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Ausgabe:

1952 Nr. 1

Spalte:

663-674

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch nach evangelischem Verständnis 1952

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6G3

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 11

Gott und Mensch nach ei

Von R. Herma

1. Die Frage nach dem „ganzen Menschen" überall.

In Theologie und Kirche steht seit geraumer Zeit das
Thema „vom Menschen", die „Anthropologie", im Mittelpunkt
des Interesses. Das ist zwar angesichts des stark betonten Bestrebens
, über jeden bloß psychologisch und historisch orientierten
Horizont in der Theologie hinauszugehen, etwas verwunderlich
. Es ist wohl auch nicht unbedenklich, wie sich
nech herausstellen wird. Aber es ist so. Und dadurch, daß der
Essener Kirchentag des Jahres 1950 den Aufruf „Rettet den
Menschen" hat ergehen lassen, ist die Erörterung noch intensiver
geworden. —Auch mancherlei Kreise, in denen nicht nur
Theologen zu Worte kamen, haben sich mit den dadurch angezeigten
Fragen beschäftigt und die entsprechenden Redner
aus anderen Fakultäten haben es erneut eindrücklich gemacht,
von wie verschiedenen Seiten her die Dinge in Angriff genommen
wTerden können. Es kann von natur- wie von geisteswissenschaftlicher
Seite über das Thema „der Mensch" gesprochen
werden, und nicht zuletzt hat der Mediziner seinen
Beitrag zu geben. Das Thema ist unerschöpflich. Daß auch
die Rechtsgelehrsamkeit, und wieder anders die Pädagogik
immer mit bestimmten Begriffen vom Menschen arbeiten,
braucht nur eben angemerkt zu werden; und die Soziologie,
als Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, meldet
sehr bestimmt ihren Anspruch an. Bei alledem wird der
Mensch unter recht unterschiedliche Gesichtspunkte gestellt,
und man kann nicht eigentlich sagen, daß es sich dabei jeweilig
nur um Teilgebiete der Erscheinung „Mensch" handelt.
Von der Medizin könnte man das zwar einen Augenblick
denken; sie hat es ja vornehmlich mit dem Leibe zu tun. Aber
gerade sie wirft heute gern das „Leib-Seele-Problem" auf,
und die medizinische Disziplin Psychiatriehat das Wort „Seele''
gar in ihrem Namen. Eng mit ihr verbundene Aufgaben der
Gehirnchirurgie, wie heute besonders die Leukotomie, stellen
ja auch vor noch ungelöste psychologische und vor wesentliche
ethische und religiöse Fragen.

Es handelt sich also irgendwie immer, jedenfalls der Absicht
nach um den ganzen Menschen; nur daß er verschieden
gleichsam aufgeschlüsselt wird, und daß seine Wesenszüge,
besser: die Grundzüge, in denen er sich wiedererkennen soll,
von den Wissenschaften in verschiedener Weise geordnet und
unterschiedlich hervorgehoben werden. Gewiß hat es die Medizin
vornehmlich mit dem Leibe zu tun. Aber wie klammert
sich in der Krankheit der ganze Mensch an den Arzt! — Und
gewiß hat es — so könnte man weitergehen — der Jurist hauptsächlich
mit dem positiven Recht zu tun. Aber auch ihm
stellen sich nicht nur immer wieder philosophische und ethische
, auch religiöse, Fragen, sondern seinem Blicke im praktischen
Beruf entschleiern sich die ganzen Lebensverhältnisse
der Menschen.

Es ließe sich leicht für alle Fakultäten deutlich machen,
daß es ihnen irgendwie um den ganzen Menschen geht. Für
die Soziologie liegt es vollends auf der Hand. Denn Gemeinschaft
und Gesellschaft, auch dort, wo sie den Menschen ausdrücklich
ein Ganzes für sich selber zu sein heißen, werden
immer den Anspruch erheben, daß er ihnen, zumindest ihnen
in der Gestalt von Ehe, Familie und Vaterland, nicht mit geteiltem
, sondern mit ganzem Herzen angehöre. Bekanntlich
ist es auf diesem Felde, Familie, Sippe, Volk, Nation, Imperien,
Herrschaft, Verfassung und Menschentum, auch immer neu
zu Konflikten von mancherlei Art gekommen, und wiederum
muß der Mensch als ganzer daran beteiligt sein, um hier den
rechten Weg zu finden, ja er muß dazu den höchsten und
letzten Dingen zugewandt sein.

2. Der Ansatz zum Thema und die theologische Wissenschaft.

Heute soll nun theologisch zum Thema geredet werden.
Das betrifft erst recht den ganzen Menschen, aber in einem
neuen Sinn, der soeben schon leise anklang. Man drückt diesen
Sinn nicht selten dahin aus, daß es die Theologie mit dem vor
Gott gestellten Menschen zu tun habe. Das ist gewiß richtig,
und davon zu reden beanspruchen auch die anderen Wissenschaften
nicht; es ist der Theologie eigentümlich. Aber abgesehen
für jetzt noch von der Frage, ob die Theologie ein
Wissen nur um den Menschen, etwa um den religiösen Menschen
, sei, so klingt der Satz, in der Theologie gehe es um den
„Menschen vor Gott", intern religiös. Das intern religiöse
Leben ist aber nicht eigentlich Sache der Wissenschaft — es
sei denn höchstens nach seiner psychologischen Seite hin. Die

ngelischem Verständnis

in, Greifswald

Karl Heussi zum 75. Geburtstag

Theologie aber will doch Wissenschaft sein, und zwar nicht
lediglich im psychologischen oder religions-psychologi^chen
Sinne. Der Ansatz zum Thema muß sich also noch erweitern.

