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Ausgabe:

1952

Spalte:

566-567

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Noppel, Constantin

Titel/Untertitel:

Aedificatio corporis christi 1952

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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565 Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 9 öÜG

hängigseinwollen des Menschen von einer extrasubjektiven
Macht und Gegebenheit" (15), gegen den von Gott und dem
Kosmos losgelösten Menschen, gegen „die Hypertrophie des
erkennenden Ich" (24) — ein Thema, das seit einigen Jahrzehnten
innerhalb der Theologie sehr beliebt ist und dann oft
zu starken Verdeutungen des geschichtlichen Materials geführt
hat. Die Ausführung des Themas verläuft fast immer in den
gleichen Kurven: seit Descartes ist die ganze geistige Arbeit
dem Subjektivismus mit seiner Ichvergötterung verfallen:
aber nun wendet man sich wieder dem Objekt zu.

Auch der Verfasser folgt dieser Thematik. Die groß angelegte
und oft sehr scharfsinnig durchgeführte erkenntnistheoretische
Arbeit seines Buches ist von ihr bestimmt. In
seinem ersten Teil analysiert er die einzelnen großen Formen
des Subjektivismus in der neuzeitlichen Erkenntistheorie von
Kant bis in die Gegenwart, wobei besonders die gründliche
Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann, Stumpf und Linke
beachtenswert ist. In einem zweiten Teil werden dann die psychologischen
Grundlagen jener Erkenntnistheorie untersucht.
Hier wird besonders die Gestaltspsychologie und ihre Bearbeitung
des Wahrnehmungsproblems herangezogen. Der dritte
Teil, der vom Verfasser selbst als Hauptteil seiner Arbeit bezeichnet
wird, gibt dann die systematische Untersuchung des
Zentralproblems Kennen/Wissen im Unterschied zum Erkennen
/Denken. Das Ganze klingt aus in einem 4. Teil mit
einem Ausblick auf die metaphysisch-religionsphilosophischen
Perspektiven, die sich durch die vom Verfasser begründete
„Kenntnistheorie" eröffnen.

So vermittelt dies „Lehrbuch der Erkenntnistheorie"
einen guten Uberblick über das philosophische und psychologische
Ringen um das Erkenntnisproblem, besonders in der
Gegenwart. Auffallend ist nur, daß die große Arbeit um das
Kennen und Erkennen der geschichtlichen Wirklichkeit, die
durch den Historismus involviert wurde, kaum berührt wird.
Auf weuigen Seiten (425—427) wird nur kurz erklärt, daß es
die viel gepriesene „Objektivität" des Historikers nicht gibt,
ohne auch nur anzudeuten, aus welchen Gründen der Vorgang
des Verstehens an der Objektivität vorbeigreift. Erweist sich
hier das gegensätzliche Schema von Kennen und Erkennen als
sachlich nicht geeignet, dem Problem der historischen Gegebenheit
gerecht zu werden ? Ohne Frage war Dilthey im Sinne des
Verfassers Phänomenologe. Aber kann man sagen, daß ihn die
extrasubjektive geschichtliche Wirklichhkeit unberührt ließ ?
Ich vermisse auch ein Eingehen des Verfassers auf das für seine
Problemstellung gewiß nicht unbedeutsame Thema der Theorie
der emotionalen Gefühle Max Schelers. Unerwähnt bleibt
die wichtige vor-erkenntnistheoretische Arbeit, die die moderne
Existenzphilosophie geleistet hat, die dem philosophischen
Anliegen des Verfassers nur zugute gekommen wäre.

