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Ausgabe:

1952 Nr. 11

Spalte:

693-698

Autor/Hrsg.:

Hertzsch, Erich

Titel/Untertitel:

Ist die praktische Theologie eine Wissenschaft? 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 11

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Samaria fiel 721, Juda wurde Assurs Vasall. Als dann seit der
Mitte des 7. Jahrhunderts die assyrische Macht wankte, als
Ninive 612 zerstört und Reich und Volk Assurs grausam ausgerottet
wurde, als die Optimisten, auch Propheten wie Ze-
phanja und Nahum vorzeitig jubelten, da haben die echten
Jünger Jesajas, vor anderen Jeremia aus Anatot, die Drohung
des alten Meisters unentwegt wiederholt: Jahve wacht über
seinem Worte, der Feind aus dem Norden kommt. Diesmal
war es der Babylonier, der nun auch Juda vernichten sollte.
König und Adel des Landes wurden nach Babel weggeführt,
der Tempel ging in Flammen auf, und zahlreiche Juden wanderten
teils als Söldner, teils als Flüchtlinge aus nach Ägypten.

Hier auf dem Boden Babyloniens und Ägyptens und von
dort aus bald weiter sich verstreuend, entsteht ein neues Judentum
, eine immer wachsende Diaspora, die nun zu einem neuen
Schauplatz jüdischer Geschichte wird. Die Lage war von
Grund aus verändert, äußerlich und geistig. Eine arme Landbevölkerung
war in der Heimat zurückgeblieben; ihr Gebiet,
auf allen Seiten von feindlichen Nachbarn bedrängt und eingeengt
, beschränkte sich auf die weitere Umgebung Jerusalems,
dessen Tempel Serubbabel, ein Nachkomme des alten Königshauses
, als persischer Beamter in den Jahren 520—515 bescheiden
wiederherstellte. An Serubbabel und seine bis um 400 noch
in Jerusalem nachweisbaren Nachkommen knüpfte sich über
ein Jahrhundert hindurch noch die Hoffnung auf ein neues
Königtum der Davididen, ein Traum, der in den sogenannten
,,messianischen" Weissagungen unserer Prophetenbücher literarischen
Niederschlag gefunden hat. Aber auch diese nationale
Hoffnung mußte unter dem Priesterregiment der neuen
Zeit verblassen; sie wurde in jene ferne Zukunft vertagt, die
der Glaube als Endziel der Geschichte ersehnte. Und auch das
Prophetentum starb aus; was übrigblieb, war ein auf den
Tempel von Jerusalem beschränkter, gesetzlich geregelter und
eifrig geübter Opferkult. Für die Diaspora aber verlor dieser
Opferkult je länger je mehr seine Bedeutung. Wohl bleibt auch
für die Juden der Zerstreuung Jerusalem und sein Tempel der
geistige Mittelpunkt, wohin man täglich seine Gebete richtete,
wohin man die Tempelsteuer bezahlte und gelegentlich wall-
fahrtete. Aber einen Opferkult gab es in der Fremde nicht
mehr; um so eifriger hielt man an den durch die Tradition vorgeschriebenen
Riten und moralischen Vorschriften, in denen

die Frömmigkeit fortan wesentlich ihren praktischen Ausdruck
fand.

Daß das Judentum in dem Völkergemisch des Perserreiches
und der griechischen Reiche nicht untergegangen ist, das
ist die Wirkung der prophetischen Religion gewesen. Diese
wird jetzt seit der Zeit des Exils die tragende Kraft. Ihren vollkommensten
Ausdruck findet sie bei dem anonymen Verfasser
von Jesaja 40—55, der mit seinen schwungvollen Dichtungen
um 538 die neue Zeit einleitet. Drei Gedanken sind es, in denen
sich seine Anschauung zusammenfassen läßt: 1. Jahve, der Gott
Israels, ist Schöpfer der Welt und Herr der Völkergeschichte;
„es gibt keinen Gott außer ihm"; er hat, was kommen sollte,
seinen Propheten von Anfang an kundgetan, und so ist es gekommen
. 2. Es war die Schuld der Väter, die Israels Schicksal
verursachte; diese Schuld ist nun bezahlt und Israels Befreiung
nahe. 3. Aber das Leiden des Exils sollte nicht nur Strafe
sein; Jahve hat Israel unter die Völker zerstreut, damit es als
„sein Knecht" die Botschaft von dem Einen Gott zu den Völkern
hinaustrage und alle zur Erkenntnis führe. So ordnet sich
auch das Leiden Israels in den göttlichen Weltplan ein. Der
große Dichter ahnt etwas vom tieferen Sinn des Leidens: alles,
was Wert haben soll, fordert Opfer und Entsagung, und das
Größte geschieht immer nur durch freiwilliges Leiden.

