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Ausgabe:

1952 Nr. 10

Spalte:

591-596

Autor/Hrsg.:

Nygren, Anders

Titel/Untertitel:

Objektives und Persönliches im Römerbrief 1952

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£91

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 10

592

Objektives und Persönliches im Römerbrief

Von Anders Nygren, Lund

I.

Beinahe 2000 Jahre liegen zwischen dem Apostel Paulus
und uns. Was er uns hinterlassen hat, sind einige Briefe, nicht
mehr als 100 Seiten; außerdem haben wir eine kurze Schilderung
seines Wirkens in der Apostelg?schichte. Trotzdem dürfte
man behaupten können, daß uns keine Gestalt der Antike so
vertraut ist wie seine. Dies gilt nicht so sehr von den äußeren
Daten seines Lebens; zwar wissen wir auch ein gut Teil darüber
. Es war, wie jedermann heute zugeben muß, eine Schimäre
, als man glaubte, ein „Leben Jesu" schreiben zu können.
Was wir von den Evangelien kennen, ist gar zu sparsam, um
als Material für eine Biographie zu dienen, und außerdem ist
es einem anderen Gesichtspunkt unterstellt, der es für diesen
Zweck unangemessen macht. Die Evangelien sind nicht als geschichtliche
Berichte über den Lebenslauf Jesu gemeint, sondern
als Zeugnis des Glaubens an den Herrn Jesus Christus.
Mit Paulus verhält es sich anders. Es wäre an sich nicht unmöglich
, ein „Leben Pauli" zu schreiben, selbst wenn unsre
Kenntnis über gewisse frühere Perioden seines Lebens große
Lücken aufweist und sich das Ende seines Lebens in ein undurchdringliches
Dunkel verliert.

Nun sind aber wie gesagt nicht die äußeren Züge im Leben
des Paulus gemeint, wenn behauptet wird, keine andere Gestalt
der Antike sei uns so bekannt wie er. Es geht statt dessen
um die Möglichkeit, in sein Werk und in seine Seele zu blicken.
Sowohl das Objektive als auch das Persönliche liegen bei ihm
selten klar zutage.

Was das letztere betrifft — die Möglichkeit in seine Seele
zu blicken, liegt es nahe, einen Vergleich zwischen Paulus
und Augustin anzustellen. Von Augustin ist gesagt worden,
er sei der erste, um nicht zu sagen der einzige antike Mensch,
der uns einen klaren Blick in seine seelische Entwicklung tun
läßt. Er hat ja auch selbst viel für unsere Kenntnis in dieser
Hinsicht durch seine Confessiones g"tan. Paulus hat nicht
solche Selbstbiographie hinterlassen. Und doch haben wir ein
viel klareres und intimeres Bild von ihm. Paradox könnte man
es so ausdrücken, wir besitzen ein klareres Bild gerade deshalb
, weil Paulus keine Confessiones hinterlassen hat. Solche
„Selbstbekenntnisse" sind ebenso sehr eine Art, sein Innerstes
zu verbergen wie zu offenbaren. Hierzu kommt, daß Augvistins
Confessiones keine Selbstbiog-aphie im gewöhnlichen Sinn
sind. Sie sind eine Zeichnung des Menschenlebens, des erschaffenen
Lebens, wie es auf der Jagd nach seinem „bonum",
seinem Glück ist, und wie es hierhin und dorthin getrieben
wird, und von Unruhe gesättigt ist, bis es endlich seine „quies",
seine Ruhe in Gott seinem Schöpfer findet — eine Zeichnung
des Menschenlebens, in der Augustin das eigne Leben mit
seinem Irren hin und her als Anschauungsmaterial benutzt.
Wie schablonenmäßig erscheinen nicht — trotz aller psychologischen
Feinheit — Augustins Beschreibungen im Vergleich
mit dem Bild, das uns das Neue Testament auf viel einfachere
Weise von Paulus zeichnet. Auch in den intimsten psychologischen
Analysen scheinen bei Augustin die neuplatonischen
und teilweise die biblischen Klischees hindurch. Er seziert sein
Bewußtsein mit Hilfe der Begriffe, die eine neuplatonische
und zugleich biblisch beeinflußte Anschauung ihm boten. Bei
Paulus indessen ist alles Ursprünglichkeit und Originalität.
Er analysiert nicht sein Bewußtsein, sondern beschäftigt sich
immerfort mit einer großen objektiven Wirklichkeit, die ihm
offenbart worden ist. Aber auch in seinen objektivsten Darstellungen
scheint sein eignes persönliches Problem hindurch.

Verlassen wir aber diesen Vergleich und fassen wir statt
dessen das eigentümliche Ineinander von Objektivem und Persönlichem
in dem objektivsten Brief des Paulus, im Römerbrief
, ins Auge.

II.

Unter den paulinischen Briefen nimmt der Römerbrief
eine Sonderstellung ein, insofern er der einzige ist, den der
Apostel an eine ihm fremde Gemeinde geschrieben hat. Dieser
Umstand hat natürlich dazu beigetragen, dem Brief ein objektiveres
Gepräge als sonst aufzudrücken. In den übrigen
Paulusbriefen lesen wir, wie der Apostel in die internen Verhältnisse
der Gemeinde eingreift, Anweisung und Rat gibt
usw. Aus diesen Briefen kann man deshalb ein ziemlich klares
Bild der Lage der verschiedenen Gemeinden und auch von
dem Verhältnis des Briefschreibers zu ihnen bekommen. Im
Römerbrief ist die Situation eine andere. Hier bewahrt der
Apostel eine ganz andere Zurückhaltung — was natürlich ist.

da es sich ja um eine ihm bisher fremde Gemeinde handelt.
Nur an einzelnen Punkten kann man eine Anspielung an Verhältnisse
in der römischen Gemeinde finden.

