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Ausgabe:

1952 Nr. 10

Spalte:

614

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schimmel, Annemarie

Titel/Untertitel:

Die Religionen der Erde 1952

Rezensent:

Mensching, Gustav

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610

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 10

614

sterien oder besonderer Riten zu denken, sondern es handelt
sich um gewöhnliche Kultgründungen und Ausflüsse persönlicher
Frömmigkeit oder aber um Identifikationen mit ortsansässigen
Gottheiten wie z.B. in Odessos; natürlich bestand
hierfür nur in solchen Gegenden Interesse, die nicht schon einen
eigenen renommierten Kult der Kabiren bzw. Megaloi Theoi
hatten (S. i27f. 173. 215). EÜ14.Kapitel istklärend, aberfür das
Ganze weniger tragend, da hier Gottheiten behandelt sind, die
auf Grund von Ähnlichkeiten ihrer Darstellung oder ihrer Riten
, Symbole, Kultbauten für Kabiren oder ihresgleichen erklärt
werden könnten, unter Ausschluß freilich von allzu vagen
Deutungen.

Nachdem so das epigraphische, literarische und archäologische Material
registriert und weitgehend aufgearbeitet ist, erörtert das 5. Kapitel verschiedene
Kennzeichen mit dem Ergebnis, daß sie alle den Megaloi Theoi bzw. Kabiren
nicht ausschließlich eigen seien. Was H. vielmehr wirklich charakteristisch
findet, stellt das 6. Kapitel dar: es ist die Unbestimmtheit der Götter
in Namen, Zahl, Geschlecht, Alter, Körpergröße, Wirksamkeit. Hierin wie auch
in ihrer typisch mediterranen Zuordnung zu einer weiblichen Gottheit, in den
Traditionen von ihrem hohen Alter, in ihrer Zusammenstellung mit den Titanen
, in der Entfernung mancher ihrer Heiligtümer von der nächsten Stadt,
in der großen Rolle der Sklaven und Fremden in ihrem Kulte und in vielem
andern, was sich schon im Laufe der Untersuchung beiwege zeigte, verrät sich
der vorgriechische Ursprung der Megaloi Theoi wie der Kabiren — unbeschadet
dessen, daß Samothrake als Replipunkt zwischen Thrakien und Kleinasien
ein thrako-phrygisches Stadium durchgemacht haben muß (S. 122ff.; zu den
Zdioi vgl. P. Kretschmer, Anzeiger d. Österr. Akad. d. Wiss. LXXXVI 1949,
194f.). Diese an sich wahrscheinliche, aber nicht einhellig vertretene Zurück-
führung auf die prähellenische Bevölkerung würde weitere Bestätigung erfahren
, wenn E. Sittigs Lesungen minoischer Schriftdenkmäler sich bewähren
(S. 317, s. jetzt La Nouvelle Clio III 1951, 35ff.). Derselben vorgriechischen
Schicht weist H. dann auch Kureten und Korybanten (dieser Name phrygisch
nach Kretschmer, Die Sprache II 2, 1950, 65ff.), Teichinen, Dioskuren, Daktylen
und Anakes zu, für die er in Anhängen Material samt einer Karte gibt;
auch sonstige Gruppengestalten wie die Soteres Theoi, Tritopatores, Molioni-
den, Pataiken, Pygmaien, Kerkopen, verschiedene kleine oder kindliche Götter
zieht er in Betracht (noch weitere in der Einleitung). Er stellt sich, wenigstens
für die zuerst Genannten, die Entwicklung so vor, daß sie aus dem vorgriechischen
Substrat hervorwuchsen, sich in der mykenischen Koine ausglichen
und dann in den dunklen Jahrhunderten bis zur archaischen Zeit unter den
verschiedenen Bezeichnungen differenziert wurden; der Kabirenname scheint
ihm nur in Kleinasien zu Hause gewesen zu sein und sich erst in nachmyke-
nischer Zeit, aber natürlich vor 500 v. Chr., über die ionischen Inseln verbreitet
zu haben.