Ohne Zweifel bleibt das vom Verfasser aufgeworfene Problem
von Kennen und Erkennen eine philosophische Aufgabe
von weitreichender Bedeutung. Die Frage, wie kann der Mensch
eine objektive, von ihm unabhängige Wirklichkeit erfassen,
muß immer wieder neu gestellt werden. Und es ist daher sehr
verdienstlich, daß auch der Verfasser die philosophische Arbeit
wieder aufrüttelnd vor diese Frage stellt und in tiefbohrenden
Analysen sich um ihre Beantwortung bemüht. Aber es erscheint
mir sachlich unmöglich, den Gegensatz von Erkennen
und Kennen so zuzuspitzen, daß man sagt: als Erkennender
bleibt der Mensch vorwiegend bei sich selbst und „im Kennen
wird das Seiende selbst erfahren" (494) oder „aller phänoinena-
listischen/idealistischen Erkenntnistheorie liegt eine Hypertrophie
des „Ich" zugrunde", weil sie Gott und den Kosmos
verloren habe (522), und nur im Kennen des naiven Realismus
sei ein demütiges Hinnehmen einer dem Menschen transzendenten
Wirklichkeit möglich. Ich finde jene Hypertrophie weder
bei Descartes noch bei Kant noch bei Hegel. Auch diese
Denker wußten durchaus um die transsubjektive Wirklichkeit,
obwohl sie der Meinung waren, daß sie sie als Erkennende nie
ganz erreichen würden. Sie verstanden Autonomie nicht als
Selbstherrlichkeit, sondern als jene Haltung, wonach das
Ewige im Menschen sich selbst das Gesetz gibt. Autonomie
war ihnen Theonomie: Und sie wußten sehr wohl, daß auch
der autonome Mensch an seiner endlichen Existenz immer gebunden
bleibt. Hätte der Verfasser z.B. Hegel als die Spitze
des philosophischen Idealismus in den Umkreis seiner Untersuchung
hineingezogen, hätte er sehen müssen, daß Hegel Phänomenologe
war, daß er aber gerade als solcher im eminenten
Sinne auf die extrasubjektive Sache ausgerichtet war. Und ist
andererseits nicht auch der Kennende immer dem Erkennen
und dem endlichen Ich verhaftet ? Bisweilen scheint der Verfasser
in diesem naiven Realismus die einzige Möglichkeit der
Lösung der von ihm aufgeworfenen Problemstellung zu
sehen. Aber seine eigenen tiefbohrenden Ausführungen über

das Kennen, sein Versuch, das Kennen zu erkennen, zeigen zur
Genüge, daß er nicht vermeiden kann, auch jenen Realismus zu
einem philosophischen Problem zu machen. Kennen kann also
auch nicht der Weisheit letzter Schluß sem. Und am wenigsten
für die Religion, die sich auf üire Eigenwertigkeit besinnt, die
sich weder im Kennen noch im Erkennen begründen läßt, sondern
allein durch den Glauben, dessen Ursprung in Gott selbst
liegt. Auch der „gesunde Realismus" des Kennens bleibt in
vielen Beziehungen intrasubjektiv gebunden. Der Verfasser
wyäre von selbst zur Beachtung dieser Bindung geführt worden,
w enn er den Menschen als geschichtliche Person ernster genommen
hätte. Er hätte dann sehen müssen, daß eine Rehabilitierung
des scholastischen Realismus, auf die er scheinbar abzielt
(520L), heute nicht mehr möglich ist.

Kiel Werner Schultz

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Noppel, Constantin, S. j.: Aedificatio Corporis Christi. Aufriß der Pastoral
. 2., verb. Aufl. Freiburg: Herder [1948]. XII, 258 S. gr. 8°. Hlw.
DM 7.60.

