Den sonstigen Reichtum
dieses Aufsatzes an feinen Einzelbeobachtungen auch nur
anzudeuten, geht nicht an. Wer ihn gelesen hat, der verbindet
mit dem Dank gegen das reiche Lebenswerk Ernst Lohmeyers
ein schmerzliches Bedauern, daß er der Theologie und der
Kirche nicht noch seinen Matthäuskommentar schenke n durfte.

Greifswald Erich Fascher

KIRCHENGESCHICHTE: ALLGEMEINES UND
TERRITORIAI,KIRCHENGESCHICHTE

Gustafsson, Bemdt: Kyrkoliv och Samhällsklass i Sverige omkring

1880. En kyrkohlstorisk-sociologlsk undersökning. Stockholm: Svenska Kyr-
kans Diakonistyrelses Bokförlag [1950] 242 S. gr. 8" - Samlingar och Studier
tili Svenska Kyrkans HIstorla Bd. 22.

Dieses Buch gehört in die Abteilung „Kirchliche Statistik",
die wirin Deutschland mit Schleiermacher zur Historischen
Theologie oder mit Paul Drews und Martin Schian zur Praktischen
Theologie zu stellen pflegen. Pleijel in Lund stellt sie
zur Kirchengeschichte. Gustafsson ist ein Schüler Pleijels.
Was er für Schweden behauptet, trifft indes für Deutschland
nur in recht eingeschränktem Maße zu: Man hat in der wissenschaftlichen
Forschung so gut wie ausschließlich der ideengeschichtlichen
Seite des Problems „Kirche und Arbeiterschaft"
Aufmerksamkeit gewidmet, hingegen die gesellschaftswissenschaftliche
Seite des Problems vernachlässigt. Für Deutschland
kann man sagen: Unter der ideengeschichtlichen Forschung
wurde die soziologische nicht verkümmert, aber auch
nicht isoliert, nach einem von Schian Rgg2 III Sp. 912 ausgesprochenen
Grundsatz: Kirchenkunde hat ihrerseits nicht
gerade Veranlassung, die Zusammenhänge der religiösen mit
der allgemeinen Volkskunde bis in die Tiefe zu verfolgen. So
wurden große Werke geschaffen: Drews-Schian, „Kirchen-
kunde"; Schneider, „Kirchliches Jahrbuch" ;Krose, „Kirchliches
Handbuch"; P. Pieper, „Kirchliche Statistik Deutschlands
" u. a. m.

Für Schweden will nun Gustafsson die vernachlässigte
soziologische Erforschung des kirchlichen Lebens in Angriff
nehmen, speziell die Erforschung der sozialen „Schichtungen"
im kirchlichen Leben in den siebziger und achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts. Und zunächst legt er uns ein Buch vor, welches
die soziale Differenzierung und den sozialen Abstand im
schwedischen kirchlichen Leben um 1880 statistisch erfaßt und
untersucht. Gustafsson hat ein reiches Material ungedruckter
und gedruckter Quellen aufgestöbert, wie dies in der Schule
Pleijels Sitte ist. Terminologisch-sozialwissenschaftlich läßt
sich Gustafsson von modern-amerikanischen Studien über, ,stra-
tification" beraten. Nach den Amerikanern hat die soziale
„Schichtung" zum Sachgrund entweder die ökonomische oder
die politische oder die berufliche Lage (auch an das „Prestige"
wurde gedacht, Gustafsson tut da nicht mit). Das Resultat
Gustafssons heißt: Die soziale Schichtung im kirchlichen Leben
Schwedens um 1880 hatte kein anderes Gefälle, als die soziale
Schichtung innerhalb der Dorf-oder Stadtgemeinde; aber
Dorf und Dorf, Dorf und Stadt — auch da lagen wieder soziale
Unterschiede, die sich ebenso kirchlieh bemerkbar machten.
Es war also die soziale Schichtung in der Dorf- und Stadt-Gesellschaft
, welche über die soziale Schichtung im kirchlichen
Leben entschied, kein anderer Faktor. (Etwas anders stand es
nur in den „Volksbewegungen", welche den freien Anschluß
voraussetzen.) Unter den drei Sachgründen der sozialen Schichtung
steht an der Spitze der ökonomische, dann der politische,
erst im Hintergrund der berufliche. Subjektive Faktoren haben
nicht dieselbe Wucht, gehen überdies auf die objektiven zurück.

Dieses Resultat Gustafssons entstammt der statistischen
Einzeluntersuchung an kirchlichen Gegebenheiten (vgl. O-
Baumgartens Thema: „Unsoziale Einrichtungen der eV.
Kirche", 1906). Da ist es zuvörderst die Verteilung der Kir-
chenstühle und Plätze im Kirchenraum, an welcher Gustafsson
die soziale Schichtung im kirchlichen Leben abliest. Noch
um 1880 hatten die Lohnarbeiter selten Kirchenstühle, wenig
Plätze, keine Sitzplätze beim Hauptgottesdienst. — Es folgt
eine Untersuchung der sozialen Unterschiede bei Trauungen
und Taufen, wo der bekannte Gradunterschied zwischen
„Hoch" und „Niedrig" auch in Schweden gemacht wurde. —
Sodann bespricht Gustafsson die sozialen Unterschiede, welche
durch das Glockenläuten betont, geradezu vertont wurden,
nämlich gerade bei Sterbefällen. Also beim Scheidungslauten.,
beim Läuten zur Aushebung des Grabes, zum Begräbnis selbst.
(Uber dies und ähnliches Geläute veröffentlichte Gustafss«'1
eine eigene Broschüre in „Meddelanden fran kvrkohistorisk
arkivet i Lund" no. 8). Des weiteren machten sich damals soziale
Unterschiede bei einem Sterbefall bemerkbar in der Wahl
des Tages für das Begräbnis, in der Wahl des Ortes (Kirche
oder Friedhof), in der Differenzierung derTrauerrede (imHaus,
am Grabe, in der Kirche — oder im Mangel einer Rede). — Pf,r
letzte Teil des Buches untersucht ebenso das „Hausverhör .
das (über den schon länger üblichen „Hausbesuch" hinaus) in1
17./18. Jahrhundert in Schweden obligatorisch wurde, und urn
i88oherumnurnochdie nicht a1s,,Höhere" Qualifiziertentrai-

Zweifellos hat Gustafsson mit seinem Buch ein eindrucksvolles
Zeugnis seiner Eignung zum Forscher vorgelegt. Es fraß»-
sich nur: In der Soziologie oder in der Theologie ? Er hat W**
chengesehichtliche Zustände einer soziologischen Auswertung
unterworfen — also soziologisch gearbeitet. Er könnte aber soziale
Zustände einer kirchengeschichtlichen Auswertung iä
worfen haben — dann hätte er theologisch gearbeitet! Un<i<V
er seine Studie „eine kirchenhistorisch-soziologische
suchung" nennt, so muß er beides vereinen und keines ,1,lte '
lassen. Es drängt doch alles auf die Beantwortung der I'riJ?I.
hin: Welcher theologische, kirchlich-wichtige Grund war da
verantwortlich, daß im kirchlichen Leben Schwedens nI°,sJVe.
alen Schichtungen der Dorf- oder Stadt- oder Herrenhoi-^t
meinde ihre Rolle spielen konnten ? Ob man die Antwortnt
doch in der Richtung des melanchthonischen mcmbruni P!^!,,,-
puum ecelesiae suchen muß ? Denn durch dieses mclancli