In dieser These, die durch Herodots bekannte Theorie von der Namen-
losigkeit der pelasgischen Gottheiten beeinflußt ist, liegt nun freilich eine Gefahr
in doppelter Richtung. Zunächst könnte sich, da es H. besonders auf die
lokalen Ausprägungen der Grundvorstellung und weniger auf die generellen
Namen ankommt, eine zu große Vereinzelung ergeben. Mir scheint es jedenfalls
, daß es nicht recht gelingen will, die Megaloi Theoi von den Kabiren fernzuhalten
; die Kabiren können immer Megaloi Theoi heißen, aber vielleicht ist
doch auch die Umkehrung dieses Satzes möglich (S. 134. 301). Die Belege für
anderweitige Identifikationen der Megaloi Theoi sind ganz selten und verschwinden
sogar völlig, wenn man Sarapis und Isis (S. 32) mit Varr. ling. Lat.
V 57 f. für Kabirennamen ansieht. Als Götter sui nominis lassen sich die Megaloi
Theoi auch nicht direkt nachweisen: H. stellt sie einleuchtend zur Megale Thea,
aber gerade auf diesem Wege gelangen wir zu Kybele und damit zu den Kabiren
. Wenn H. für den Namen KdßeiQoi (S. 318ff.) wieder mit Entlehnung aus
dem Phoinikischen rechnet (in Kleinasien noch zu mykenischer Zeit, s.S. 135ff.),
so fällt es schwer, die Megaloi Theoi nicht für die kabirim zu halten (S. 27ff.).
Das Postulat der größeren Zuverlässigkeit der inschriftlichen Belege hat als
heuristisches Prinzip zweifellos seinen Wert, aber ihm die Zeugnisse des Hero-
dot II 51 und des Steslmbrotos fr. 20 für die samothrakischen Kabiren zu
opfern, fällt trotz des Widerspruches des Demetrios von Skepsis bei Strab.
X 3, 20 (S. 80) nicht leicht. Es bleibt ja auch unklar, wem die Identifikation
der samothrakischen Götter mit den Kabiren zugetraut werden soll, wenn sie
nicht authentisch war — irgendwelchen Reisenden (S. 73ff.) oder Herodot
selber (S. 263) oder auch offiziellerer athenischer Einwirkung (S. 125, 1)? Die
Regel, daß die Zafio&^axcs &eoi in der Diaspora nicht als Kabiren bezeichnet
werden, erleidet in Delos (und vielleicht Ägypten S. 232f.) eine Ausnahme, die
nicht als sekundäre Gleichsetzung erklärt zu werden braucht (S. 134. 145f.
149). Wenn die Megaloi Theoi nicht nur in Chios (S. 140), sondern auch in
Lemnos (S. 32, 1. 161 f.) infolge von neueren Funden ins zweite Kapitel überführt
werden mußten, so kann das jeden Augenblick auch für die benachbarten
Inseln Imbros und Samothrake notwendig werden. Nun erkennt H. freilich
auch für Lemnos (S. 162) wie für Delos (S. 152) und selbst Theben (S. 189) den
Kabirennamen gar nicht als ursprünglich an, weil er nach ihm ja aus Kleinasien
gekommen ist; aber damit würde sich der Unterschied zu Samothrake,
wenn einer vorliegt, auch wieder abschwächen. Tief ins Sachliche geht er nach
H. ja sowieso nicht: das geographische Bild der Kultstätten stimmt für Kabiren
und Megaloi Theoi recht gut zusammen (vgl. S. 296ff.), und was die
Natur der beiden anlangt, so ergeben sich, ohne daß man bedenkliche Analogieschlüsse
(S. 258) ziehen müßte, ungesucht die engsten Verbindungen, namentlich
in ihrer Fruchtbarkeitsbedeutung und auch in ihrer Eigenschaft als Seepatrone
, die H. in Samothrake für alt hält (S. 101). Alles in allem fragt es sich
also, ob wir die Kabiren mit H. als kleinasiatischen Import anzusehen haben
(so auch F. Dirlmeier, Der Mythos von König Oedipus, Mainz 1948, 23f.) oder
ob sie auch in Griechenland aus vorhellenischer Zeit bodenständig gewesen sein
können, namentlich in Boiotien, das allein neben Kleinasien einen topony-
mischen Beleg bietet (B. Loewe, Griechische theophore Ortsnamen, Diss. Tüb.
1936, 95f.).

Auch in H.s Sicht ist diese Frage freilich nicht ganz entscheidend, denn
für ihn liegt ja, wie gesagt, eine Grundvorstellung vor, die in nicht allzuviel
mehr als dem Namen nachträglich differenziert worden ist. Diese wesenhafte
Identität dehnt er nun aber auf so viele andere Gestalten aus, daß sich hier
ein zweites Bedenken meldet. Nicht jeder wird die eigentlichen Dioskuren und
die Anakes, soweit sie diesen entsprechen, in jenem gemeinsamen Urgrund
mitverschwinden lassen, da bei ihnen die Zweizahl so ausgeprägt ist, daß sie
sich schon hierdurch von den andern markant abheben. Die Kabiren und Megaloi
Theoi gehen in dieser Hinsicht schon eher mit den Kureten, den Korybanten
und den andern zusammen, die sich so gerne als itQÖnoXoi d'eäv plura-
lisieren, aber sie haben dafür den Altersunterschied der beiden männlichen
Gottheiten für sich, der zwar manchmal, namentlich durch Identifikation mit
den Dioskuren, verwischt wird, aber jedenfalls den andern niemals eigen ist;
die Anaktores von Ephesos können daran, glaube ich, nichts ändern (s.
S. 261 ff.).