Von diesen Gedanken der prophetischen Verkündigung
ist die Erkenntnis der Schuld der wirksamste geworden. Das
Wort von der Schuld der Väter klingt seit dem Exil durch die
ganze Literatur. Was es jetzt galt, war Buße, Umkehr und der
ernste Wille zur Erfüllung des göttlichen Gesetzes. Dieser
Wille zur Besinnung, zu einer Revision der Vergangenheit war
stark und ehrlich; er ist es, der den Bestand des Judentums als
Volk und Religion gesichert hat. Seine Kraft aber schöpfte
dieser Wille aus dem Glauben an eine Zukunft des Volkes, nicht
als eines politischen Machtstaates, sondern als einer heiligen
Gemeinde Gottes, und nicht nur einer Gemeinde Israels, sondern
einer Gemeinschaft der Völker, die verbunden ist im Gehorsam
gegen den göttlichen Willen. Das ist die Idee der Geschichte
, wie die Propheten Israels sie verstanden haben, einer
Geschichte, die Sinn und Ziel erhält durch den Willen derer,
die guten Willens sind. Als Idee ist dies Ziel überzeitlich, darum
in der Zeit nicht verwirklicht, aber für jede Zeit und für
jedes Geschlecht immer von neuem Aufgabe.

Ist die praktische Theologie eine Wissenschaft?

Von Erich Hertzsch, Jena

Karl Heussi zum 75. Geburtstag

Tzpagts BTiißaacs &ea>Qtas. ^ technische Anweisungen zusammen." Schon Carl

Immanuel Nitzsch1 versuchte diesem Mißverständnis zu wehren
, als er schrieb: „Die ganze Theologie ist allerdings scientia
ad praxin, vollendet sich ader nur als scientia praxeos." Aber
dieser (noch dazu in einem wissenschaftlichen Kauderwelsch
abgefaßte) Satz zeigt, wie krampfhaft auch Nitzsch sich an
das Wort Praxis klammert, das, meist mit „Handeln der
Kirche" übersetzt, in den Definitionen fast aller praktischtheologischen
Grundrisse wiederkehrt. Die praktische Theologie
erscheint — hierin der Ethik ähnlich, die lange Zeit den
Namen theologia practica für sich beansprucht hatte — als
eine normative Wissenschaft. Da sie aber nur „technische Anweisungen
" zu geben vermag, ist das Wertniveau ihrer Normen
, mit denen der Ethik verglichen, recht niedrig2.

Gregor v. Nazianz (Mi PSG 35, 1080)

Vor einem Menschenalter haben Paul Drews1, Karl Völker2
, Eduard von der Goltz3, später auch Adolf Allwohn4 u.a.
versucht, der praktischen Theologie eine Stelle im System der
Wissenschaften zu sichern. Es ist ihnen offenbar nicht gelungen
: auch heute noch gilt bei vielen urteilsfähigen Theologen
die These: Diejenigen, die sich mit der Erforschung des
Alten und des Neuen Testaments, mit der Kirchengeschichte
und mit der systematischen Theologie beschäftigen, bearbeiten
das Gebiet der wissenschaftlichen Theologie; der praktische
Theologe dagegen hat, wie sein Name sagt, eine andere Aufgabe.

Der Name ist ohne Frage unglücklich gewählt. Er ist für
alle, auch für die praktischen Theologen selbst, irreführend.
Von Schleiermacher5, der die praktische Theologie als „Technik
zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche" definiert
, bis zu Paul Tillich6, der „das eigentlich praktische Material
" der „psychologischen und soziologischen Technik" überweist
, hat immer wieder die Ansicht neue Nahrung bekommen,
die Paul Althaus7 ausgesprochen hat: „Die sogenannte praktische
Theologie ist kein in sich abgeschlossener und einheitlicher
Teil der Theologie. Sie faßt traditionell Teile der historischen
Theologie mit angewandter systematischer Theologie

') Das Problem der Praktischen Theologie. 1910.

2) Die Stellung der Praktischen Theologie in der theologischen Wissenschaft
. 1911.

3) Grundfragen der Praktischen Theologie. 1917.

4) Die Stellung der praktischen Theologie im System der Wissenschaften
. 1931.

5) Praktische Theologie S. 25.

') System der Wissenschaften. 1923, S. 152.

') Grundriß der Dogmatik, 1. Aufl. 1929, S. 2 (in der 2. Auflage, 1936,
hat Althaus die Definition wesentlich anders gegeben).

Die mit dem schlecht gewählten Namen gegebene Schwierigkeit
braucht nicht als unüberwindlich zu gelten. Der Name
„Theologie" ist ebenfalls alles andere als treffend: wenn Theologie
die Wissenschaft über Gott sein sollte, dann wäre dies
ein Widerspruch in sich selbst. Sagt doch ein einflußreicher
Schriftsteller der zwanziger Jahre: „Wer Gott definiert, ist

') Praktische Theologie. 1847, S. 5.

8) Leonhard Fendt versucht diesem Mangel abzuhelfen, indem er definiert
: „Die praktische Theologie ist die theologische Theorie, welche die im
Neuen Testament vorausgesetzte kirchliche Praxis erforscht, darlegt und
die gegenwärtige Lage einzeichnet." (Grundriß der Praktischen Theologie,
2. Aufl. 1949, IS. 4.) Alfred Dedo Müller versucht dasselbe auf etwas andere
Weise, wenn er schreibt: „Unter Praktischer Theologie kann nur die theologische
Lehre von der richtigen Verwirklichung des Reiches Gottes in der Kirche
und durch die Kirche in der Welt verstanden werden." (Grundriß der Praktischen
Theologie, 1950, S. 13.) Aber gegen Fendt ist einzuwenden, daß der von
ihm gesuchte Maßstab dem Neuen Testament nicht zu entnehmen ist, gegen
Müller, daß die Verwirklichung des Reiches Gottes auf keinen Fall Sache der
empirischen Kirche sein kann.