Die Theologie will Wissenschaft sein. Auch das allerdings
in eigenem Sinne. D. h. sie sucht nicht bei irgendeiner anderen
Wissenschaft, bei der Philologie etwa oder beirder Geschichtswissenschaft
, ihre Legitimation oder gar ihre Deckung,
soviel sie ihnen und anderen Wissenschaften auch verdankt.
Aber sie hat ihre eigene Aufgabe, und hat sie gerade auch in
ihrer akademischen Zusammenarbeit mit den anderen Wissenschaften
, so daß diese selbst sie nur zu ihrem Schaden entbehren
würden. Die eigene Aufgabe der Theologie besteht
nämlich nicht in der Entfaltung eines festliegenden, oder doch
jedenfalls kirchlich in Geltung zu setzenden Dogmas. Dann
würden den anderen Wissenschaften nur Rollen der Dienstbarkeit
zuerkannt; sie würden genutzt, soweit sie geeignet
sind, das Dogma zu stützen oder soweit sie ihm wenigstens
offenstehen. Das ist nicht protestantisch und hat in der evangelischen
Theologie hoffentlich nicht auf die Dauer Raum.
Wohl aber hat die Darstellung des christlichen Glaubens,
die allerdings Aufgabe der Theologie ist — diese Darstellung
also nicht als Dogmenbegründung, sondern als zusammenhängendes
Verstehen gedacht —, für alle Wissenschaft wesentliche
Bedeutung. Denn in solchem Verstehen läßt sich die
Theologie zugleich von der Idee der grundsätzlichen Grenze
alles bloß wissenschaftlichen Erkennens leiten—, das wissenschaftliche
Erkennen dabei für alles verstandesmäßige Wissen
und Können, sei es als dessen Instanz, sei es auch bloß als einen
seiner Typen genommen. Die Wissenschaften haben an der
Theologie, die aus der Geschichte der Wissenschaften nicht
gestrichen werden kann und die dauernd mit ihnen zusammenarbeitet
, den steten Hinweis darauf, daß Wissen nicht alles
ist, weder als geistige Herrin noch als dienstbarer Geist betrachtet
; und ohne die Erinnerung an ihre Grenze sehen sie
auch ihre eigene Aufgabe nicht richtig. Natürlich aber geh
die Theologie dabei selber wissenschaftlich vor und steht bekanntlich
mit allen Wissenschaften in steter Berührung.

Aus ihrer wissenschaftskritischen Haltung ergibt sich somit
zugleich ein sehr positives Verhältnis zu den Wissenschaften
. Die wissenschaftliche Theologie beruht darauf, daß es
ein und derselbe Mensch ist, der da forscht und weiß, nb. auf
allen Gebieten des Wissens, und der da inne wird, versteht
und glaubt —, und weiter darauf, daß die grundsätzliche
Grenze zwischen Wissen und Glauben, von der wyir sprachen,
nicht starr und unbeweglich ist, sondern sich aus steter Berührung
und lebendiger Begegnung zwischen der Theologie
und den anderen Wissenschaften immer neu formuliert. Man
denke, um nur eines zu nennen, an die gegenwärtigen Bemühungen
um Sinn und Begriff der alttestamentlichen Geschichtsschreibung
und um ihr Verhältnis zur Historiographie
überhaupt. Wenn, wie wir sagten, die Theologie grundsätzlich
an aller Wissenschaft interessiert ist, so deshalb,
weil eben überall, im Kleinsten wie im Größten, angesichts
etwa der Welt der Atome, wie der der Sterne und ihres Entstehens
, das wirklich ausgewiesene Wissen zwar gewiß Macht,
aber doch auch Ehrfurcht ist—, und weil der forschende und
erkennende Geist zwar nichts ununtersucht lassen darf, aber
doch auch nichts ins Dasein rufen kann. Alles Dasein, auch
sein eigenes, des erkennenden Geistes Dasein selber eingeschlossen
, ist immer schon vorausgesetzt, wo und wann er mit
seinen Methoden einsetzt. Wieder heraus szs. bekommt er
höchstens seinen methodischen Einsatz selber, nicht die Wirklichkeit
.

3. Der dem theologischen Ansatz zugrunde liegende Lebenstatbestand
, die Abhängigkeit schlechthin, oder die Geschöpf
lichkeit.

Eben dieser Tatbestand, daß alles Dasein immer schon
vorausgesetzt ist, unserem Zugriff gleichsam voraus liegt,
möchte nicht als abstrakter, sog. bloß akademischer Gedanke
verstanden sein. Das Leben selber ist voll davon. Wir werden
immer wieder dessen inne, daß, wenn wir etwas zustande
bringen, es letzten Endes nur ein Zustandekommen ist. Selbst
von großen Bewegern der Geschichte, also Prototypen der
Aktivität, gibt es genügend Zeugnisse, daß sie sich als Ausrichter
von Mächten empfinden, durch die sie getrieben und
getragen werden. Luthers Rede, daß er wie ein blinder Gaul
geführt sei, ist bekannt. Ein Bismark las täglich seine Losun-