Wenn wir über die Kabirenmysterien nicht so viel erfahren
, wie wir gerne möchten, so werden wir uns damit ebenso
wie im Falle der eleusinischen Mysterien abfinden müssen.
Sonst bleiben mancherlei Fragen offen, auf die durch spätere
Funde noch Licht fallen könnte. Was man jetzt wissen kann,
hat H. in seinem durch Indizes gut erschlossenen Buche aufgezeigt
und damit für jede künftige Diskussion die feste Grundlage
gelegt. Seine persönliche Leistung kann an dieser Stelle
nicht im einzelnen sichtbar gemacht werden; er arbeitet mit
zurückhaltender Objektivität, die dem Material das Mögliche,
aber nicht das Unmögliche abzugewinnen sucht, und mit einer
präzisen Akribie, an der auch die Gelehrsamkeit von J. und
L. Robert (Rev. etud. gr. LXIV 1951, 132t.) kaum etwas zu
korrigieren fand. Sein Buch zeigt, daß sich die Religionshistorie
an Exaktheit von keinem anderen Zweige der Altertumswissenschaft
übertreffen zu lassen braucht, und es ist nur zu bedauern
, daß sie nicht allzu häufig einen so überzeugenden Beweis
dafür führt.

Bonn Hans Herter

Schimmel, Annemarie, Doz. Dr. phil.: Die Religionen der Erde. Religionsgeschichte
im Abriß. Wiesbaden: Kesselring[1951]. 86 S. 8°. Schule und
Hochschule, kart. DM 2.60; geb. DM 3.40.

Obwohl wir eigentlich über genügend kompendienhafte
Darstellungen der Religionsgeschichte verfügen, füllt doch diese
kleine, ansprechend geschriebene Arbeit eine Lücke. Dem oft
geäußerten Wunsch des Lehrers, eine schlichte aber wissenschaftlich
zuverlässige Darstellung des wesentlich Wichtigen
im Bereich der Religionsgeschichte zu besitzen, entspricht diese
Schrift in anerkennenswerter Weise.

Bonn Gustav Mensching

NEUES TESTAMENT

Dodd, C. H.: Gospel and Law. The Relation of Faith and Ethics in Early
Christianity. London: Cambridge University Press 1951. 83 S. 8°. 9/—s.

Das Büchlein enthält vier Vorträge des bekannten Neu-
testamentlers über das Thema „Evangelium und Gesetz" (oder
richtiger, wie der Untertitel lautet, über: „Das Verhältnis von
Glauben und Ethik in der frühen Christenheit"). Das Fehlen
des gelehrten Apparates zeigt, daß Dodd mit einem breiteren
Leserkreis rechnet, und man muß wieder seine Gabe bewundern
, solide Wissenschaft in fesselnder Weise allgemeinverständlich
darzubieten.

Dodd geht aus von der Unterscheidung zwischen Kerygma
und Didache (i.Preacliing and Teaching in the Early Church
S.3—24). Wie der Dekalog den Geboten die Erinnerung an die
Erlösungstat Gottes voranstellt: „Ich bin der Herr, dein Gott,
der ich dich aus dem Laude Ägypten, aus dem Sklavenhause,
herausgeführt habe", wie das Spätjudentum Haggadha und
Halakha unterscheidet, so folgt im Urchristentum auf die Verkündigung
(Kerygma) die ethische Unterweisung (Didache).
Diese war schon in vorpaulinischer Zeit (vgl. i.Thess. 4, 1
Tiagekäßere; Rom. 6,17L) durch die Bedürfnisse des Katechu-
menats auf dem Wege, in feste Form gefaßt zu werden, und ist
formal nach Art des hellenistischen Zwei-Wege-Schemas vorzustellen
. — Wenn somit die Didache auch weithin an die zeitgenössische
Alltagsethik anknüpft, so wird diese doch grundlegend
umgestaltet durch das Kerygma (2. Principles and Mo-