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Ausgabe:

1952 Nr. 1

Spalte:

595-602

Autor/Hrsg.:

Hertzberg, Hans Wilhelm

Titel/Untertitel:

Jeremia und das Nordreich Israel 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 10

anbrechen ließ, da bedeutete das auch etwas mit Rücksicht
auf mein Leben: daß es errettet würde von der Macht der
Finsternis und in das Reich des Sohnes Gottes versetzt würde.
Es geht hier wirklich um eine objektive Tat Gottes, und zwar
um eine solche, bei der alles auf die persönliche Rettung
meines Lebens ausgeht. Ich habe den Sinn der objektiven Tat
Gottes in Christus nur dann verstanden, wenn ich mir im
Blick auf sie sagen kann: „et tua res agitur", es geht von Anfang
bis zu Ende um deine eigne persönliche Rettung.

IV.

Wie soll aber eine Generation, die so säkularisiert ist wie
die unsere, für die diese Welt, dieses Zeitalter das einzige ist,
und der die größere Perspektive, die Ewigkeitsperspektive
fehlt, Zugang zu dieser so ganz auf die Ewigkeitsperspektive
eingestellten Botschaft gewinnen können? Wie soll eine Generation
, von der mit Recht gesagt worden ist, daß sie weniger
die Todesangst als die Lebensangst kennt, Anwendung haben
für das Evangelium des Paulus von der Uberwindung des
Todes und von dem Sieg des Lebens durch Jesus Christus ?
Wenn man auf diese Weise die Todesangst und die Lebensangst
einander gegenübergestellt hat, dann hat man im allgemeinen
gedacht, die Lebensangst bedeute noch einen Schritt
weiter auf dem Weg der Säkularisierung, noch einen Schritt
weiter fort von der Ewigkeitsperspektive. Hat man diese Perspektive
verloren, dann wird der Tod nur ein Naturprozeß,
und die Angst, die übrigbleibt, wird zu Lebensangst, zu einer
Angst, die an der Wurzel dieses irdischen Lebens — des einzigen
Lebens, mit dem man rechnet — nagt.

Von einem Gesichtspunkt aus Ist das ganz richtig. Die
heutige Lebensangst ist ein Zeugnis dafür, daß die Säkularisierung
ihre letzte Grenze erreicht hat. Vor einigen Jahrzehnten
war die Säkularisierung mit einem optimistischen
Lebensglauben verbunden, und an die Stelle der Ewigkeits-

Eerspektive hatte man die Evolutionsperspektive, den un-
egrenzten Fortschrittsglauben gesetzt. Der war wie ein Überbleibsel
des Ewigkeitsglaubens. Wenn nun auch dieses Überbleibsel
der Lebeusangst hat weichen müssen, dann bedeutet
das, von einer Seite gesehen, daß nichts mehr übrig ist, daß
der völlige Nihilismus, das leere Nichts gähnt.

Von einem anderen Gesichtspunkt, von dem Gesichtspunkt
des Evangeliums aus kann dies auch einen Schritt vorwärts
bedeuten, denn das Evangelium beginnt immer am
Nullpunkt. Und weiter: als der Lebensglaube die Todesangst
überwand, bedeutete das den Sieg der Säkularisierung, als
aber dann die Lebensangst den Platz des Lebensglaubens einnahm
, bedeutet das die Auflösung der Säkularisierung. Es bedeutet
, daß die Todesangst in das Leben selbst eingezogen ist,
und daß man also doch bewußt oder unbewußt damit rechnen
muß, daß der Tod der Herrscher über unser Leben ist. Damit
stehen wir aber an der Schwelle zum Evangelium, so wie Paulus
es im Römerbrief verkündet.

„Mitten wir im Leben sind
Mit dem Tod umfangen" —
dieses Wort dürfte einer Generation, die die Katastrophen der
letzten Jahrzehnte erlebt hat, leicht verständlich sein. Mitten
im Leben sind wir vom Tod umfangen. Der Tod ist der
Herrscher über unser Leben. Das ist eine Tatsache, der sich
niemand verschließen kann. Es fragt sich nur, ob wir vor dieser
Tatsache resignieren und uns in die Gefangenschaft, die zu
zerbrechen wir doch nicht stark genug sind, finden sollen, oder
aber ob wir die Botschaft von ihm annehmen sollen, von dem
Stärkeren, der den Starken seiner Beute beraubt hat und uns
nun Gerechtigkeit und Frieden schenkt. Die Frage, auf die
der Römerbrief Antwort gibt, ist gerade die persönliche Frage
unsrer Generation. Und seine Antwort ist der Hinweis auf
ihn, der mich von der tyrannischen Macht der Sünde und des
Todes befreit hat, auf daß er mein Herr sei und auf daß ich
sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe. Das ist die
Antwort nicht nur auf die Grundfrage unsrer Generation,
sondern auf die gemeinsame große Grundfrage des ganzen
M enschengeschlechts.

