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Ausgabe:

1952 Nr. 11

Spalte:

651-662

Autor/Hrsg.:

Zscharnack, Leopold

Titel/Untertitel:

Hamanns ʺTagebuch eines Christenʺ (London 1758) 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 11

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mit der Mensch nicht ewig lebe, an den Turmbau zu Babel und
seine Folgen, damit der Mensch nicht den Himmel erstürme, an
die Verstockung Pharaos, an dem Jahwe seine Macht zeigt. Zwischen
Schicksalsschluß, Eifersucht der Gottheit und sühnender
Gewalt besteht die Einheit des xqsov ysveo&cii. Aufstieg und Sturz
sind für Herodot nicht bloß „historisches Gesetz", sondern
metaphysisches Ereignis. Und so steht Herodot in seinem Glauben
mit Homer und den großen Tragikern seiner Zeit als der
erste große Vertreter einer metaphysischen Geschichtsbetrachtung
in einer Reihe. Dabei entwickelt sich, wie Bischoff sehr
fein nachgewiesen hat (a.a.O. S. 28, 66 u. 75), eine eigentümlich
dialektische Spannung. Die Macht des Orakels, die sich immer
durchsetzt, macht eigentlich die Warner überflüssig. Den persischen
Warnern stehen die griechischen Orakel gegenüber.
Dialektisch liegt die Sache so, daß der persische Warner dem
König genau das sagt, was das Orakel zu seinen Ungunsten
den Griechen prophezeit. Aber der König hört auf diese Warnung
nicht, besessen von seiner eigenen ,,vernünftigen" Konzeption
, und hilft so dem Orakel wider Willen, daß es sich erfüllen
muß. „Die Macht des Fatums und die des verderblichen Thymos
sind für den archaischen Menschen tief erlebte Wirklichkeiten,
und als solche finden sie Ausdrücke, die über den Gesetzen der
Logik stehen. Eine Aufhebung des Widerspruchs könnte nur
dialektisch sein" (Bischoff S. 28 Anm. 1). Das Fatum hebt die

Willensfreiheit des Gewarnten nicht auf. Er könnte dem Rate
folgen und gerettet werden, wenn nicht immer wieder die Lebenswahrheit
ihre Bestätigung fände: ovdelg stielet Tiei&eoftoiL.
Und dieses nei&eo&<xi steht als Forderung zwischen dem machtlosen
Wissenden und dem unwissenden Mächtigen und damit
als Möglichkeit, den drohenden Konflikt zu lösen. Trotz Orakel
und Fatum handelt also der Mensch in eigener Verantwortung.
Es kommt vor, daß man den Orakelspruch durch einen Bittgang
zu wenden sucht und dem auch von der Gottheit willfahrt
wird (VII, 141). Es geschah bei Themistokles, daß seine Deutung
des Orakels den Sieg herbeiführte. Der Kampf ist also
nicht auf eine einfache Formel zu bringen: Orakel = Fatum ;
denn Orakel und Gegenorakel, Orakeldeutung und entgegengesetzte
Deutung machen jenen die Mächtigen in ihrer Existenz
bedrohenden Kampf aus, dessen /üxtfr/f/a nur durch Tnxtirjfia entschieden
werden kann. Beachtlich ist Bischoffs These, daß Herodot
gerade in den Gestalten des Warners sein eigenes Geschichtsverständnis
zum Ausdruck gebracht habe. Und vielleicht
dürfen wir — zum Schluß an den Anfang zurückdenkend — sagen
, daß dieses Geschichtsverständnis Herodots uns in der
gegenwärtigen Situation gerade in neuer Weise einsichtig wird,
weil uns die gegenwärtige Weltentwicklung in ähnliche Tiefen
der Erkenntnis hineinführt.

Hamanns „Tagebuch eine

Von Leopold Zsc

I.

Nach jahrzehntelanger Arbeit hat Josef Nadler die Veröffentlichung
seiner Historisch-Kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke Johann Georg
Hamanns beginnen können, von der nunmehr die ersten Bände vorliegen. Und
gleichzeitig hat er uns die erste Hamannbiographie geschenkt (1949), die außer
den im Druck vorliegenden Schriften Hamanns auch dessen gesamten handschriftlichen
Nachlaß an Schriften und Briefen hat benutzen können.

