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Ausgabe:

1952 Nr. 9

Spalte:

523-528

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Gerhard

Titel/Untertitel:

Άμαρτία ούχ έλλογειται Röm. 5, 13 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 9

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'AfiaQxia ovx iXkoyeiTai Rom. 5,13
Von Gerhard Friedrich, Bethel

Paulus teilt die Weltgeschichte jüdischen Spekulationen
folgend in 4 Perioden ein1. Am Anfang steht bei Paulus das
paradiesische Zeitalter, das Adam durch die Übertretung des
göttlichen Gebotes beendete. Die 2. Epoche reicht von Adam
bis Moses. In ihr gibt es auch ohne Gesetz Sünde und Tod. Der
3. Zeitabschnitt, der von Moses bis Christus geht, ist das Zeitalter
des Gesetzes. Die 4. Periode umfaßt die messianische Zeit.

Von der 2. Epoche, die von der Vertreibung aus dem Paradies
bis zur Sinaioffenbarung reicht, sagt Paulus, daß es in ihr
keine Anordnung Gottes und darum auch keine der Tat Adams
entsprechende Übertretung gegeben habe. Wie er Rom 4, 15
ausgeführt hatte, kann es nur da zu Übertretungen kommen,
wo ein Gesetz vorliegt. Da die Menschen nach Adam bis zur
Thoragebung vom Sinai kein Gesetz hatten, konnten sie es
nicht übertreten, wie Adam es getan hatte. Trotzdem war auch
in dieser Periode Sünde da. Denn nachdem durch die Tat
Adams der Sünde der Zutritt zur Welt geöffnet war, hat sie
von der Welt wie eine nicht mehr zu vertreibende Feindmacht
Besitz genommen. Darum herrscht der Tod, der der Sold der
Sünde ist (Rom. 6,23), auch in dieser Periode in königlicher
Macht. Aber diese Zeit unterscheidet sich, wie Paulus hier sagt,
von der folgenden: dfiagzia ovx iXloyüzai. Mit Recht fragt
Bultmann: „Wie kann sie (die Sünde) den Tod nach sich gezogen
haben, wenn sie nicht angerechnet wurde ?"2

Die Reformatoren sind im Gefolge Augustins der Ansicht,
daß elloyelv von der Tätigkeit des Menschen gemeint sei. Von
Gott kann es nicht gesagt sein; denn Gott habe — so sagt es Calvin
in seiner Auslegung - in dieser Zeit die Sünden der Menschen
recht wohl beachtet und sie ihnen angerechnet. Das zeigte
sich z.B. bei der Strafe Kains, der Sintflut, dem Gericht über
Sodom, bei den wegen Abraham über Pharao und Abimelech
verhängten Strafen, bei den ägyptischen Plagen. Da die Bibel
von mancherlei Gerichten Gottes über die Sünde der Menschen
in dieser Zeit berichtet, verstehen die Reformatoren elloyelv
vom Handeln des Menschen. Melanchthon schreibt: ubi non
est lex, non agnoscitur, non accusatur peccatum in nobis ipsis.
Loquitur enimPaulus de judicio nostraeconscientiae3. Genauso
gibt Luther in seiner EömerbriefVorlesung peccatum non im-
putabitur mit ignorabatur4 und mit non cognitum fuit5 wieder.
Ohne Gesetz gibt es keine Erkenntnis der Sünde, und ohne Erkenntnis
der Sünde kann man sich die Sünde nicht als Schuld
anrechnen«. In neuerer Zeit hat W.Mangold7 die reformatorische
These noch einmal zu begründen versucht. Nach seiner
Meinung mache der Wortlaut von Rom. 5,13f. die Auslegung
unmöglich, daß Gott die Sünde nicht anrechne; denn in der
Herrschaft des Todes zeige es sich doch, daß Gott die Sünde
der Menschen beachte und sie bestraf e. Aber Calvin wie z. B. auch
Beck schränken üire Aussagen über die Unwissenheit der Menschen
ein. Nach Calvin wüßten die Menschen auch ohne Gesetz
in gewisser Weise doch recht gut, was Sünde sei; denn sie rechneten
sich ihre Sünden an, indem sie anderen Ungerechtigkeit
vorwerfen und indem sie sich selbst zu rechtfertigen und sich
zu verteidigen suchen. Beck schreibt: ,,In illoyüzai liegt
aber hier allerdings nicht nur die subjektive Schuldanrechnung
, sondern auch die objektive von Seiten Gottes als richterliche
Verurteilung und Bestrafung."

