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Ausgabe:

1952 Nr. 10

Spalte:

601-608

Autor/Hrsg.:

Blanke, Fritz

Titel/Untertitel:

Johann Georg Hamann und die Fürstin Gallitzin 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 10

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Rufen nach Jahwe, zu dem die durch die Fremdherrschaft Abgetrennten
wieder zurückkehren möchten. Daß Jeremia dazu
im Namen Jahwes eine positive, verheißende Antwort bereit
hat, läßt sich sowohl aus der politischen wie aus der theologischen
Situation vorstehen und begründen. Die Rückkehr der
nach Assur Exilierten ist dann die Krönung jener Erwartungen
.

Daß Jeremia bei alledem, obwohl er natürlich weiß, daß
,,Israel" Gesamtname ist, den alten Namen Israel im Unterschied
von Juda — neben dem landschaftlich begründeten
„Ephraim" — verwendet, begreift sich ohne weiteres. Wie hätte
er dieses Gebiet auch sonst benennen sollen ? Andererseits mag
Rost mit der Vermutung recht haben1, daß m der babylonischen
Zeit die Benennung „Israel" für die von Josia beanspruchten
Landesteile aus politischen Gründen unterblieb oder
doch zurücktrat. Aber in jener Zeit, den Tagen Jojakims und

') A. a. O. S. 110.

Zedekias, lag Jeremias prophetische Aufgabe ohnehin in Juda
und Jerusalem.

Zu dem allen ist noch eins hmzuzufügen. Wie meist bei den
Propheten ist auch hier eine bestimmte Situation der Ausgangspunkt
. Die eigentliche „Botschaft" der Propheten aber geht in
der Tat nur davon aus. Die Botschaft Jeremias an das Volk des
alten Nordreiches hat ihre Wurzeln in den theologischen Tatbeständen
, die Jeremias Prophetie überhaupt bestimmen: Jahwes
Macht, die seine Gerechtigkeit durchsetzt, und zwar sowohl
im Gericht wie auch in der gnädigen Zuwendung. Diese Botschaft
greift eben über den jeweiligen Anlaß hinaus; sie bleibt
die gleiche, auch wenn er nicht mehr da ist. Von hierher ist
nicht nur historisch, sondern auch theologisch verständlich,
wieso diese Weissagungen, die sich ja, vordergründig gesehen,
nicht „erfüllten", dennoch erhalten blieben. Sie treten nach
der judäischen Katastrophe in den Bereich einer neuen Aktualität
, wie die Zusätze besonders zu Kap. 30t. zeigen, ja, sie sind
auch über jene Ereignisse hinaus in Kraft geblieben — bis zur
endgültigen „Erfüllung".

Johann Georg Hamann und die Fürstin Gallitzin

Von Fritz Blanke, Zürich

Am 21. Juni 1788 starb 58jährig in der fürstbischöflichen
Residenz Münster in Westfalen Johann Georg Hamann aus
Königsberg1. In der Frühe dieses Tages entschlief er in der
Wohnung seines Freundes und Jüngers Franz Bucholtz, der
ihn zu einem Ferienaufenthalt nach Westfalen geladen hatte.
„Schon am Abend des Sterbetages fuhr Fürstenbergs Kutsche
vor das Bucholtzsche Haus, er selbst und sein Freund Overberg
stiegen aus, wickelten den Leichnam in wollene Decken,
fuhren ihn nach dem Hause der Fürstin v. Galyczin, um ihn da
in einen Sarg zu legen, und Fürstenberg half ihn selber auf
seinen Schultern zur Gruft befördern, welche bereits an einem
schattig stillen Plätzchen neben einer Laube in dem an das
Wohnhaus stoßenden südlichen Gartentheil hergerichtet war''2.

Bucholtz war katholisch, ebenso die Fürstin Amalie von
Gallitzin. Franz Freiherr von Fürstenberg und Bernard Overberg
waren katholische Priester. Fürstenberg war des Fürstbischofs
Generalvikar und erster Minister, Overberg Fürstenbergs
rechte Hand. Hamann aber war Lutheraner. Er hatte
in Königsberg sein ganzes bisheriges Leben in lutherischer Umwelt
verbracht. Und nun war ihm ein Begräbnis im Kreise katholischer
Menschen, ohne Beisein eines evangelischen Pfarrers,
zuteil geworden3.

Ein ökumenisches Begebnis! Gewiß. Aber in welchem
Sinne ? Wie stand Hamann zum Katholizismus, als er in katholischem
Erdreich bestattet wurde ? Und wie stellte sich Amalie
von Gallitzin zum Glauben des evangelischen Mannes, dem sie
die letzte Ruhestätte bereitete ?

Als die Fürstin im Sommer 1787 zum erstenmal mit dem
„Magus in Norden" persönlich zusammentraf, befand sie sich
mitten in einem Prozeß religiösen Reifens.

