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Ausgabe:

1952

Spalte:

677-684

Autor/Hrsg.:

Meyer, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung des Pharisäismus für Geschichte und Theologie des Judentums 1952

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Theologische Literatut zeituug 1952 Nr. n

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hellenistisch-synkretistischen Welt vor. Es fehlen im Johannes-
Evangelium nicht nur die kosmologischen Belehrungen, sondern
weiter ist bei Johannes auch die Verlorenheit des Menschen
Schuld und nicht Verhängnis1. Das Entscheidende aber ist,
laß der Mensch einer einmaligen, geschichtlichen Offenbarung
gegenübersteht, die in einer Person sich darstellt, deren
Sendung sich nicht erschöpft in kosmologischen Belehrungen,
auch nicht in Rückerinnerungen der Menschen an ihre wahre
Existenz. Vielmehr ist die Aufgabe dieses Erlösers, sein Geheiligt
- und sein In-die-Welt-Gesandtsein von Gott (10,36) zu
bezeugen durch seinen uneingeschränkten Gehorsam Gott
gegenüber und so durch seine Gesamterscheinung und sein Gesamtschicksal
bis zur Lebenshingabe, die Menschen, befreiend
nd erlösend, aus der Schuld zu Gott zu führen. Weil der Gott-
jesandte so der Gottgehorsame und in seiner Liebe der die
'Vahrheit Gottes Offenbarende ist, so liegt weit stärker als im
hellenistischen Synkretismus der Ton bei Johannes darauf, daß
iiese besondere Offenbarung erst die Erkenntnis von Gut und
Böse bedingt, daß erst das Erscheinen des Lichts die ethische
Crisis ermöglicht. Daher tritt im 4. Evangelium der Glaube so
stark hervor als Nachfolgen und als Hören und Gehorchen dem
Offenbarer gegenüber. Es geht nicht um die Erkenntnis des
überzeitlichen, wahren Seins, sondern um die Erkenntnis, die
Anerkenntnis und damit zugleich gläubiger Gehorsam der im
Sohn erschienenen Wahrheit gegenüber ist. Darum ist der, der
zum Licht kommt (3,20), allein der die Liebe Verwirklichende,
d.h., die sittliche Forderung allein weist den im Licht Wandelnden
als solchen aus. Damit ist aber ganz offenkundig: Johannes
steht hier in der Linie der jüdischen Apokalyptik. Zu
ihrer Eigenart gehört es, daß das Licht vornehmlich sittlichreligiös
verstanden wird, was dann im Urchristentum seine
Konzentration in der Liebe findet (1. Joh.2,9). Diese ethische
Bedeutung ist in der jüdischen Apokalyptik von daher bestimmt
, daß die Offenbarung des Lichts im Gesetz aktualisiert
wird, wie das Licht im Johannes-Evangelium in der Person
Jesu sich offenbart. Weil sowohl in der Apokalyptik wie
im Evangelium die Offenbarung von Gott als dem Schöpfer
der Welt ausgeht2, der zugleich der heilige und gerechte Gott
ist3, darum ist auch der Begriff weder rein naturhaft noch rein
idealisierend vergeistigt auszulegen, sondern Bildhaftigkeit
und Realität liegen ineinander.

So werden wir abschließend sagen müssen: diese Termino-

') Bultmann, Or. Lit.Ztg., 1940, 157.

2) Bei Joh. ist Schöpfung „ein wesentlicher Teil des Evangeliums'
(Schlatter, Der Evangelist Johannes, 1948, 4).

3) Joh. 17, 11; 17, 25; cf. Joh. 1, 9; 2, 29.

logievom Licht mit dem Gegensatz Licht-Finsternis gehört vornehmlich
in die Atmosphäre des hellenistischen Synkretismus
; hier ist diese Redeweise so geläufig wie sie unser Evangelium
als üblich voraussetzt und gebraucht. In diese Welt spricht
der Verfasser sein Evangelium hinein, dort will er seine Christusbotschaft
gehört und aufgenommen wissen. Mit der dort
wohlbekannten Lichtvorstellung will er die Bedeutung des
vlog tov -freov veranschaulichen. Aber die Unterschiede in der
inhatlichen Fassung des Begriffs zeigen, daß diese Art der
Christuspredigt ihre Heimat in der jüdischen Apokalyptik
nat. Für die Terminologie dürfte die Verbindung zur
hellenistisch-synkretistischen Umwelt kein Zweifel sein. Aber die
ausgesprochene Interpretation des „Lichts" nach der religiösethischen
Seite läßt am apokalyptisch-urchristlichen Ursprung
nicht zweifeln, wie die Zusammenfassung des Ethos in der
Bruderliebe auf die palästinensisch-urchristliche Herkunft
weist. Der Schreiber des Evangeliums — gleich wer er ist
— kommt also aus palästinensisch-eschatologischen Kreisen
her; denn das ganze Evangelium zeigt eschatologische Hochspannung1
. Freilich lehnt er die krausen, apokalyptischen Bilder
als seinen Lesern fremdartig ab. Er nimmt nur die
Bilder, die die hellenistische Welt aufhorchen lassen, wie Wahrheit
— Lüge, Licht — Finsternis, Leben — Tod usw. Aber er
gibt von seinem Ausgangspunkt her diesen Begriffen die
entsprechende inhaltliche Umprägung. Wenn man Johannes
nur zum „Apokalyptiker levitisch-liturgischer Prägung
" macht2, übersieht man den Zusammenhang mit der
synkretistisch-hellenistischen Welt, für die er schreibt. Wenn
man nur diese Verbindung mit der Gnosis sieht, dann wird das
inhaltlich Eigenartige im Ansatz der Licht-Vorstellung verkannt
. An diesem einen Begriff zeigt sich, was für das ganze
Evangelium in seiner jetzt vorliegenden (d.h. überarbeiteten)
Gestalt gilt: aus palästinensisch-eschatologisch-urchristlicher
Heimat kommt es her, von hier hat das Evangelium seine
eigene inhaltliche Bestimmtheit; für die hellenistisch-synkre-
tistische Welt ist es geschrieben, und von hier aus hat es seine
ihm eigene Form bekommen3.