Nach diesem Buche zu schließen, bewegt auch die katholischen
Theologen die (von der theologischen Welt sonst zu
leicht genommene) Frage: „Worin besteht die eigentliche
Praktische Theologie?" Existiert sie nur als „Universale" in
den praktisch-theologischen „Einzelfächern", welche da sind:
Homiletik, Katechetik, Liturgik, Lehre von der Seelsorge,
Lehre vom Kirchenrecht — oder sind diese „Einzelfächer"
schon „Anwendungen" der Praktischen Theologie", welche
dann ein Gebiet für sich sein müßte, das man erst abzuernten
hätte, bevor man die „Einzelfächer" kocht? Constantin
Noppel (f in Stuttgart 1945) entscheidet sich für die These:
„Die Einzelfächer" sind die Praktische Theologie, macht aber
auch der These vom „Gebiet für sich" ein Zugeständnis, indem
er einem der „Einzelfächer" unter den übrigen die „Zentral-
stellung" einräumt, nämlich der Hodegetik, worunter er die
Lehre von der „speziellen Seelenführung" versteht. Die Praktische
Theologie (bei vielen katholischen Theologen: „Pasto-
raltheologie" im weiteren Sinne, auch: „Pastoral" genannt)
sieht dann so aus: Die Hodegetik hat die „Zentralstellung";
Homiletik, Katechetik, Liturgik sind ihre „Hilfswissenschaften
"; Missionswissenschaft, Caritaswissenschaft, Lehre
von der katholischen Aktion sind Bearbeitungen von „Teilgebieten
" der Hodegetik, ja „Tochterwissenschaften"; die
Lehre vom Kirchenrecht und die Lehre von der Askese sind
„Schwesterwissenschaften" der Hodegetik; Pastoralmedizin,
religiöse Volkskunde, Charakterologie, Sozialpsychologie,
Kirchliche Statistik sind „Grenzwissenschaften" der Hodegetik
. (Auf eine „Pastoral-Chemie", die auch schon auftauchte,
verzichtet Noppel energisch, auch auf eine „Pastoral-Liturgik
" und eine „Verkündigungs-Theologie".) Man sieht: ein
ungeheures Feld, eine (pastoraltheologische) Fakultät für sich!
Und man muß es Noppel zugestehen: In dieses Feld, in diese
Fakultät, hat er Ordnung hineingebracht!

Man könnte aber dieselbe Ordnung erreichen, wenn man
die „Zentralstellung" einem anderen „Einzelfach" der Praktischen
Theologie, z. B. katholisch gerechnet: der Liturgik, evangelisch
gerechnet:derHomiletik (mitderKatechetik) einräumte!
In der Tat ist das auch ungefähr mit j edem,, Einzelfach" schon gemacht
worden, sogar mit der Lehre vom Kirchenrecht. Welche
theologischen Gründe hat Noppel dafür, gerade der Hodegetik die
„Zentralstellung" zu verleihen ? Es ist eigentlich bloß ein Ord-
uungsgrund, wenn er anführt: Die Hodegetik sei derart, daß sie
die anderen „Einzelfächer" der Praktischen Theologie als Hilfs-,
Tochter-, Schwester-, Grenzwissenschaften benötige. Und der
andere Grund: Ist Praktische Theologie wesentlich Pastoral-
theologie im weiteren Sinne, so werde die Pastoraltheologie
im engeren Sinne, die Hodegetik also, der Kern der Sache
sein — dieser andere Grund wiegt zu leicht, da erst bewiesen
sein müßte: Pastoraltheologie im weiteren Sinne ist jene Sachbezeichnung
der Praktischen Theologie, die das Wesen trifft!
Und dazu: Gerade Hodegetik sei das Herz der Pastoraltheologie
weiteren Sinnes! Noppel sucht ja letzteres damit zu
begründen, daß die Kirche der „Leib Christi" (corpus Christi
mysticum, gegenüber dem eucharistischen corpus Christi
verum) sei, und die Pastoraltheologie im engeren Sinne die
„Wissenschaft vom Wachstum und Führung der Herde
Christi, seines mystischen Leibes". Aber wieso gerade Pastoraltheologie
im engeren Sinne ? Es geht das doch noch besser
auf Pastoraltheologie im weiteren Sinn hinaus! Wie denn
schon der Lutheraner Gerhard v. Zezschwitz (System der
Praktischen Theologie I, 1876) aus der These: „Die Kirche ist