Man hat es oft als einen Mangel am Römerbrief bezeichnet
, daß er so objektiv gehalten ist, daß er so wenig den Charakter
eines Briefes hat. Er gibt ja eher den Eindruck einer
Lehrschrift, einer theologischen Abhandlung, die nur dem
Äußeren nach in die Form eines Briefes gekleidet ist. Wieviel
leichter, könnte man meinen, wäre er zu verstehen, und wieviel
mehr würde man von ihm haben, wenn Paulus ihn wirklich
zu einem Brief im eigentlichen Sinn des Wortes mit dem
für einen solchen charakteristischen Rapport zwischen sich
und dem Empfänger gemacht hätte.

Hier muß man indessen darauf achten, daß man nicht
einer falschen Alternative anheimfällt. Vor einem Mannesalter
behauptete Adolf Deissmann, daß die paulinischen Briefe
als wirkliche, persönliche Briefe und nicht als objektive theologische
Darstellungen zu betrachten seien. Der Römerbrief ist
das g'ößte Beispiel dafür, daß man nicht die Unterscheidung
zwischen objektiver Darstellung und persönlichem Brief aufrechterhalten
kann. Der Römerbrief ist zweifellos ein persönlicher
Brief, insofern er gerade das enthält, was Paulus beim
Schreiben für am nötigsten hielt, seinen Lesern zu sagen. Das
hebt aber nicht die Tatsache auf, daß sein Inhalt ein großer
objektiver Zusammenhang ist und nicht aus zufälligen, persönlich
geprägten Mitteilungen besteht. Man tut dem Römerbrief
ebenso unrecht, wenn man ihn als eine theologische Abhandlung
oder aber als eine zufällige briefliche Mitteilung auffaßt
. Er hat nichts von Zufälligkeit an sich, aber andrerseits
ist sein objektiver Inhalt so, daß er nicht vom Persönlichen
getrennt we_den kann.

Was man als einen Mangel am Römerbrief bezeichnet hat,
ist in Wirklichkeit seine Stärke. Man hat die Stellungnahme
des Apostels zu den besonderen Problemen der römischen Gemeinde
vermißt; aber man erhält statt dessen, was mehr ist;
wir werden dem eignen Lebensproblem des Paulus gegenübergestellt
. Man hat die Abrechnung des Paulus mit den Gegnern
vermißt; aber man begegnet hier statt dessen, was mehr ist,
seiner Abrechnung mit sich selbst. Denn auch er war einmal
den Heilsweg des Gesetzes gewandelt, war aber durch die Begegnung
mit Christus bei Damaskus aus seiner Bahn geworfen
worden. Als Paulus an die ihm fremde Gemeinde schreiben will
und daher keinen Anlaß hat, sich mit besonderen lokalen Problemen
zu beschäftigen, drängt sich das in den Vordergrund,
was sein großes Lebensproblem und zugleich das eigne Lebensproblem
des Christentums war. Was ist das Neue, das durch
Christus gekommen war ? Und wie verhält sich der neue Heilsweg
, der Heilsweg des Glaubens zu dem Weg, auf dem Gottes
Volk vorher gewandelt war, dem Weg der Taten ?

Paulus hatte als Pharisäer begonnen. Die Gerechtigkeit,
die Gerechtigkeit des Gesetzes, war das Pathos seines Lebens
gewesen. Gerade sein Eifer für das Gesetz hatte ihn zum Verfolger
der Christen gemacht. Dann aber kam der große Umbruch
. Er begegnete Christus bei Damaskus. Das bedeutete
die völlige "Revolution in seinem Leben. Wenn Jesus wirklich
Messias war — und daran konnte er nach der göttlichen Offenbarung
, die ihm gegeben worden war, nicht zweifeln —, dann
bedeutete das, daß Gott bereits seine Verheißung an die Väter
erfüllt hatte, und zwar durch ihn, den Paulus des Gesetzes wegen
gehaßt und verfo'gt hatte. Es bedeutete, daß das Wunder geschehen
war, daß der Messias Gottes offenbart worden war
gerade zur eignen Lebenszeit des Paulus — und er hatte nicht
davon gewußt! In törichtem Eifer hatte er Christus und seine
Gemeinde verfolgt. Wenn Jesus Messias war, dann war Gottes
Reich schon vorhanden, das neue Zeitalter, das Zeitalter der
Gerechtigkeit und des Lebens war angebrochen. Damit war
aber auch das Gericht über sein vergangenes Leben gefällt.
Die Gerechtigkeit, die sein Stolz gewesen war, war als eine
falsche Gerechtigkeit entschleiert worden, dadurch, daß sie
ihn zu einem Verfolger der Gemeinde Gottes gemacht hatte.
Die totale Umwertung, die dadurch eintrat, drückte Paulus
selbst folgendermaßen aus: „Aber was mir Gewinn war, das
habe ich um Christi willen für Schaden geachtet. . ., auf daß
ich in ihm erfunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit
, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben
an Christum kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott
dem Glauben zugerechnet wird" (Phil. 3,7ff.).

Dadurch hatte die „Gerechtigkeit" einen ganz neuen Sinn
für ihn bekommen. Die Gerechtigkeit — das ist nicht unsre