') Von Sonderabhandlungen aus neuerer Zeil zu diesem Thema sind mir
bekannt: G. Hillner, J. G. Hamann und die Fürstin Gallitzin (Riga 1925, 49S.).
Es ist in der Hauptsache eine Wiedergabe der Quellen ohne eigene geistige
Durchdringung. Die folgenden beiden Darstellungen graben wesentlich tiefer:
Georg Gudelius, Johann Georg Hamann und die Fürstin Amalie von Gallitzin
(Kirchliche Rundschau für Rheinland und Westfalen, 45. Jahrg., 1930, S. 154
bis 155 und S. 165—167); Isabella Rüttenauer, Hamann und die Fürstin Gallitzin
(Hochland, 36. Jahrg., 1938/39, S. 203—213). Unter Zuhilfenahme der
Quellen, aber mit (zum Teil weitgehender) dichterischer Freiheit ist das Münsterjahr
Hamanns gestaltet in dem Roman von Hans Franck „Reise in die
Ewigkeit" (Berlin 1934, 417 S.). Gewidmet ist dieses Buch Julius Smend, der
seinerseits in seinem Aufsatz „Johann Georg Hamann" (in den „Westfälischen
Lebensbildern" Hauptreihe Bd. I, Heft 2, 1930, S. 242—257) eine anziehende
Schilderung des münsterischen Aufenthaltes Hamanns gegeben hat. — Meine
eigene Studie versucht, die in Frage kommenden Texte noch gründlicher auszuwerten
, als es bisher geschehen ist. Hauptquelle sind die Tagebücher der
Fürstin, erstmals (im Auszug) gedruckt in „Mittheilungen aus dem Tagebuch
und Briefwechsel der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin" (Stuttgart 1868)
und zum zweitenmal (vollständiger) in „Briefwechsel und Tagebücher der
Fürstin Amalia von Galitzin. Neue Folge" (= Bd. III.), hsg. von Ch. Schlüter
(Münster i. W. 1876).

2) Carl Carvacchi, Biographische Erinnerungen an Johann Georg Hamann
, den Magus in Norden (Zeitschrift für vaterländische Geschichte und
Altertumskunde, hrsg. von dem Verein für Geschichte und Altertumskunde
Westfalens, 16. Band, 1855, S. 341). Carvacchi stützt sich u.a. auf Angaben
des Arztes Drüffel, der dem Sterben Hamanns anwohnte.

') Eine evangelische Gemeinde besteht in Münster erst seit 1805.

Geboren 1748 in Berlin als Tochter des Generals Grafen
von Schmettau und seiner katholischen Gemahlin war Amalie
im katholischen Glauben erzogen worden. Mit zwanzig Jahren
heiratete sie den Fürsten Dimitri von Gallitzin, russischen Gesandten
im Haag. Er war ein Anhänger der französischen Enzyklopädisten
. Die junge Fürstin ging nach der Verheiratung
zunächst im Trubel des Hoflebens unter. Sie ließ sich vergöttern
. Genußtrunken flog sie „umher gleich einem Sommervogel
, sog den leichten Duft der Morgenröthe von allen Blumen
"1.

Aber vierundzwanzigj ährig entzog sie sich mit mutigem
Entschluß den Zerstreuungen der Gesellschaft, um ganz der
Erziehung ihrer beiden Kinder zu leben. Gleichzeitig schloß
sie sich an den niederländischen Philosophen 'Franz Hemster-
huis als ihren geistigen Führer an. Hemsterhuis verwarf den
Atheismus der Enzyklopädisten, aber er stand auch dem biblisch
-geschichtlichen Christentum fern. Seine eigene Philosophie
, eine Verbindung des platonischen Idealismus mit Gedanken
der Engländer Locke und Shaftesbury, kann als Versuch
eines Mittelweges zwischen Skeptizismus und positivem
Christentum gewertet werden.

Im Jahre 1779 übersiedelte Amalie von Gallitzin nach dem
durch seine guten Schulen bekannten Münster2. Sie trat mit
dem geistvollen Generalvikar von Fürstenberg in Verkehr, bat
ihn aber, sie nicht bekehren zu wollen3.

Jedoch eine schwere Krankheit (1783) führte zur Vertiefung
. An der Schwelle des Todes entdeckte Amalie, daß sie bisher
selbstzufrieden, stolz und ehrsüchtig gewesen sei4. Hinfort
wollte sie sich selbst verleugnen und Verzicht tun. „Alles, woran
ich gehangen hatte, mußte ich lassen, mir selbst entsagen
und mein Kreuz auf mich nehmen . . . Anstatt des Ruhmes
mußte ich Demüthigungen und anstatt jedes Lohns meiner
Leiden um Liebe willen Mißkennung, Verachtung, Verlassung
auf mich nehmen, anstatt des Selbstgenusses erkennen, daß
ich nichts bin5".

Die Fürstin beschritt diesen Weg mit der ihr eigenen Willenskraft
. Als zwei berühmte Zeitgenossen, Lavater und Herder
, sie baten, mit ihr in • schriftliche Verbindung treten zu
dürfen, war sie schon so-weit, daß sie diesen Wunsch, in dem
sie eine Versuchung zur Eigenliebe erblickte, ohne weiteres abwies
. Nur als Goethe an sie die gleiche Bitte richtete, blieb sie
einen ganzen Winter lang im Kampfe, ob sie darauf eingehen
solle oder nicht. Aber dann entschied sie sich auch Goethe
gegenüber zu einer Absage6. Wahrlich eine heroische Ehrgeiz-
losigkeit!

Es handelte sich bei dieser Entwicklung vom Stolz zur
Demut um eine Verlagerung des Vervollkommnungswillens.
Hatte sich die Fürstin früher in der Bildung vervollkommnen
wollen, so jetzt in der Verachtung der Gelehrsamkeit und
Schöngeisterei. Von ihren katholischen Freunden in Münster
wurde sie um dieses Strebens willen bewundert7.

') Mittheilungen aus dem Tagebuch und Briefwechsel (im Folgenden zitiert
als M) S. 37.

2) Siehe zu den damaligen Persönlichkeiten in Münster den trefflichen
Artikel von Otto Zöckler „Overberg und der Gallitzinsche Kreis" in RE 3. A.
Bd. 14 (1904) S. 539—546 und die dort angeführte, großenteils immer noch
maßgebende Literatur.

3) RE 14, 542 *) M 52. s) M 38. «) M 53—54. ') M 55.