Man hat Nadler theologischerseits verschiedentlich vorgeworfen, daß auch
er, obwohl er selbstverständlich auch Hamanns theologische Schriften in der
Biographie mitberücksichtigt habe, doch mehr dazu neige, ihn literaturgeschichtlich
und philosophiegeschichtlich als religiös und theologisch einzuordnen
. Um kein falsches Bild von Nadlers Hamanninterpretation aufkommen
zu lassen, wird man dieser Kritik aber widersprechen müssen. Nadler weiß
auch selber durchaus etwas davon zu sagen, daß die Erweckung des inneren
Menschen, die von Hamann im 18. Jahrhundert ausgegangen ist, kraft des
„religiösen Genies, das er gewesen ist", erfolgt ist. Er verkennt Hamanns tiefe
Verwurzelung im christlichen Glauben schlechterdings nicht. Er kann sogar
sagen, daß Hamann „nichts anderes im Sinne hatte als evangelisches Luthertum
", obwohl er dann auch Eckehart und Jakob Böhme in die Ahnenreihe mit
hineinnehmen kann. Jedenfalls läßt Nadler der Erweckung, die Hamann in
London am 31. März 1758 erlebte, und die er selbst in seinen kurz danach begonnenen
„Gedanken über meinen Lebenslauf" plastisch geschildert hat, die
ihr zukommende positive Wertung zuteil werden. Und dasselbe gilt hinsichtlich
des ganzen „Tagebuches eines Christen", das im Zusammenhang mit jenem für
Hamann grundlegenden Erlebnis während der Londoner Frühlingsmonate 1758
entstanden ist. Dieses Tagebuch führte während des 18. Jahrhunderts nur ein
handschriftliches Dasein. Es ist erst von den Auslesen ab, die Friedrich Heinrich
Jacobi(1812—13) und Friedrich Roth (1816 bzw. 1821) im Druck vorgelegt
haben, wenigstens fragmentarisch bekannt geworden. Es ist ein großes Verdienst
Nadlers, nun erstmals im l.Band seiner Ausgabe das ganze noch vorhandene
handschriftliche Material dieses Tagebuches veröffentlicht zu haben.
In diesem religiösen Tagebuch treten uns ja zum erstenmal entscheidende Gedanken
Hamanns entgegen, die dann in seine gedruckten Schriften übergegangen
sind und sich durch diese auch während des nur handschriftlichen Daseins
des Tagebuches bereits haben auswirken können. Aber gerade im Blick auf
dieses uns nun erst vollständiger vorliegende Tagebuch und seine Art fällt
Nadler nicht nur das oben zitierte Urteil über Hamann als „religiöses Genie",
sondern er gelangt darüber hinaus zu dem geistesgeschichtlich so wichtigen Ergebnis
, „daß die geistige Wurzel des großen 18. Jahrhunderts, des Klassizismus
wie der Romantik, deren beider Vater Hamann war, religiösen Ursprungs ist."

Man wird also anerkennen müssen, daß Nadler weder den religiösen Charakter
von Hamanns Persönlichkeit, noch das religiöse Zentrum seiner Gedankenwelt
, noch die geschichtliche Bedeutung und Auswirkung dieses Hamann-
schen Zentralen verkannt hat. Wie Nadlers Hamannbiographie als ganze nach
seiner eigenen Aussage kein Abschluß, sondern ein Anfang sein will, so hat er,
der Literarhistoriker, begreiflicherweise auch die Untersuchung der theologischen
Einzelheiten auf Grund der von ihm nun kritisch gereinigten und vervollständigten
Texte den Theologen überlassen, die angefangen von Herder
und Johann Friedrich Kleuker ja immer dem Laientheologen Hamann ein besonderes
Interesse entgegengebracht haben.

II.