Jeremia und das

Von H. W. H

Die ersten Lebensjahrzehnte des Jeremia und der Anfang
seiner prophetischen Wirksamkeit fallen mit dem Niederbruch
des assyrischen Reiches zusammen. Damit ist bereits der Ausgangspunkt
für das im Thema gestellte Problem gegeben. Denn
die Flage nach dem Schicksal der von den Assyrern exilierten
Israeliten wie ebenso die nach der Zukunft der bisherigen assyrischen
Provinzen, die das Gtbiet des ehemaligen Nordreiches
Israel darstellten, trat damit in ein akutes Stadium und mußte
die Zeitgenossen auf das äußerste bewegen. Es erscheint geradezu
ausgeschlossen, daß der Prophet Jeremia, der au den Ereignissen
seiner Gegenwart so leidenschaftlichen Anteil nahm, daran
hätte vorübergegangen sein sollen, und das um so weniger, als
der judäische König, der zur Zeit des assyrischen Zusammenbruchs
regierte, Josia, offenbar selbst den Versuch gemacht
hat, sich in den Besitz mindestens eines Teiles des ehemaligen
Nordreiches zu setzen.

Erschwert wird die Sache dadurch, daß die Terminologie
nicht deutlich und einhellig ist. L. Rost hat in seiner Arbeit
„Israel bei den Propheten"1 zu zeigen versucht, daß die echten
Jeremiasteilen das Wort „Israel" im Sinne des Gesamtvolkes
bzw. Judas als des Rechtsnachfolgers des alten Nordreiches verwenden
. Es soll hier nicht in eine Auseinandersetzung im einzelnen
eingetreten werden. Dennoch ist es grundsätzlich unwahrscheinlich
, daß der Tatbestand so einfach liegt, wie es hiernach
erscheint. Rost erwähnt S. 72 f., daß Nahum, der Zeitgenosse
der Zerstörung Ninives, die Bezeichnung Isräel für das
Nordreich beibehält, während Zephanja Israel mit Juda gleichsetzt2
. Und für Ezechiel betont er, daß es in seinem Buch Stellen
gibt, in denen Israel das Nordreich ist, wie solche, wo es mit
Juda identifiziert wird. Bei Jeremia sollte das nicht anders sein.
Natürlich kommt hinzu, daß in der Terminologie an diesem
Punkte leicht Fehler bei denen unterlaufen sein können, die den
Text überlieferten.

Es ist daher gut, sich nicht auf die Nachprüfung der Erwähnungen
von Israel, Jakob usw. zu beschränken, sondern da
einzusetzen, wo es um die in Rede stehende Sache geht. Wir beginnen
am besten mit den Kapiteln, die eingestandenermaßen

') Stuttgart 1937.

') 3, 13—15, besonders V. 13, vgl. 2, 7.

Nordreich Israel

ertzberg, Kiel

Johannes Herrmann zum 70. Geburtstag

vom Nordreich sprechen, 30t. Es ist besonders Volz gewesen,
der darauf aufmerksam gemacht hat, daß „Juda" hier überall
später hmzugesetzt worden sei; gleich in 30, 3 ist das deutlich
zu sehen. Das heißt aber bereits, daß für den, der diese Zusätze
machte, Israel eine von Juda unterschiedene Größe war: jener
Spätere wandte die dem Nordreich Israel gegebenen Verheißungen
in entsprechender Weise auf die neue Situation des Südreiches
an. Wir haben hier einen typischen Fall von „Nachgeschichte
"1.

Die späteren Deuter und Anwender haben aber Jeremia
nicht nur legitim ausgelegt — denn natürlich gilt beiden je in
üirer Lage die gleiche Verheißung —, sondern auch ihn sonst
richtig verstanden. Jeremia spricht vom Nordreich, und es ist
sehr wahrscheinlich, daß seine Ausführungen eben in jener Zeit
gemacht worden sind, als das Gebiet des früheren Israel herrenloses
Land war oder zu werden sich anschickte. Die damalige
ungeklärte Situation, in der dem Propheten der direkte, ihm
gegenüberstehende Adressat fehlte, könnte auch der Grund gewesen
sein, warum Jeremia diese Heilsworte „in ein Buch"
schreiben sollte (30, 2). Bei alledem ist nun wichtig, daß Jeremia
nicht nur, wie gewöhnlich angenommen wird, von der assyrischen
Gola, sondern auch von den Bewohnern der ehemaligen
Nordreichgebiete in Palästina selbst spricht. Das ist gleich in
30, 5b—7 der Fall; 5a ist unrichtige Einleitungsformel, da im
folgenden Jeremia selbst redet. Das Prophetenwort beschreibt
in drastischen Worten die einsetzende Aufregung der Bevölkerung
des Landes und verheißt, daß „Jakob" aus dieser Angstzeit
gerettet werden soll. Es ist nicht einzusehen, warum es sich
bei den hier genannten Männern um „die Verbannten"2 handeln
soll; es wird alles viel klarer und plastischer, wenn die Bewohner
der Juda nördlich benachbarten Gebiete ins Auge gefaßt
sind, um deren Lage Jeremia natürlich viel besser Bescheid
wußte als um die der doch praktisch aus seinem Gesichtskreis
entschwundenen Exilierten von 721. Wir werden vielmehr in
die Wirren beim Zusammenbruch Assurs hineingeführt.

Das gleiche gilt von 30, 8f. Es ist keineswegs nötig, die
Verse für eine spätere Erweiterung zu halten, da hier angeblich

') ZAWB 66, 1936, S. 110 ff.

*) W. Rudolph, Jeremia, Tübingen 1047, z. St.