Die reformatorische Auslegung ist abzulehnen. In Rom .5,13
handelt es sich ganz sicher nicht um das iXXoyüv von Menschen
. Das haben die neueren Kommentatoren richtig erkannt.
Da dpaozla Subjekt ist, kann illoyürai nicht ein Medium
sein, sondern es ist ein Passiv, und dieses Passiv weist auf eine
Tätigkeit in der himmlischen Welt hin.

Warum wird die Sünde nicht angerechnet ? Nach Schlatter8
sind die Menschen in dieser Zeit wohl sündig, aber sie
stehen unter Gottes Geduld, weil „Gott nicht mit ihnen rechnen
wollte nach seinem strengen Recht und ihre Sünde nicht

') Über die verschiedenen Theorien vgl. P. Volz: Die Eschatologie der
jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, 2. Aufl. (1934) 141.

2) R. Bultmann: Theologie des NT (1948) 248.

3) Corpus reformatorum, Melanchthon XV, 921 vgl. 625.

4) Anfänge reformatorischer Bibelauslegung I, herausgegeben von
J. Ficker, Glosse 48.

5) Luther a. a. O. Scholien 147.

*) Vgl. T. Beck: Erklärung des Briefes Pauli an die Römer (1884) z. St.

7) W. Mangold: Der Römerbrief und seine geschichtlichen Voraussetzungen
(1884) 339 A 10.

8) A. Schlatter: Erläuterungen zum NT z. St.

Hermann Strathmann zum 70. Geburtstag

verfolgte mit seiner richterlichen Heiligkeit". In ähnlicher
Weise versteht auch Karl Barth diese Stelle1. Er vergleicht
das Leben des Menschen mit dem Treiben einer Kmderstube.
Das menschliche Wesen ist in dieser Zeit „weder zu verteidigen
noch anzuklagen". Es steht „unter dem schweigenden Ernst
und Humor Gottes". Aber Sintflut und Sodom fallen in diese
Zeit, und sie sind weder von der Geduld Gottes noch von dem
schweigenden Humor Gottes her zu verstehen. Bei diesen
Strafgerichten entlud sich doch sehr deutlich und spürbar die
„richterliche Heiligkeit" Gottes.

Zu dem genau entgegengesetzten Ergebnis kommt
J. Sickenberger2. Auch er verwendet das Bild vom Vater und
dem Kinde, doch denkt er nicht an die Kinderstube, sondern
an den erwachsenen Sohn. Das Nichtanrechnen ist für ihn
nicht ein Zeichen der Langmut Gottes, sondern der völligen
Trennung: „Es ist wie bei einem Vater, der sehten ungeratenen
Sohn verstoßen hat; wenn der Vater hört, daß der Sohn seinen
schlechten Lebenswandel auch dann noch fortsetzt, so berührt
ihn das nicht mehr weiter; er rechnet ihm diese Vergehen nicht
mehr an und trifft keine weiteren Maßnahmen gegen ihn, weil
er überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben will." Gegen
Sickenberger muß man einwenden, daß Gott in dieser Weise
den Menschen nie aufgegeben hat; denn Gott handelt nicht wie
menschliche Väter gelegentlich zu tun pflegen. Auch in der Zeit
zwischen Adam und Moses hat Gott die Menschen durch Gnadenerweisungen
und durch Gerichte zu sich zu ziehen versucht.
Daß er die Menschen nicht aufgegeben hat, zeigt sich an der
Erwählung Abrahams, von dem Paulus Rom. 4,1 7 im Anschluß
an Gen. 17,5 sagt, er sei der Vater vieler Völker. Der Ausführung
von Sickenberger wird man nicht folgen können.