Die folgenden Ausführungen wollen sich zunächst nur ganz
allgemein mit Hamanns Londoner Tagebuch vom Jahre 1758

Christen" (London 1758)

larnack, Kassel

Karl Heussi zum 75. Geburtstag

beschäftigen, dessen Text uns Nadler, wie gesagt, erstmals in
der noch heute erreichbaren Vollständigkeit vorgelegt hat. Der
Text beruht zum weitaus größten Teil auf der Hamannschen
Urschrift, die nach Hamanns Tode Friedrich Heinrich Jacobi
anvertraut worden war und 1905 der damaligen Königsberger
Staats- und Universitätsbibliothek übergeben wurde. Ergänzend
sind die auf Kleuker zurückgehenden Abschriften herangezogen
, wobei viele Falschlesungen und Eigenmächtigkeiten
dieser Abschriften und erst recht der bisherigen Auswahlver-
öffentlichungen beseitigt werden konnten.

Vor allem aber haben wir nun erst einen Einblick in Umfang
und Aufbau des „Tagebuchs eines Christen" gewonnen
, das Hamann von Mitte März bis Mitte Mai 1758 in London
niedergeschrieben hat. Wenn Hamann gegen Ende seines
Lebens aus diesem Tagebuch die auf seine Bibellektüre im Frühjahr
1758 bezüglichen Blätter aussonderte und dabei in der
noch vorhandenen Urschrift eigenhändig die ursprüngliche
Uberschrift „Tagebuch eines Christen" in „Biblische Betrachtungen
eines Christen" abänderte, so hat er selber Anlaß dazu
gegeben, daß man später in den gedruckten Auslesen neben
den „Gedanken über meinen Lebenslauf" fast nur diesen spezieller
biblischen Betrachtungen der Londoner Zeit Beachtung
schenkte und sie von dem Ganzen absonderte, wie das schon
Kleukers Abschriften unter dem Titel „Anmerkungen über die
Bibel" bzw. „über das Alte Testament" taten, und demgegenüber
wurden die anderen zum Tagebuch gehörigen Teile vernachlässigt
und ihre Zugehörigkeit zu dem Londoner Tagebuch
verkannt. Nadler hat zweifellos recht, wenn er nun die in der
Urschrift erhaltenen, gleichfalls tagebuchartig datierten und in
diese Zeit fallenden Aufzeichnungen wieder mit den „Biblischen
Betrachtungen" und den „Gedanken über meinen Lebenslauf"
zu einem Ganzen vereinigt.

Dieses enthält nun folgende Bestände:

I. die „Biblischen Betrachtungen". Sie tragen am Kopf der Einleitung
das Datum: „London, d. 19.März am Palm-Sonntag 1758" und bringen
in der kanonischen Reihenfolge Betrachtungen zu alt- und neutestamentlichen
Texten. Ihr Ende ist zeitlich durch Hamanns eigene Angabe in seinem „Lebenslauf
" festgelegt, da er in diesem sagt, daß er diese seine erneute Bibellektüre
am 21. April zu Ende gebracht habe. An Zwischendaten wissen wir aus demselben
„Lebenslauf", daß er das 5. Kapitel des Deuteronomiums am 31. März
gelesen und bei dessen Lektüre seine Erweckung erlebt hat, und aus der Zeitangabe
nach Hiob 4,19 ersehen wir, daß er am 9. April an dieser Stelle aufhörte,
seine „Gedanken bei Lesung des Buchs Hiob aufzusetzen, weil sie mir von dem
Sinn desselben gar zu sehr abzuweichen schienen und der Verstand desselben
zu schwer ist". Aus der Kürze der nun noch zur Verfügung stehenden Zeit bis
zum Abschluß dieser Bibellektüre am 21. April dürfte sich die Kürze der
meisten nun folgenden Betrachtungen über die übrigen Bücher des AT und
auffallenderweise auch des NT erklären — falls nicht Blätter verlorengegangen
sind.

II. An demselben Tage, an dem Hamann seine Bibellektüre beendete,
begann er seine „Gedanken über meinen Lebenslauf" niederzuschreiben
. Auf diesen Titel, dem Psalm 94, 19 in einem der englischen Bibelübersetzung
folgenden, von Hamann noch eigentümlich ergänzten Wortlaut hinzu-