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Ausgabe:

1952

Spalte:

641-652

Autor/Hrsg.:

Fascher, Erich

Titel/Untertitel:

Antike Geschichtsschreibung als Beitrag zum Verständnis der Geschichte 1952

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/Bonatsfdjrift für Das gesamte (bebtet Der Crjeologte unö KcHgionsünffnifdjaft

Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack •
Unter Mitwirkung von Professor D. Ernst Sommerlath, Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR D. KURT ALAND, HALLE-BERLIN

NUMMER 11 77. JAHRGANG NOVEMBER 1952

Spalte

Antike Geschichtsschreibung als Beitrag
zum Verständnis der Geschichte
. Von Erich Fascher ...... 641

Hamanns „Tagebuch eines Christen"
(London 1758).

Von Leopold Zscharnack........... 651

Gott und Mensch nach evangelischem
Verständnis.

Von Rudolf Hermann .............. 663

Spalte

Jüdische Apokalyptik und hellenistischer
Synkretismus Im Jonannes-
Evangeliun., dargelegt an dem Begriff
„Licht". Von Herbert Preisker..... 673

Die Bedeutung des Pharisäismus für
Geschichte und Theologie des Judentums
. Von Rudolf Meyer ....... 677

Jesaja. Von Gustav Hölscher......... 683

Ist die praktische Theologie eine
Wissenschaft? Von Erich Hertzsch. 693

Spalte

Theologische Arbeiten in Mikrokopie:

Schrey: Die schwedische Theologie der

Gegenwart ........................ 697

Schröder: Das Ich und das Du in der

Wende des Denkens ................ 699

Seeger: Staatsgott oder Gottesstaat im

alten Israel und Hellas .............. 700

Vollborn: Studien zum Zeitverständnis

des Alten Testaments ............... 702

Zum vorliegenden Heft............. 703

Antike Geschichtsschreibung als Beitrag zum Verständnis der Geschichte

Von Erich Fascher, Greifswald

Karl Heussi zum 75. Geburtstag

I.

In seiner Rede „Vom Sinn der Geschichte. Augustinusund
die Moderne", die Karl Heussi am 21. 6. 1930 als Rektor von
Jena bei der Feier d;r akademischen Preisverteilung gehalten
hat1, und deren Ergebnis war, daß ^s, ,den" Sinn der Geschichte
nicht gebe, wohl aber Sinnhaftigkeit des Geschichtlichen als
einer Synthese von Sinnfindung und Sinngebung2, die uns auf
dem Wege über das Werk Augustins erschlossen sei — in dieser
Rede hat unser verehrtes Geburtstagskind auch einige Bemerkungen
über die Anfänge menschlicher Geschichtsschreibung
im Alten Testament, bei Herodot und Thukydides u. a., b i
Livius und Tacitus eingestreut und die Ansicht vertreten, daß
es ein Verständnis von Geschichte, geschweige denn Universalgeschichte
in den genannten Werken nicht gäbe. Daß
Jahwe sich nach israelitischer Vorstellung in der Geschichte
offenbart habe, sei modern gedacht; denn der alte Israelit kenne
wohl rettende Einzeltaten seines Gottes, die immer mit irgendwelchen
Naturwundern verbunden seien - darauf liege der Ton -
aber keinerlei zusammenhängenden Komplex von Ereignissen
, genannt „Geschichte". Zwar biete das Alte Testament
eine Fülle geschichtlicher Uberlieferungen in allen möglichen
Gattungen historischer Darstellung, die z. T. „zu wahren Perlen
antiker historischer Erzählungskunst" gehören, aber daß
sie „Geschichte" darstellen, sei ein dem Alten Testament gänzlich
fremder Gedanke. Bester Beweis für diese Ansicht ist nach
Heussi das Fehlen des Wortes „Geschichte" in der hebräischen
Sprache. Debarim bedeute „Erzählung" und hafte immer an
einem Einzelvorgang oder einer einfachen Reihe von Einzelvorgängen
. „Nirgends im Alten Testament wird dagegen das
Ganze, das zwischen der Paradiesesgeschichte und dem ,Tage
Jahwes' gelegen ist, als eine Einheit gedacht und als ,die Geschichte
' bezeichnet; dergleichen liegt außerhalb der Denkmöglichkeiten
des Alten Testaments." Nur in Arnos 9, 7 und
Daniel 7 will Heussi „schwache Ansätze zum Begriff der Universalgeschichte
" finden. (Vom Sinn der Geschichte S. 4 f.)

') Jenaer akademische Reden Heft 11. Jena 1930.