Die meisten Erklärer der Gegenwart versuchen das Nichtanrechnen
der Sünde und das Sterben der Sünder von einem
doppelten Sündenbegriff her zu verstehen. Schon bei Chryso-
stomus lesen wir: äS-ev öfjXov ozi ov% avrrj äfiag 11a zrjg zov vdpov
nocgctßäöeayg, txll* ixeivrj f) zrjg rov 'Adäfi TKXQtxxoijg, avt-q fjV jj
ncCvza. Iv/tatvo/ievr)3. In diesem Sinn schreibt auch Lipsius4:
„Die einzelnen werden also nicht für ihre persönlichen Gesetzesübertretungen
mit dem Tode bestraft, sondern . . .
wegen der objektiven Übertragung der Sündenherrschaft von
Adam auf alle." Lietzmann5 unterscheidet zwischen „rechtlich
strafbarer subjektiver Sünde" und „objektiver" Sünde", C.H.
Dodd8 zwischen Sünde im allgemeinen Sinn und willentlicher
Übertretung, Preisker7 zwischen Sündigen „aus dem mit
Adams Fall gegebenen sündlichen Gesamtzustand heraus" und
dem „in bewußter Feindschaft gegen Gott", „in Auflehnung
gegen ein empfangenes Gesetz". Weil die Menschen vor der
Sinaigesetzgebung nicht willentlich gegen Gottes Gebot gehandelt
hätten, sei ihr Streben nicht Strafe, sondern Schicksal.
Erst dort, wo es zur Auflehnung gegen den geoffenbarteu
Gotteswillen komme, werde die Sünde angerechnet und der
Mensch aus der Willens- und Schöpfungsgemeinschaft Gottes
ausgeschlossen.

Diese Auslegung scheint mir nicht mit dem übereinzustimmen
, was Paulus sonst über die Sünde sagt. Gewiß besteht
ein Unterschied zwischen 7tctQcißa.aig und djxcnQziix. Sünde ist
bei Paulus trotz des Verfallenseins in sie nirgendwo Schicksal,
sondern sie ist immer irgendwie verantwortliche Tat8. Rom.
i,i8f. wird von der Schuld aller Menschen gesprochen, auch
derer, die nicht unter dem Gesetz stehen, und auch Rom. 5,12
redet von der Schuldverflochtenheit des einzelnen. Wie man
lq> <ß Rom. 5,12 auch erklären mag, ob man es als Attraktion
ansieht und es entsprechend Phil. 3,12 auflöst in enl zovzm äzt:
„Der Tod kam zu allen Menschen auf Grund dessen, daß sie
alle sündigten", wie es schon Apok. Bar. 54,15 heißt: „Wenn
Adam zuerst gesündigt und über alle den ewigen Tod gebracht
hat, so hat doch auch von denen, die von ihm abstammen, jeder

') K. Barth: Der Römerbrief. 5. Aufl. (1940) z. St.

8) J. Sickenberger (in: Die Heilige Schrift des NT übersetzt und erklärt,
herausgegeben von J. Tillmann) Die Briefe des heiligen Paulus an die Korinther
und Römer, 4. Aufl. (1932).

3) Chrysostomus: Migne Patrologiae Graecae LX 475.

') R. A. Lipsius: Die Briefe an die Galater, Römer, Philipper, im Handkommentar
zum NT, 2. Aufl. (1892).

6) H. Lietzmann: An die Römer, 3. Aufl. (1928) zu 5,12.

e) C. H. Dodd: The Epistle of Paul to the Romans (1947).

') H. Preisker in ThW. z. NT 2. Bd. 514.

8) Vgl. R. Bultmann ThW. z. NT 3. Bd. 15,9ff.