') Vgl. Joh. 2, 19 im Unterschied zu Synoptikern; 4, 26, wie überhaupt
die Ich-bin-Worte als Zeichen des Anbruchs des Eschaton, die gesteigerten
Wunder als Zeichen der angebrochenen Heilszeit usw. Dazu cf. Preisker,
Das Evangelium d. Johannes als erster Teil eines apokalypt. Doppelwerkes
(= Theo!. Blätter), 1936, 185ff.

2) E. Stauffer, Die Theologie des NT.s, 1947, 27.

3) Ausführliches darüber hoffe ich demnächst in einer besonderen Monographie
darlegen zu können.

Die Bedeutung des Pharisäismus für Geschichte und Theologie des Judentums

Von Rudolf Meyer, Jena1 KaH Heusd ^ 75 Geburtstag

Die neueste Darstellung der Geschichte des israelitisch-
jüdischen Volkes durch M.Noth2, die vielfach eigene und anregende
Wege geht, beantwortet die Frage nach dem Ende
Israels in einer Weise, die der kritischen Beleuchtung bedarf.
Danach hat „Israel" als eine im wesentlichen an Palästina gebundene
Gemeinschaft von den Anfängen auf kanaanäischem
Boden bis in das 1. Jh. n. Chr. bestanden. Erst mit der Vernichtung
der von M.Noth als „Kultgemeinde" bezeichneten
Hierokratie von Jerusalem soll „Israel" zugrunde gegangen
sein, um neuen Erscheinungsformen Platz zu machen3. Es
möge hier unerörtert bleiben, wieweit die Hypothese eines
bis zur Zerstörung des zweiten Tempels fortlebenden „Israel"
aus den Quellen gestützt werden kann; die folgenden Ausführungen
seien lediglich auf jene große Zäsur beschränkt, die wir
um die Wende des 1. zum 2. Jh. n.Chr. feststellen können
und die nach M.Noth „Israel" und „Judentum" voneinander
trennt.

Wohl von niemand wird ernsthaft bestritten, daß die Zeit
von der Zerstörung des zweiten Tempels bis hin zu den kriegerischen
Ereignissen unter Hadrian in den Jahren 132—135
n.Chr. insbesondere für das Judentum Palästinas eine Periode
des Zusammenbruchs, aber auch eine Epoche der Neukonstituierung
darstellt. Zugleich steht fest, daß die neue Form des
Judentums, die sich somit allmählich ergab, ausschließlich als

') Vorliegender Aufsatz stellt die teilweise gekürzte und mit Anmerkungen
versehene Festvorlesung dar, die Verf. anläßlich seiner Ehrenpromotion
zum Doktor der Theologie durch die Theologische Fakultät der Humboldt
-Universität am 18. Februar 1952 halten durfte.

») M. Noth, Geschichte Israels (1950); vgl. O. Eißfeldt, ThLZ 76 (1951),
335ff.; R.Meyer, Deutsche Literaturzeitung 73 (1952), 137ff.

3) M. Noth, a. a. O., 378.

Werk des pharisäischen Rabbinismus angesprochen werden
muß. Dennoch fragt es sich, ob die neue Lebensform sich so
stark von dem unterscheidet, was vor der Tempelzerstörung
in Jerusalem und Palästina lebendig war, daß man berechtigt
ist, mit Hilfe dieser Zäsur das ältere „Israel" vom jungen
„Judentum" zu unterscheiden. Hier Klarheit zu gewinnen, ist
nur möglich, wenn man fragt, welchen Anteil an Geschichte
und Theologie des jüdischen Volkes der pharisäische Rabbinismus
bereits vor der Tempelzerstörung gehabt hat.

Der Ursprung jener nachexilischen Erscheinung, die wir
im allgemeinen mit dem Begriff „Pharisäismus" umschreiben1,
liegt im Dunkeln2. Immerhin läßt sich einiges über die Faktoren
sagen, die im Rahmen des Gesamtjudentunis schließlich
den Pharisäismus ergeben haben. Nach den vorliegenden Quellen
ist der Pharisäismus aus dem hierokratischen Gemeinwesen
von Jerusalem hervorgegangen, stellt also zunächst ein
Stück Altjudentum dar. Damit aber ist zugleich gesagt, daß
es nicht als eine ausschließliche palästinische Größe zu verstehen
ist. Denn die Hierokratie von Jerusalem, als der Mutterboden
des Pharisäismus, verdankt einen entscheidenden Teil
ihrer geistigen Existenz der Diaspora. Gewiß, der Tempel kann

') Zur Literatur vgl. E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im
Zeitalter Jesu Christi II4 (1907), 447—489; E.Meyer, Ursprung und Anfänge
des Christentums II (1921), 282—329; A. Schlatter, Geschichte Israels3
(1925), 137—152; G.F.Moore, Judaism I (1927), 56—71 u.ö.; P. Billerbeck
, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch V
(1928), 334—352; L. Finkelstein, The Pharisees I, II (Philadelphia 1933) mit
umfangreicher Bibliographie.

2) G. Hölscher, Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion
(1922), 218ff., bei allerdings wohl zu großer Skepsis gegenüber der jüdischen
Tradition.