2) ,,Es gibt nicht den Sinn der Geschichte; aber es gibt in unendlicher
Mannigfaltigkeit und Fülle und UnWiederholbarkeit immer wieder neue Sinnerfüllungen
im Einzelleben und im Leben der Völker. Es gibt Sinnhaftigkeit
des Geschichtlichen. Immer wieder erschließt sich den ringenden und strebenden
Menschen ein neuer Sinn ihres Lebens. Dieses Sinnhafte ist nicht
etwas, was rein fiktionalistisch von derh Menschen hineingetragen wird in die
Dinge; dann wäre alles höhere Streben Illusion. Das Sinnhafte ist auch nicht
etwas, was fatalistisch gegeben ist, als ein Fertiges, das nur gefunden oder erschlossen
zu werden braucht. Sondern das Sinnhafte ist offenbar eine Synthese
von beidem, von Sinnfindung und Sinngebung. Die Dinge müssen auf
die Möglichkeit des Sinnhaften angelegt sein, das Sinnhafte muß in den Dingen
wurzeln, muß in die Tiefe, die Substanz der Dinge hineinreichen: wir aber
müssen den Sinn ergreifen und bejahen in Glaube und Tat." (S. 19f.)

641 642

Wir müssen es dem Alttestamentler überlassen, ob er dieser
Auffassung zustimmen will, wollen auch in eine Diskussion über
das Neue Testament hier nicht eintreten, um nicht zu sehr vom
Thema abzuschweifen. Wenn Heussi im Alten Testament Perlen
historischer Erzählungskunst anerkennt, so muß Israel zumindest
ein feines Verständnis für geschichtliche Ereignisse gehabt
haben, selbst wenn ihm Denkvermögen und Gabe zu zusammenfassender
geschichtlicher Darstellung noch gefehlt hat.
Daß nicht jedes Volk, welches Geschichte macht oder Geschichte
erlebt — und Israel erlebte sie, da sein Land ständig die Stätte
des Zusammenpralls großer Reiche war (vgl. Heussi S. 5) —,
auch die Gabe hat, Geschichte zu schreiben, dafür sind die alten
Kulturvölker Vorderasiens: Babylonier, Ägypter, Assyrer
und Perser ein Beweis. Sie haben wohl Denkmäler als Material
zur Geschichtsschreibung hinterlassen, selbst aber keine großen
Geschichtsdarstellungen hervorgebracht.

Aber ein Gelehrter wie Ed. Schwartz, der in gewisser Inkonsequenz
die These verficht, daß die Geschichtsschreibung
eine Schöpfung der Hellenen sei1, gibt doch zu, daß ein Volk
im Orient echte Geschichtsschreibung hervorgebracht habe:
die Israeliten, und verweist dazu auf die Palastrevolution der
salomonischen Hof clique und die Ausrottung der Dynastie Omri
als klassische Beispiele solcher Geschichtsdarstellung.

Im übrigen ist es ja von der alttestamentlichen Fachforschung allgemein
anerkannt (vgl Otto Eißfeldt: Einleitung in das Alte Testament 1934, bes.
S. 152), daß in 2. Samuel 13—20 und 1. Könige 1—2 ein von großer Erzählungskunst
gestalteter Bericht vorliegt, den manche Gelehrte noch an die Ereignisse
selbst heranrücken möchten (d h. in die Zeit zwischen 1000 und 950),
während andere, eine kunstvolle Verarbeitung vorhandenen Quellenmaterials
annehmend, ins 9 Jahrhundert hinabgehen Man wird z B bei einer genaueren
Quellenanalyse fragen, ob die dort geführten Gespräche wirklich genaue Wiedergaben
sind oder ob dichterische Phantasie hier die Situation gedeutet hat.
Das gälte vom Gespräch zwischen Amon und Thamar (2 Samuel 13, 11—16),
zwischen Joab und dem Boten (18, 10—14), David und der Bittstellerin aus

') Eduard Schwartz: Geschichtsschreibung und Geschichte bei den Hellenen
(Die Antike IV, 1928, S 14—30) Schwartz geht von dem seinen Aufsatz
durchziehenden Grundsatz aus, daß echte Geschichtsschreibung nur in einem
Volke möglich sei, welches den Willen habe, sein Schicksal selbst in die Hand
zu nehmen und für seine Ehre und Freiheit sich verantwortlich zu fühlen, allen
Stürmen und Widrigkeiten zum Trotz (S. 30). Israels Geschichtsschreibung
sei mit dem Staat Israel zugrunde gegangen; denn die Makkabäerbücher seien
Produkt des Hellenismus. Ihre mangelnde Schätzung durch das orthodoxe
Judentum verrate das Fehlen im hebräischen Kanon. Aber dasselbe muß ja
nun Schwartz auch bei den Griechen feststellen, da mit der Vernichtung der
letzten hellenistischen Monarchien für die Griechen kein Geschehen mehr da
war, das lebendige Geschichtsschreibung möglich machte. Und so gilt doch —
gegen Schwartz — schließlich für Polybios, der im Dienste der Römer Geschichte
schreibt, ähnliches wie für die Makkabäerbücher. Die Wurzeln der
Geschichtsschreibung liegen somit bei Israeliten und Griechen.

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